Frühling auf Helgoland -  Rainer Gross

Frühling auf Helgoland (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
312 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-8133-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Irgendetwas stimmt nicht in Neles Familie. Ihre beiden Geschwister verließen das elterliche Zuhause Knall auf Fall und brachen den Kontakt völlig ab. Und nun auch Nele: Plötzlich sagt sie sich von allem los und flüchtet nach Helgoland, um sich ein Jahr Auszeit zu nehmen und heraus zu finden, was sie eigentlich will im Leben. Sie findet neue Freunde, gewinnt die Insel und ihre Bewohner lieb und richtet sich ein in ihrem neuen Leben. Doch die Vergangenheit schläft nicht. Ihr Ex-Verlobter, den sie schmählich im Stich ließ, macht sie ausfindig, und da ist auch noch Maik, der Meeresbiologe, den sie sympathisch findet. Nele muss feststellen, dass es mit dem Alten und dem Neuen nicht so einfach ist.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glau¬ser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Lebkuchenstadt (2020); Schatzkiste (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020).

1. Kapitel:
So wahr mir Gott helfe


Die Standesbeamtin beugte sich vor und lächelte sie einfühlsam an.

»Wollen Sie, Nele Heidenkamps, den hier anwesenden Florian Brenner zu Ihrem rechtmäßigen Ehemann nehmen, dann antworten Sie bitte mit: Ja!«

Sie schaute Florian an. Der hatte die Frage mit einem zufriedenen Ja beantwortet. Er hatte es hinter sich. Sie blickte über die Schulter und schaute zu den Gästen hinüber. Die Sekunden verrannen. Was ist los?, fragte sie sich. Du solltest schon längst antworten. Ein einfaches Ja. Was ist daran so schwierig?

Sie schaute die Standesbeamtin an, die leicht die Stirn runzelte. Die Frage stand im Raum, klang unheilverkündend nach.

Sag es, ermahnte Nele sich. Sag es einfach, und dann hast du’s hinter dir. Du hast es hundertmal mit Florian durchgesprochen. Heirat. Umzug. Gemeinsame Wohnung. Das erste Kind in einem Jahr. Es ist alles geplant. Ein sauberer Verlauf, gegen den sich nichts sagen lässt. Auch nicht eine verschwommene Sehnsucht nach Freiheit, nach Atempause, nach einem Ausbruch und Aufbruch. Frühlingsgefühle, hatte es Heidi genannt, ihre beste Freundin, die nun als Trauzeugin dort vorn saß und wartete, wie alle anderen. Hast du wirklich Zweifel? War das nicht nur eine Laune, Lampenfieber vor dem großen Tag? Und nun stehst du hier, Nele, und kannst der Standesbeamtin nicht antworten.

Die Pause dauerte schon viel zu lang. Jetzt war eh nichts mehr zu retten. Wenn du jetzt Ja sagst, bleibt das Misstrauen, die Unglaubwürdigkeit. Jetzt kannst du dich nicht mehr aus der Affäre ziehen. Aber wie sagte einmal ein guter Freund zu ihr? Du kannst nicht deinen Arsch retten und zugleich dein Gesicht wahren.

Also, dachte sie und sagte, weil sie sowieso nichts zu verlieren hatte und weil es sich richtig anfühlte und weil sie keine Ahnung hatte, wohin das führen würde, laut:

»Nein.«

Und setzte, als wäre sie ein amerikanischer Präsident bei der Vereidigung, leise hinzu:

»So wahr mir Gott helfe!«

Raunen und Flüstern, Ah und Oh: Das hatte sie erwartet. Aber es herrschte eisiges Schweigen. Selbst Florian brachte kein Wort heraus, starrte sie nur entgeistert an. Die Standesbeamtin fing sich erstaunlich rasch und meinte: »Damit hat sich der amtliche Vorgang erledigt. Es tut mir leid für Sie beide.«

Sie räumte die Dokumente, die sie bereitgelegt hatte, zusammen und trat einen Schritt vor. Das war das Signal für die übrigen Gäste, aufzustehen und sich zum Ausgang zu bewegen. Leises Gemurmel wurde jetzt hörbar, niemand schaute Nele an, ihre Mutter verkniff sich die Tränen, und ihre wohl doch nicht künftige Schwiegermutter beugte sich im Vorbeigehen zu ihr her und zischte:

»Was anderes habe ich von dir auch nicht erwartet!«

Florian bewahrte die Contenance. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, hier im Standesamt eine große, womöglich heftige Diskussion anzufangen. Für dieses Mal war es gelaufen. Er wartete, bis alle draußen waren und sich die Beamtin verabschiedet hatte.

