Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Die zitternde Frau (eBook)

Eine Geschichte meiner Nerven
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00478-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
«Siri Hustvedt, eine unserer herausragenden Schriftstellerinnen, gehört seit langem zu den brillantesten Erforschern von Gehirn und Geist. Kürzlich jedoch wandte sie ihr Forschungsinteresse sich selbst zu: Knapp drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters, während einer Gedenkrede auf ihn, fand sie sich plötzlich von Konvulsionen geschüttelt. War das Hysterie, eine Übertragung, ein zufälliger epileptischer Anfall? Die zitternde Frau - provokant und amüsant, umfassend und niemals abgehoben - erzählt von ihren Bemühungen um eine Antwort darauf. So entsteht eine außergewöhnliche Doppelgeschichte: zum einen die ihrer verschlungenen Erkenntnissuche, zum anderen die der großen Fragen, die sich der Neuropsychiatrie heute stellen. Siri Hustvedts kluges Buch verstärkt unser Erstaunen über das Zusammenspiel von Körper und Geist.» Oliver Sacks «Siri Hustvedt beweist trotz oder gerade angesichts des autobiographischen Themas einmal mehr, was für eine großartige Erzählerin sie ist.» Süddeutsche Zeitung

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis. Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.

Die Mediziner zerbrechen sich seit Jahrhunderten über Schüttelkrämpfe wie meine den Kopf. Viele Krankheiten sind mit Zittern verbunden, aber es ist nicht immer einfach, sie voneinander zu unterscheiden. Seit Hippokrates bedeutet eine Diagnose stellen, einen Haufen Symptome unter einem Namen in einen Topf zu werfen. Epilepsie ist die berühmteste Schüttelkrankheit. Wäre ich eine Patientin des griechischen Arztes Galen gewesen, der Kaiser Marc Aurel behandelte und dessen umfangreiche Schriften die Medizingeschichte jahrhundertelang beeinflussten, hätte er bei mir Krämpfe diagnostiziert, Epilepsie aber ausgeschlossen. Für Galen verursachte Epilepsie nicht nur Krämpfe des ganzen Körpers, sie unterbrach auch die «Leitfunktionen» – Bewusstsein und Sprechen[1]. Obwohl es bei den Griechen einen Volksglauben gab, Götter und Geister könnten das Zittern verursachen, betrachteten die meisten Ärzte das Phänomen als Naturforscher. Erst mit der Verbreitung des Christentums wurden Zuckungen und das Übernatürliche verwirrend innig miteinander verbunden. Die Natur, Gott und der Teufel konnten den Körper eines Menschen zerstören, und die medizinischen Fachleute hatten Mühe, zwischen den Ursachen zu unterscheiden. Wie konnte man einen natürlichen Vorgang, einen göttlichen Eingriff oder das Besessensein von Dämonen auseinanderhalten? Teresa von Ávilas anfallartige Todesqualen und Ohnmachten, ihre Visionen und Entrückungen waren mystische Fluchten zu Gott hin, aber die Mädchen von Salem, die sich wanden und schüttelten, waren Opfer von Hexen. In A Modest Inquiry into the Nature of Witchcraft beschreibt John Hale die Anfälle der gepeinigten Kinder und fügt dann betont hinzu, ihre extremen Leiden gingen «über die Gewalt hinaus, die jegliche epileptische Anfälle oder natürliche Krankheiten verursachen könnten»[2]. Wäre mein Zitteranfall während des Hexenwahns in Salem eingetreten, hätte er böse Folgen haben können. Ich hätte mit Sicherheit wie eine Besessene gewirkt. Schlimmer noch: Wäre ich selbst von den damaligen Glaubensvorstellungen durchdrungen gewesen – und das wäre ich höchstwahrscheinlich – , hätte das unheimliche Gefühl, irgendeine äußere Macht wäre in meinen Körper gefahren und hätte das Zittern ausgelöst, vermutlich ausgereicht, um mich davon zu überzeugen, dass ich verhext sei.

