Die politische Theorie des Neoliberalismus (eBook)

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2021 | 1. Auflage
345 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76732-0 (ISBN)

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Die politische Theorie des Neoliberalismus -  Thomas Biebricher
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»Neoliberalismus« wird heute meist einfach mit ungebremstem Kapitalismus gleichgesetzt. Thomas Biebricher weist dagegen auf der Grundlage einer historischen Rekonstruktion nach, dass neoliberales Denken sich nicht nur mit ökonomischen, sondern auch mit politischen Fragen auseinandersetzt. Dieses Denken unterzieht er sodann einer kritischen Analyse und führt vor, welche Rolle die politischen Vorstellungen des Neoliberalismus im heutigen krisengeschüttelten Europa spielen.



Thomas Biebricher, geboren 1974, ist Heisenberg-Professor f&uuml;r Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der &Ouml;konomie an der Goethe-Universit&auml;t Frankfurt am Main. 2018 sorgte er mit seiner Studie <em>Geistig-moralische Wende. Die Ersch&ouml;pfung des deutschen Konservatismus</em> f&uuml;r Aufsehen. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt<em> Die politische Theorie des Neoliberalismus</em> (stw 2326).

211. Was ist Neoliberalismus?


Neoliberalismus ist ein unangenehmer, aber wichtiger Begriff, der als Ressource für kritische Untersuchungen sozioökonomischer und politischer Verhältnisse in der kapitalistischen Gegenwart dienen kann. Nichtsdestotrotz bleibt die potentielle Nützlichkeit des Begriffs bzw. des Konzeptes mit einem Fragezeichen versehen, da seine Bedeutung unklar ist, wenn er nicht gar völlig sinnentleert ist, wie manche Kritiker behaupten. Es ist daher keineswegs überraschend, dass die Neoliberalismus-Forschung sich gezwungen sieht, eine eindeutige und nachvollziehbare Definition ihres Gegenstandes zu liefern, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, im Zentrum ihrer Agenda flottiere ein gänzlich leerer Signifikant umher. Die Folge ist eine Vielzahl von Studien, die versuchen, den Neoliberalismus entweder über eine Reihe vermeintlich typisch neoliberaler Politiken wie etwa Deregulierung und Privatisierung[1]  oder mit Verweis auf einen konzeptionellen Kern zu definieren, der das Wesen des Neoliberalismus darstelle.[2]  Diese Bemühungen sind allerdings mit Schwierigkeiten behaftet. Die diversen Politik-Listen wirken unvermeidlicherweise immer etwas arbiträr, denn warum sind es etwa gerade Deregulierung und Privatisierung und nicht auch Vermarktlichung und Responsibilisierung, die das archetypische Politik-Regime des Neoliberalismus ausmachen? Angesichts der Spannbreite und internen Heterogenität dessen, was in der Literatur als »variegierter«[3]  und »polymorphischer«[4]  Neoliberalismus charakterisiert wird, scheint sich dieser einerseits vehement gegen eine »generische und transhistorische Definition«[5]  zu sträuben – 22und dies gilt nicht nur für seine real existierenden Manifestationen, sondern auch für seinen Diskurs. Andererseits kann die Lösung kaum darin bestehen, dass man von einer »Reihe von distinkten, aber miteinander verbundenen Neoliberalismen« ausgeht,[6]  denn damit verschärfte sich das Problem nur noch weiter, müsste doch nun jeder einzelne Neoliberalismus definiert und darüber hinaus auch die Verbindung zwischen ihnen konzeptionell erfasst werden.

Damit sind die Herausforderungen benannt, denen sich jede Untersuchung des Neoliberalismus zu stellen hat. Das Hauptziel dieses Kapitels besteht daher darin, eine Vorstellung von Neoliberalismus zu entwickeln, die nicht den Fehler begeht, mit einfachen und eindeutigen Definitionen eine »transzendentale ›Feststellung‹ des Neoliberalismus«[7]  vorzunehmen, um ihn so konzeptionell mit Verweis auf ein wie auch immer geartetes Wesen oder einen Kern zu fassen. Stattdessen geht es um ein Verständnis, das hinreichend differenziert ist, um seine internen Heterogenitäten adäquat abzubilden, ohne den Neoliberalismus in multiple Neoliberalismen aufzulösen, die keinerlei grundlegende Gemeinsamkeit aufweisen. Zu diesem Zweck schlage ich folgende konzeptionelle Strategie vor.