Er fasste sie an der Schulter und kam ihr mit seinem Gesicht ganz nahe.

»Was soll das? «, fragte er beherrscht.

Nele machte sich los. Sie hatte jetzt keine Kraft und Nerven für ein Gespräch. Er hätte eine Erklärung verdient, das ja, aber sie könnte ihm gerade sowieso keine geben. Sie wusste nicht, was eben da drin passiert war. Sie musste es erst einmal selbst herausfinden.

Ohne eine Erwiderung ließ sie ihn stehen, überquerte den Marktplatz, den alten Markt zwischen Fachwerkhäusern, und schlenderte die Fußgängerzone entlang, als wollte sie shoppen.

Sie war selbst erstaunt. So spontan und unüberlegt hatte sie noch nie eine Entscheidung getroffen. Das brauchte aber nicht zu heißen, dass sie falsch war. Sie benötigte nur Zeit, um sie zu verstehen. Und um zu verstehen, was sie für Folgen hatte. Dafür brauchte sie wahrscheinlich die ganzen nächsten Wochen.

Sie war mit ihren Eltern in deren Wagen von Regensburg aus hergefahren, in diese Stadt am Fuß der Schwäbischen Alb, wo Florian wohnte und wo er hatte heiraten wollen. Sie konnte jetzt unmöglich mit ihren geschockten Eltern im Auto sitzen, zwei Stunden lang, und sich eine Gardinenpredigt anhören. Oder vielleicht das Gegenteil: eisiges Schweigen wie vorhin im Standesamt. Auch ihre Eltern würden eine Erklärung verlangen, und die konnte Nele beim besten Willen nicht geben.

Also schlug sie den Weg zum Bahnhof ein, löste dort ein Ticket nach Regensburg, besorgte sich einen Kaffee im Pappbecher und setzte sich auf eine Bank an den Gleisen, in Kostüm und hochhackigen Schuhen, um auf den Schreck hin erst einmal etwas Warmes in den Bauch zu bekommen.

Es war mild für Februar. Letzte Schneereste tauten von den Traufen der Überdachung, Meisen zirpten fröhlich, die Bewölkung lockerte immer mehr auf und zeigte einen luftig leichten blauen Frühlingshimmel. Nele horchte in sich hinein und fand, dass es ihr eigentlich gut ging. Sehr gut sogar, wenn man bedachte, dass sie eben eine fest verplante Zukunft vergeigt hatte. Sie fühlte sich erleichtert und irgendwie frei. Sie atmete tief ein.

Sie hatte das Gefühl, als wäre das alles gar nicht wahr. Es kam ihr während der Zugfahrt vor wie ein Traum, ein Traum, aus dem sie nicht erwachen wollte, und doch wusste sie, dass es Realität war und sie vielleicht den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte.

Sie fürchtete, wenn sie zuhause in Regensburg ankam, würde der große Katzenjammer über sie herein brechen und sie sich gleich ans Telefon hängen, um Florian voll bitterer Reue um Rückgängigmachung anzuflehen. Man sollte einen Reset-Knopf haben, dachte sie, als sie den Regensburger Bahnhof verließ und nach der richtigen Buslinie suchte. Wie beim Computer: einfach draufdrücken und alles rückgängig machen. Das System zurücksetzen bis zu dem Zeitpunkt, da man noch alle Tassen im Schrank hatte.

Als sie zuhause die Wohnungstür aufschloss und ihr der vertraute Geruch nach Teppichboden und Küche entgegen kam, seufzte sie erleichtert.

