Aufbruch in die Moderne (eBook)

Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76865-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aufbruch in die Moderne -  Hedwig Richter
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Das 1871 gegründete Kaiserreich gilt häufig als Hort der Obrigkeitshörigkeit, des Chauvinismus und des Militarismus. Dabei war es zugleich eine Zeit des Aufbruchs in die moderne Massendemokratie. Es hatte eine kluge Verfassung, ambitionierte Reformen wurden auf den Weg gebracht, einer der größten Umbrüche überhaupt nahm entscheidend an Fahrt auf: die Frauenemanzipation.
Bei diesen Tendenzen, so Hedwig Richter, handelte es sich nicht einfach um Ungleichzeitigkeiten. Die vom Ideal der Gleichheit motivierte Inklusion der Massen hatte ihren Preis in einer Reihe von Exklusionen: Antisemitismus, Rassismus oder Misogynie. In ihrem Essay zeigt Richter, dass wir das 20. Jahrhundert mit seinen Extremen besser einordnen können, wenn wir die Reformzeit um 1900 in ihrer Komplexität begreifen.

<p>Hedwig Richter, geboren 1973, ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. 2020 wurde sie vom Wissenschaftskolleg zu Berlin mit dem Anna-Krüger-Preis ausgezeichnet. Ihr Buch <em>Demokratie. Eine deutsche Affäre</em> (C. H. Beck 2020) stand auf der Shortlist des Bayerischen Buchpreises.</p>

1. Die deutsche Einheit


Blinkende Uniformen und Pickelhauben, rauschende Bärte, Hurrageschrei und Waffenklirren: Im Spiegelsaal von Versailles, im Herzen des Feindes und ihm zur Demütigung, wird am 18. Januar 1871 ein Hoch auf »Seine Majestät den Kaiser« ausgebracht. So zeigte der Hofmaler Anton von Werner die »Kaiserproklamation«, und so wird der Auftakt des Deutschen Reichs bis heute gerne illustriert. Ein männliches Fest von Kaiser, Fürsten und Soldaten. Doch die damals Anwesenden erinnerten sich nicht an Glanz und Gloria. Der Akt habe sich kühl und nüchtern gestaltet, in »prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze«. Zum Degenschwingen und Recken der Pickelhauben war gar kein Platz, die Männer standen steif »wie Säulen« und dicht gedrängt.1

Anton von Werners Gemälde ist ein Propagandastück, das ein einseitiges Geschichtsbild plausibilisiert: Das Kaiserreich als Adelsaristokratie, als Land der Männer und des Militärs. Allzu oft wurde diese Lesart der Gründung unkritisch übernommen und als Menetekel für das ganze Kaiserreich herangezogen.2 Doch der Auftritt, der am 18. Januar in Versailles stattfand, war eher kontingent und kaum von langer Hand geplant. Gewiss, der Ort Versailles besaß als Inbegriff französischer Herrschaft eine starke Symbolkraft, die von den Zeitgenossen nicht missverstanden werden konnte. Der Spiegelsaal als Austragungsort hatte sich freilich auch aus Zufällen ergeben: Die deutschen Truppen lagen vor Paris, und die Halle war einigermaßen groß genug für die Versammlung.3 In Deutschland wusste offenbar kaum jemand Bescheid, und selbst Beteiligte in Versailles hatten bis zur Stunde keine Ahnung davon, was geschehen würde. In den deutschen Zeitungen wurde am Tag selbst nahezu nichts angekündigt, und auch in den folgenden Tagen wurde wenig Aufhebens von der Inszenierung gemacht.4 Das Reich war schon gegründet, und der preußische König hatte bereits seinen Kaisertitel, den er ohnehin nur widerwillig angenommen hatte.

Verfassung


Denn am Anfang stand die Verfassung: Sie trat am 1. Januar 1871 in Kraft und begründete, als eine Revision der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, das »Deutsche Reich«. Deutschland war damit eine konstitutionelle Monarchie, die in Europa übliche Staatsform: Der Monarch – im Deutschen Reich der Kaiser, in Personalunion preußischer König – war institutionell eingehegt, nicht zuletzt durch die Bürger, die über die Wahl des Parlaments Einfluss auf das Staatsgeschehen nahmen.5 Den Zeitgenossen erschien eine Verfassung als selbstverständlich. Das allerdings war neu. Noch der Vorgänger des Kaisers auf dem preußischen Thron, König Friedrich Wilhelm IV., hatte eine Verfassung für Teufelszeug erklärt und sich erst mit der Revolution von 1848/49 zur preußischen Konstitution bereitgefunden.

Die Verfassung allerdings sollte das monarchische Prinzip befestigen und den Fürsten den Glauben schenken, es handele sich beim Deutschen Reich nicht um einen preußischen Zentralstaat mit starkem nationalstaatlichem Parlament, sondern um einen Fürstenbund. Auch die dritte und letzte Version der Verfassung vom April 1871, mit der nunmehr auch Württemberg und Bayern dem Reich angehörten, setzte mit dem Kaiser und den Fürsten ein. Zur Machtsicherung und als Garantie des monarchischen Elements war ein von den fünfundzwanzig Ländern bestückter sogenannter Bundesrat vorgesehen. Föderalismus und Fürstenherrschaft gingen in diesen Vorstellungen Hand in Hand. Der Bundesrat war nach dem Verfassungstext Träger der Souveränität. Er konnte Gesetze einbringen, und er musste den Gesetzen gemeinsam mit dem Parlament, dem »Reichstag«, zustimmen. An der Spitze des Bundesrats fungierte das Bundespräsidium, das der Monarch innehatte. Der Kaiser, wie man das Bundespräsidium vereinfachend nannte, war das Staatsoberhaupt, zuständig für die Außenpolitik sowie für Krieg und Frieden.

