Grandhotel Odessa. Der Garten des Fauns (eBook)
592 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45956-0 (ISBN)
Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zwanzig Jahren freiberuflich als Autorin, Übersetzerin und Lektorin tätig. Sie lebt in der weltschönsten Stadt London, behält aber einen Koffer in ihrer Geburtsstadt Berlin und einen Fuß am Golf von Neapel. Ihr Debüt Als wir unsterblich waren war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten
Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zehn Jahren freiberuflich als Autorin tätig. Charlotte Roth hat Globetrotter-Blut und zieht mit Mann und Kindern durch Europa. Sie lebt heute in London, liebt aber Berlin über alles. Ihr Debüt, "Als wir unsterblich waren", war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten.
Manon
Das Kind wusste, dass hinter ihm das Meer lag und dass das Meer kein Ende hatte. Der Himmel hatte auch kein Ende und erhob sich über ihm. Beides, Meer und Himmel, verband die Treppe, an deren Fuß sie standen und die der Vater Himmelsleiter genannt hatte. Für die Augen mochte die Treppe so wenig ein Ende haben wie der Himmel und das Meer, doch das Kind wusste, dass an ihrem Ende das Grandhotel Odessa und damit sein Zuhause stand.
Das Kind hieß Manon. Von dem Vater war ihr nur noch wenig im Gedächtnis: Er war die Himmelsleiter heruntergerannt, um an schönen Sommertagen Manon und ihre Mutter vom Strand abzuholen, und er hatte an Igors Bude für sie alle Schaschliks gekauft, dazu Kirschsaft, den Manon liebte, und Bier, von dem die Eltern lustig wurden.
Mit alledem war es jetzt vorbei. Mit Schaschlik und Kirschsaft, mit der Treppe, die scheinbar in den Himmel, in Wahrheit aber in ihr hell erleuchtetes Zuhause führte, und mit Eltern, die lustig waren. Alle anderen feierten. Sie tanzten die Hafenstraße entlang zur Musik von Pawlo, der mit seiner süßen Mädchenstimme zur Bandura sang, und johlten vor Freude, weil die Deutschen aus Odessa abzogen. Manons Cousins – der schöne, ihr so vertraute Maxim, der griesgrämige Edvard und der kleine Clown Hanno – schlugen sich mit gebackenem Fisch und Syrniki mit Himbeerkompott die Bäuche voll, und die Erwachsenen tranken Wodka und georgischen Wein und fielen einander schwankend in die Arme.
Nur sie, Manon, gehörte nicht mehr dazu.
»Deutsche raus!«, brüllten die Tanzenden, die sich Wein aus Krügen in die Kehlen schütteten. »Deutsche raus!«, stand auf den Flaggen und Bannern, die sich die Leute aus Odessa vor die Fenster hängten.
Sie wollten die Deutschen nicht mehr haben, die Leute aus Odessa, und sie wollten auch Manon und ihre Mutter nicht mehr haben.
»Aber warum müssen wir denn weg?«, hatte Manon ihre Mutter gefragt, ehe sie am Morgen aufgebrochen waren, hatte die Finger in den samtigen Stoff ihres Kleides gegraben und sich darin festgekrallt.
Die Mutter hatte sich ihr hübsches, helles Haar zurückgestrichen, hatte sich zu Manon hinuntergebeugt und gesagt: »Ja, warum wohl, Prinzesschen auf der Erbse? Weil wir Deutsche sind. Da hilft nun auch kein Weinen.«
Von der Antwort war Manon so verblüfft gewesen, dass sie das Samtkleid der Mutter losgelassen hatte. Bis zu diesem Morgen hatte es die Deutschen und die Odessiten gegeben. Die Deutschen, das waren die Männer in den grauen Uniformen, die im Stechschritt durch die Straßen marschierten, obwohl sie nicht hierhergehörten, und denen Manons Freunde alles Böse auf der Welt an den Hals wünschten. Die Odessiten dagegen, das waren die anderen. Die, die ihre Vorhänge zuzogen, wenn die Deutschen vorbeistampften, und die Straßenseite wechselten, ohne zu grüßen.