Sie war zuhause!

Hier konnte sie sich erst einmal in Ruhe vergraben und über alles nachdenken. Doch wie sie den Schlüssel ans Brett hängte, ihre drückenden Pumps abstreifte und sich im Schlafzimmer etwas Bequemes anzog, merkte sie: Es fühlte sich immer noch wie ein Traum an. Wie ein luftiger, leichter, aber durchaus realer Traum. Obwohl sie allen Grund hätte, niedergeschlagen zu sein, wurde sie je länger je mehr zuversichtlich, dass ihr Nein keine Katastrophe bedeutete, mit der sie sich das Glück bis an ihr Lebensende verbaut hatte. Sie pfiff, während sie eine ausgebeulte Jogginghose, den Schlabberpulli aus dem Yoga-Kurs und dicke Wollsocken anzog, tänzelte zwischen Bett und Schrank, hängte das Kostüm wieder auf seinen Bügel, und dann blieb sie vor dem Spiegel an der Innenseite der Schranktür stehen und sagte zu der jungen aufgeweckten Frau, die eben ihr Leben so mir nichts dir nichts aus den Angeln gehoben hatte: » Gratuliere! Das hast du gut gemacht! «

Sie streckte ihrem Spiegelzwilling die Hand entgegen. Das Smartphone hatte sie längst ausgeschaltet, und sie wollte auch nicht wissen, wer in Abwesenheit angerufen hatte.

In der Nacht schlief Nele schlecht. Sie wachte öfter auf, träumte wild und lag einmal wach, machte die Nachttischlampe an und lag da, ohne einen vernünftigen Gedanken fassen zu können.

Am Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Sie schlurfte in Pyjama und Birkenstocks in die Küche, backte zwei Croissants im Ofen auf und ließ sich von der Espressomaschine einen Latte machen. Sie setzte sich an den Stubentisch und vertilgte die Hörnchen mit Butter und Heidelbeermarmelade, die sie am liebsten mochte. Sie checkte ihr Smartphone, um festzustellen, dass vier Anrufe eingegangen waren. Ihre Mutter hatte gestern angerufen und besorgt eine Nachricht darauf gesprochen. Sie wisse nun gar nicht, wo Nele stecke, und sie solle sich doch bitte melden. Heidi hatte auch angerufen und die Nachricht hinterlassen, dass sie morgen, also heute, vorbei kommen werde, um zu schauen, ob sie zuhause sei. Und Florian hatte angerufen, gestern und heute Morgen, aber nichts hinterlassen.

Seufzend rief sie ihre Mutter zurück und hielt das Gespräch kurz. Sie erzählte, wie sie nach Hause gekommen war, dass es ihr gut ging und dass sie nicht sagen konnte, wie es nun weitergehen sollte. Sie müsste, sagte sie, erst in Ruhe über alles nachdenken. Nein, mit Florian hatte sie noch nicht gesprochen.

Dann schickte sie Heidi eine SMS, dass sie gegen Mittag willkommen sei und sie dringend jemand zum Reden brauche. Und dann dachte sie über Florian nach.

Sie konnte sich vorstellen, wie er sich jetzt fühlte. Er war ein sehr duldsamer, ruhiger Mensch, knapp an einem ausgewachsenen Phlegma vorbei. Seine Arbeit als Geologe beim Landesdenkmalamt brachte auch nicht gerade Nervenkitzel mit sich, und wenn bisher in ihrer Beziehung irgendwas geschehen war, hatte er stets ruhig und umsichtig reagiert. Aber so etwas wie auf dem Standesamt hatte sie ihm auch noch nie...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7526-8133-0 / 3752681330
ISBN-13 978-3-7526-8133-8 / 9783752681338
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 649 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Kurzgeschichten

von Katrin Sobotha-Heidelk

eBook Download (2023)
Lehmanns Media (Verlag)
9,99

von Bram Stoker

eBook Download (2022)
Steidl Verlag
24,99
Prosa

von Michel Tapión

eBook Download (2023)
Buchschmiede von Dataform Media GmbH (Verlag)
8,99