War also das Kaiserreich vornehmlich ein Fürstenbund, dominiert von einem reaktionären Preußen? Waren die Deutschen vor allem eines: Untertanen in einem Obrigkeitsstaat? Anders als Bismarck und später Wilhelm II. behaupteten, war das Deutsche Reich rechtlich nicht als Fürstenbund entstanden. Denn die Verfassung war nicht von einem Fürstengremium beschlossen, sondern vom Reichstag des Norddeutschen Bundes beraten und verabschiedet worden; die Abgeordneten dieses Parlaments aber waren durch ein modernes gleiches und allgemeines Männerwahlrecht gewählt worden. Die Grundlage des Staates war also nicht zuletzt ein Effekt der Volkssouveränität.6 Und auch die viel beschworene Hegemonie Preußens lässt sich angesichts der wachsenden Attraktivität und Bedeutung des Reichs in der Bevölkerung kaum mehr behaupten.7

Richtig ist dennoch, dass die Obrigkeit in Deutschland stark war und für die Disziplinierung und dichte Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger sorgte: Die Durchsetzung der Schulpflicht etwa funktionierte relativ gut, die Pressezensur war bis in die neunziger Jahre für europäische Verhältnisse streng und, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die ordnungsgemäße Erfassung der Wahlberechtigten und die Durchsetzung ihres Partizipationsrechts verliefen auch bei Minderheiten wie den polnischsprachigen Deutschen verhältnismäßig reibungslos. Eine starke Staatsmacht bedeutet neben Drangsalierung und Überwachung eben auch: einen Rechtsstaat, der immer wieder dafür sorgte, dass vor dem Gesetz alle gleich waren.8

Das Deutsche Kaiserreich war ein Kompromiss. Es entstand nicht nur als Ergebnis langwieriger Aushandlungsprozesse, sondern auch als Folge von Zufällen. Bismarck hatte keineswegs seit Jahren und in einsamer Genialität darauf hingearbeitet.9 Dass die Deutschen etwa gegen ihren westlichen Nachbarn siegen würden, hatte als so unwahrscheinlich gegolten, dass Frankreich, das bis dahin allgemein für die überlegene Militärmacht gehalten wurde, den Krieg nahezu leichtsinnig in Kauf nahm.10

Die Deutschen waren Untertanen einer Monarchie. Aber zugleich füllten sie ihre Rolle als freie und zunehmend politisierte Bürger aus – beides ging in Europa problemlos zusammen, viele hielten es sogar für zwei Seiten einer Medaille. Tatsächlich wurde die demokratische Seite des Kaiserreiches in den letzten zwanzig Jahren in der Forschung immer deutlicher herausgearbeitet.11

Im Verfassungsalltag und für die Bürger trat die Idee des reaktionären Fürstenbundes schnell in den Hintergrund. Das war möglich, weil der Verfassungstext ausgesprochen pragmatisch gehalten war – ein Kompromiss eben. Er sollte dem Einigungsprojekt nicht im Weg stehen. Ein Grundrechteteil fehlte, denn seine Ausarbeitung hätte womöglich wie 1848 in der Paulskirche zu viel Diskussionszeit erfordert und er hätte den Eindruck erwecken können, in Konkurrenz zu den traditionsreichen Grundrechtskatalogen der Einzelstaaten zu treten. Der Pragmatismus machte die Verfassung flexibel und offen. Das sollte sich in den kommenden Transformations- und Reformzeiten als ein Vorteil erweisen.

Und so bildete sich der Reichstag, den Bismarck einhegen wollte, im politischen Leben zur entscheidenden Institution und zum Symbol der nationalen Einheit heraus. Das Parlament hatte das Budgetrecht, das Gesetzesinitiativrecht und es musste den Gesetzen zustimmen. Außergewöhnlich an der Verfassung war das gleiche Männerwahlrecht, das es in diesem Ausmaß in kaum einem anderen Staat gab. Nahezu jeder Mann ab dem 25. Lebensjahr besaß das Stimmrecht, von den in Europa üblichen Ausnahmen abgesehen, etwa den Empfängern von Armenhilfe. Die Abgeordneten wurden in hochkompetitiven Wahlkämpfen gekürt. Als ein entscheidender Grund für das Wahlrecht galt in politischen und intellektuellen Kreisen immer wieder der Einsatz der Männer im Krieg (dieser Aspekt wird unten ausführlich zur Sprache kommen). Noch wichtiger war – insbesondere für Linke und Liberale –, dass die Verfassung mit dem modernen Wahlrecht in einem entscheidenden Punkt an ein großes Ereignis der deutschen Demokratiegeschichte anknüpfte: an die Verfassung der Paulskirche.

Das Parlament tagte öffentlich, auf...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Andreas Rödder • Demokratie • edition suhrkamp 2762 • ES 2762 • ES2762 • Feminismus • Frauenbewegung • Hans-Ulrich Wehler • Heinrich August Winkler • Hohenzollern • Otto von Bismarck
ISBN-10 3-518-76865-4 / 3518768654
ISBN-13 978-3-518-76865-5 / 9783518768655
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