Angesichts der Abwesenheit selbsterklärter Neoliberaler in der heutigen Zeit und dem bisweilen geäußerten Verdacht, dass der Neoliberalismus niemals existiert habe, sondern schlicht ein »Fiebertraum der Linken« sei,[8]  halte ich es für eine sinnvolle Herangehensweise, die Bedeutung zu klären, die der Neoliberalismus für diejenigen hatte, die sich selbst als Neoliberale bezeichneten. Anders formuliert, besteht der erste Schritt in der Erarbeitung eines Verständnisses des neoliberalen Projekts (bzw. der neoliberalen Projekte) in der Rekonstruktion seines historischen Entstehungskontextes, der pointiert als die Krise des Liberalismus zusammengefasst werden kann. Der Neoliberalismus muss in erster Linie als eine Reaktion auf diese Krise aufgefasst werden, wobei die zukünftigen Neoliberalen ausführlich die Faktoren erörterten, die ihrer Ansicht nach zum Niedergang des Liberalismus geführt hatten. Aus diesen 23Diskussionen und den entsprechenden Positionierungen lässt sich das herausdestillieren, was ich als neoliberale Problematik bezeichne und womit, konzeptionell gesprochen, die richtige Balance zwischen Einheit und Heterogenität neoliberalen Denkens hergestellt werden kann. Der Neoliberalismus war nie ›eins‹ mit sich selbst, und die historische Herangehensweise wurde hier nicht in der Hoffnung gewählt, es ließe sich ein Ursprung des Neoliberalismus finden, an dem sein Wesen noch isoliert von allen kontingenten Zusätzen in seiner unberührten Reinheit anzutreffen wäre – denn diesen Ort gibt es nicht. Trotz der unbestreitbaren Spannungen innerhalb des neoliberalen Diskurses, die ihn schon in seinen Anfängen kennzeichneten, bestand das einende Band zwischen jenen, die sich damals als Neoliberale bezeichneten, in einer geteilten Problematik, die ihr Denken antrieb. Im Mittelpunkt dieser Problematik stand zwar der Markt, aber es handelte sich nichtsdestotrotz um eine inhärent politische Problematik, wie ich in Abgrenzung von konventionell ökonomistischen Lesarten des Neoliberalismus im Folgenden zeigen werde.

Die Geburt des Neoliberalismus: Das Walter-Lippmann-Kolloquium und die Krise des Liberalismus


Vermutlich sah kaum einer der Teilnehmer des Walter-Lippmann-Kolloquiums voraus, dass ihr Treffen retrospektiv als die Geburt einer ganzen Denkströmung angesehen werden würde, als sie in den letzten Augusttagen des Jahres 1938 am Institut International de Coopération Intellectuelle zusammenkamen. Der Zweck des fünftägigen Kolloquiums war die Diskussion des Buchs Die Gesellschaft freier Menschen,[9]  das der US-amerikanische Journalist Walter Lippmann im Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Neben ihm nahmen fünfundzwanzig weitere Denker aus diversen vornehmlich europäischen Ländern teil.[10]  In den Diskussionsprotokollen des Treffens 24findet sich erstmals der Begriff Neoliberalismus als Bezeichnung für eine gemeinsame Agenda und ein geteiltes Projekt.[11]  Natürlich suggeriert die Rede von der Geburt des Neoliberalismus, den entsprechenden Diskussionsprotokollen und Lippmanns Buch zunächst, dass es womöglich doch den einen, klar lokalisierbaren Ursprung inklusive neoliberalen Gründungstexts gäbe, die dann doch als Kernelemente eine eindeutig elegante definitorische Erfassung des Neoliberalismus ermöglichen würden. Aber sowohl das Narrativ als auch die Metaphorik der Geburt erweisen sich in ihrer vermeintlichen Einfachheit als trügerisch.

Weder gibt es einen einzigen Ursprung des Neoliberalismus, noch gibt es einen entsprechenden Gründungstext, der von Lippmann oder einem beliebigen anderen Neoliberalen verfasst worden wäre.[12]  Die Dinge liegen wesentlich komplizierter, beginnend mit der Tatsache, dass der Veranstalter Louis Rougier den Begriff des Neoliberalismus nach Ende des Kolloquiums in die Protokolle hineinschrieb, es aber bis heute unklar ist, ob sich tatsächlich im Zuge der Diskussionen unter den Beteiligten ein Konsens über die 25offizielle Annahme dieses Labels herauskristallisierte.[13]  Und damit nicht genug der Komplikationen beim ersten Aufgalopp des Neoliberalismus, dessen schwerwiegendste der sich bereits am Horizont abzeichnende Zweite Weltkrieg war, der das neoliberale Projekt mit all seinen Plänen für ein Forschungszentrum, regelmäßige Treffen und einer intensivierten Netzwerkbildung zunächst abrupt zum Erliegen brachte. Nach dem Kolloquium würde es beinahe eine ganze Dekade dauern, bis eine ähnliche Zusammenkunft erstmals wieder stattfand – sozusagen die zweite Geburt des Neoliberalismus –, und zwar im Jahr 1947, als sechzig Teilnehmer in der Schweiz die bereits erwähnte Mont Pèlerin Society gründeten, die bis heute als eine Art Internationale des Neoliberalismus gilt,[14]  obwohl es das Wort Neoliberalismus nie in das offizielle Statement of Aims der Society schaffte, auf das sich die Gründungsmitglieder verständigt hatten.

Nichtsdestotrotz bietet das Kolloquium einen guten Ausgangspunkt für eine Untersuchung des neoliberalen Projektes, denn die Agenda des Kolloquiums und die der Gründungskonferenz der Mont Pèlerin Society in...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Globalisierung • STW 2326 • STW2326 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2326 • Ungleichheit • Wirtschaft
ISBN-10 3-518-76732-1 / 3518767321
ISBN-13 978-3-518-76732-0 / 9783518767320
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