Im New York des Jahres 2006 hätte mich kein zurechnungsfähiger Arzt zu einem Exorzisten geschickt, und doch herrscht bei der Diagnose allgemeine Verwirrung. Die Koordinaten für eine Begutachtung von Krämpfen mochten sich geändert haben, aber zu verstehen, was mit mir geschehen war, würde nicht einfach sein. Ich konnte zu einem Neurologen gehen, um herauszufinden, ob ich an Epilepsie litt, obwohl ich seit meiner Erfahrung im Mount Sinai Hospital vor Ärzten auf der Hut war, die das Nervensystem untersuchen. Ich wusste, dass ich für eine solche Diagnose mindestens zwei Anfälle gehabt haben musste. Ich glaubte, vor meiner hartnäckigen Migräne einen echten Anfall gehabt zu haben. Der zweite sah mir verdächtig aus. Unkontrolliertes Zittern kann bei manchen Krampfanfällen vorkommen. Mein Zittern war beidseitig – und ich hatte während des ganzen Anfalls geredet. Wie viele Menschen reden während eines Anfalls? Außerdem hatte ich keine Aura gehabt, keine Vorwarnung, dass ein neurologisches Ereignis sich anbahnte, wie es oft bei meiner Migräne vorkommt, und der Anfall war mit der Rede über meinen toten Vater vorbei gewesen. Wegen meiner Vorgeschichte wusste ich, dass ein sorgfältiger Neurologe ein Elektroenzephalogramm machen würde. Ich würde eine ganze Weile mit glibberigen Elektroden am Schädel herumsitzen müssen, und vermutlich fände der Arzt am Ende nichts. Natürlich haben viele Menschen Krampfleiden, die nicht durch die üblichen Untersuchungen ermittelt werden können; dann müsste der Mediziner noch weitere Untersuchungen vornehmen. Und wenn ich nicht weiterzitterte, käme die Diagnose vielleicht nicht voran. Ich geriete in die Grauzone einer unbekannten Krankheit.

Ich hatte mir eine Zeitlang den Kopf über mein Zittern zerbrochen, als sich eine mögliche Antwort ankündigte. Sie schälte sich nicht langsam heraus, sondern kam ganz plötzlich wie eine Erleuchtung. Ich saß auf meinem gewohnten Platz in der monatlichen neurowissenschaftlichen Vorlesung und dachte an ein kurzes Gespräch mit einer Psychiaterin zurück, die bei einem früheren Vortrag hinter mir gesessen hatte. Ich hatte sie gefragt, wo sie arbeite und was sie mache, und sie hatte mir erzählt, sie sei in einem Krankenhaus angestellt, wo sie hauptsächlich «Patienten mit Konversionsstörungen» betreue. «Die Neurologen wissen nicht, was sie mit ihnen anfangen sollen», hatte sie gesagt, «also schicken sie sie zu mir.» Das könnte es sein!, dachte ich. Mein Anfall war hysterisch gewesen. Dieses altertümliche Wort ist aus dem derzeitigen medizinischen Diskurs weitgehend verschwunden und durch Konversionsstörung ersetzt, aber unter dem neueren Begriff spukt der alte wie ein Gespenst umher.

Fast jedes Mal, wenn heutzutage das Wort Hysterie in Zeitungen oder Zeitschriften gebraucht wird, erläutert der Verfasser, dass es seine Wurzel in dem griechischen Wort für «Gebärmutter» hat. Sein Ursprung als ein mit den Fortpflanzungsorganen zusammenhängendes, rein weibliches Problem soll den Leser warnen, dass das Wort als solches ein uraltes Vorurteil widerspiegelt, doch ist seine Geschichte weitaus komplexer als Misogynie. Galen glaubte, Hysterie wäre eine Krankheit, von der unverheiratete und verwitwete Frauen ohne Geschlechtsverkehr geplagt werden, aber kein Wahnsinn, da sie nicht zwangsläufig psychische Beeinträchtigungen mit sich brachte. Die Ärzte der Antike waren sich wohl bewusst, dass epileptische und hysterische Anfälle gleich aussehen konnten und dass es wesentlich war, sie auseinanderzuhalten. Wie sich zeigt, dauert die Verwirrung an. Im 15. Jahrhundert glaubte der Mediziner Antonius Guainerius, von der Gebärmutter aufsteigende Vapeurs verursachten die Hysterie, und Hysterie wäre von Epilepsie unterscheidbar, weil die hysterische Person sich an alles erinnern konnte, was während des Anfalls geschehen war.[3] Der große englische Arzt des 17. Jahrhunderts, Thomas Willis, räumte mit der Gebärmutter als dem ursächlichen Organ auf und lokalisierte sowohl Hysterie als auch Epilepsie im Gehirn. Aber Willis’ Gedanke setzte sich nicht durch. Es gab jene, die glaubten, beide seien bloß verschiedene Erscheinungsformen desselben Leidens. Der Schweizer Arzt Samuel Auguste David Tissot (1728 – 1797), der vor allem wegen seines weit verbreiteten Traktats über die Gefahren des Masturbierens in die Medizingeschichte eingegangen ist, behauptete, die beiden Krankheiten unterschieden sich, obwohl es Epilepsien gäbe, die in der Gebärmutter entstünden.[4] Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert wurde Hysterie als ein Krampfleiden betrachtet, das irgendwo im Körper entsteht – in der Gebärmutter, im Gehirn oder in einem Körperglied – , und die darunter litten, wurden nicht als geistesgestört angesehen. Man kann mit Sicherheit sagen, wenn einer der oben erwähnten Ärzte Zeuge meiner konvulsivischen Rede gewesen wäre, hätte er mich als hysterisch diagnostiziert. Meine geistigen Funktionen waren nicht unterbrochen, ich erinnerte mich an alles im Zusammenhang mit meinem Anfall, und natürlich war ich eine Frau mit einer potentiell vaporösen oder gestörten Gebärmutter.