Bis zu diesem Morgen war Manon sicher gewesen, eine Odessiterin zu sein, eine von denen, die bleiben würden, wenn man die Deutschen endlich zum Teufel schickte. Jetzt aber gehörte sie selbst auf einmal zum Teufel, und ihre Cousins, ihre Tanten, ihre Freunde, die sie gestern noch im Kreis herumgeschwenkt hatten, sprachen von ihr, wenn sie grölten: »Deutsche raus!«
Sie war keine Odessiterin, hatte ihre Mutter gesagt. Eine Deutsche war sie doch aber auch nicht, denn wie konnte man etwas sein, das man überhaupt nicht kannte? Sie war ihres Vaters Schneewittchen gewesen und hatte an Igors Bude von seinem Schaschlik probiert. Sie war Manon gewesen, der die fliegenden Händler auf der Strandpromenade Kusshände zuwarfen und Tütchen mit Semechki – Sonnenblumenkernen – schenkten. Wer war sie jetzt? Und wie schrecklich war das Land, in das sie und die Mutter vertrieben wurden, wenn dort der Teufel wohnte und Männer in grauen Uniformen unentwegt die Straßen hinauf- und hinunterstampften?
Manon sah sich um. Über dem Meer verlosch das Licht, und entlang der Promenade glommen bunte Laternen. Die Menschen tanzten und lachten. Ihre drei Cousins, die sie sonst umschwirrten wie Motten eine Gaslaterne, hüpften im Kreis, ohne zu bemerken, dass sie fehlte. Die Kälte des Märzabends und der scharfe Wind schienen ihnen nichts auszumachen. Manon blickte wieder nach vorn, die lange Treppe hinauf. Die Schar Menschen, mit denen sie gekommen war, scherte sich nicht mehr um sie und hatte sie vergessen. Sie war allein. Zum ersten Mal in ihrem Leben.
Oben war ihre Mutter, die ihre und Manons Sachen zusammenpackte, um mit Herrn Oberleutnant von dem Knesebeck nach Deutschland zu gehen. Manon konnte Herrn Oberleutnant von dem Knesebeck nicht leiden, aber von nun an würde sie zu ihm und seiner grauen Uniform gehören, nicht mehr zu all denen, die sie lieb hatte.
Tante Oda, Tante Lene, Tante Tessa, die lustige Lidija mit den Klunkerketten, Eduard, der Portier in seiner hübschen Livree, Sebastien, der Empfangschef, und Andreja, die in der Küche stand und Meerestiere aus Teig knetete – wo waren sie alle jetzt, da Manon sie brauchte?
Es war niemand mehr da.
Niemanden kümmerte es mehr, was mit Manon geschah. Sie sollte weg. Wie die Deutschen. Morgen früh mit dem ersten Zug.
Die Himmelsleiter war leer. Es kam ihr vor, als wäre der Platz mit dem Hotel verschwunden, als gäbe es zwischen Himmel und Meer ihre vertraute Welt nicht mehr, sondern nur noch Endlosigkeit. Brennende Tropfen schossen ihr in die Augen. Wer sie sah, musste glauben, dass Manon Albus nicht nur eine Deutsche, sondern obendrein eine Heulsuse war. Aber es sah sie ja niemand. Sie war allein. Sie setzte einen Fuß auf die unterste Stufe und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Nach ein paar Schritten begannen ihre Waden zu schmerzen, doch sie hielt nicht an. Weg, nur weg von den Tanzenden und der schönen Stimme zur Bandura, von dem Fest, zu dem sie nicht eingeladen war. Das Geräusch, leise Schritte, die nicht von der Hafenstraße heraufkamen, hielt sie zunächst für Einbildung. Dann aber blickte sie auf und sah, dass ihr tatsächlich jemand entgegenkam.