Die Frage, wann Hysterie eine ausschließlich mit dem Geist assoziierte Krankheit wurde, ist interessant. Im normalen Sprachgebrauch bezeichnen wir mit dem Wort Hysterie die Erregbarkeit oder überschießende Emotion eines Menschen. Es beschwört eine schreiende, außer Kontrolle geratene Person herauf, gewöhnlich eine Frau. Was auch immer mit meinen Armen, Beinen und meinem Rumpf passiert war – mein Geist hatte gut funktioniert, und ich hatte ruhig gesprochen. In diesem Sinn war ich also nicht hysterisch. Heutzutage werden Konversionsstörungen als psychische, nicht als neurologische Krankheiten klassifiziert, was erklärt, weshalb wir sie mit mentalen Problemen verbinden. Im DSM, inzwischen in der vierten Ausgabe, fallen Konversionsstörungen in den Bereich der somatoformen Dissoziation – körperliche Störungen und gestörte Körperempfindungen.[5] Aber in den letzten vierzig Jahren haben sich die Bezeichnung und die Klassifikation der Krankheit mehrmals geändert. Im ersten DSM von 1952 wurde sie Konversionsreaktion genannt. Das DSM-II (1968) rechnete sie den dissoziativen Störungen zu und bezeichnete sie als hysterische Neurose vom Konversionstypus. 1968 war den Autoren offensichtlich daran gelegen, die Wurzeln der Krankheit wieder freizulegen, indem sie auf das Wort Hysterie zurückgriffen. Dissoziation ist ein sehr weitgefasster Terminus, der auf verschiedene Arten gebraucht wird, um irgendeine Form der Entfernung vom normalen Selbstsein oder dessen Zusammenbruch zu kennzeichnen. Wenn jemand zum Beispiel eine außerkörperliche Erfahrung macht, heißt es von ihm, er sei in einem dissoziativen Zustand; jemand, der von dem Gefühl gequält wird, er oder die Welt wäre nicht real, würde ebenfalls dissoziativ genannt werden. Als dann 1980 das DSM-III herauskam, war das Wort hysterisch wieder verschwunden und durch den Begriff Konversionsstörung, ein somatoformes...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Übersetzer Uli Aumüller, Grete Osterwald
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erkrankung • Hysterie • Identitätssuche • Medizin • Nerven • Neurobiologie • Neurologie • Psychologie • Psychopathologie • Selbstdiagnose • USA • Zitteranfall • Zittern
ISBN-10 3-644-00478-1 / 3644004781
ISBN-13 978-3-644-00478-8 / 9783644004788
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von Wolf Haas

eBook Download (2025)
Carl Hanser Verlag München
18,99
Roman

von Percival Everett

eBook Download (2024)
Carl Hanser Verlag München
19,99
Roman

von Chimamanda Ngozi Adichie

eBook Download (2025)
S. Fischer Verlag GmbH
19,99