Ein kleines Kind kletterte die Treppe herunter und winkte mit beiden Armen. »Manon, Manon!« Das Stimmchen war rau, und das Kind sprach Manons Namen so aus, wie es die Deutschen taten: mit einem harten »n« am Ende, das ein bisschen knallte. Ihre Mutter sagte es nie so, auch nicht, wenn sie mit Manon deutsch sprach. Vielmehr pflegte sie zu seufzen und zu erklären: »Französisch ist die Sprache der vornehmen Welt, und ich habe dir einen französischen Namen gegeben, weil ich dir ein vornehmes Leben wünschte. Wie es stattdessen dann gekommen ist, konnte ja kein Mensch ahnen.«
»Manon!«, rief das Kind noch einmal und kam die Treppe so eilig herunter, dass Manon Angst hatte, es könnte stolpern. »Da bist du ja, Manon! Ich hab dich überall gesucht.«
Manon erkannte das Kind nun. Es war die kleine Clara, die Tochter von Onkel Bodo und Tante Valerie, die nur zu Besuch hier waren. Sie straffte den Rücken und wischte sich hastig mit dem Handrücken über die Augen. Die kleine Clara war wirklich noch klein. Erst vier war sie, im Vergleich dazu war Manon mit ihren bald acht Jahren schon so gut wie erwachsen. Auf keinen Fall würde sie sich vor ihr verheult und jämmerlich zeigen. Im Gegenteil. Die Kleine sollte glauben, Manon ginge aus freier Entscheidung nach Deutschland und könne gar nicht schnell genug von hier wegkommen.
»Ach, du arme, arme Manon!« Auf der letzten Stufe, ehe sie Manon erreichte, stolperte Clara doch noch und fiel geradewegs gegen sie. Sie trug einen unschönen, kratzigen Mantel aus Wollpopeline, hatte sich ihre komische, zu große Russenmütze vom Kopf gezogen, und ihre kurzen Ärmchen schlangen sich um Manons Mitte.
»Oben gibt’s Pfannküchlein«, murmelte Clara. »Mit allem Möglichen drauf. Kirschmarmelade, Zuckerwasser, echte Sahne. Aber weil du nicht da warst und weil du so traurig warst, hat’s mir gar nicht geschmeckt.«
Verdutzt schob Manon sie ein Stück von sich weg und betrachtete sie. Die Kleine hatte ein nahezu vollkommenes Mondgesicht und auf dem Kopf ein Haargestrüpp in einer Farbe, die Manons Mutter Straßenköterblond genannt hatte. Ihre hellen Augen waren fast so rund wie ihr Gesicht und vollkommen offen, als könne man in Clara hineinsehen.
»Ich bin gar nicht traurig«, log Manon.
»Ach doch«, sagte Clara. »Das hab ich dir angemerkt. Du bist traurig, weil du nicht mit uns nach Berlin fahren, sondern hierbleiben willst.«
Wie konnte die Kleine das gespürt haben, wie konnte sie etwas davon verstehen? Sie war doch kaum mehr als ein Wickelkind, nicht älter als Hanno, der Manon oft schrecklich auf die Nerven ging. Und überhaupt – was verstand so ein Knirps schon von Traurigkeit?
Clara musste zwar auch nach Deutschland, aber sie hatte ja dort ihr Zuhause. Sie hatte eine Mutter, die sie nicht wegschob, wenn sie mit ihr reden wollte, sondern ihr zuhörte, und obendrein hatte sie ihren Vater bei sich. Onkel Bodo. Einmal hatte Manon sich bei dem Wunsch ertappt, Onkel Bodo möge auch ihr Vater sein. Sie hatte sich hinterher dafür geschämt, weil ihre Mutter ihr schließlich oft genug versicherte, sie hätte den besten Vater auf der Welt gehabt. Aber davon ging der Wunsch nicht weg. Ein Vater, von dem man nichts als Schaschliks in Erinnerung hatte, war ein bisschen wenig, um sich daran festzuhalten, und der verblichene Schaschlik-Vater würde sie auch nicht davor schützen, in ein wildfremdes Land verschleppt zu werden.
Manon schluckte hart. In ihren Augen sammelten sich schon wieder die...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2021 |
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Reihe/Serie | Die Grandhotel-Odessa-Reihe |
Die Grandhotel-Odessa-Reihe | |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 1920-1935 • 20er Jahre • 20er Jahre Romane/Erzählungen • 30er Jahre • Berlin • Drama • dramatische Romane • Familiendrama • Familiengeschichte • Familiengeschichten Romane • Familiensaga • familiensaga historisch • Grandhotel • historische romane 20. jahrhundert • Historische Romane Serie • Historischer Roman • Hotel Roman • Hotel-Saga • Liebesgeschichte • Odessa • Romane für Frauen • Romane Liebe • Roman Hotel • Russland • schicksalsromane • Schwarzes Meer |
ISBN-10 | 3-426-45956-6 / 3426459566 |
ISBN-13 | 978-3-426-45956-0 / 9783426459560 |
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