Rilke,R.M.,Gesammelte Werke (Gedichte) (eBook)
976 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-27641-6 (ISBN)
Rilke wurde 1875 als Sohn eines Prager Beamten geboren. Nach einer erzwungenen Militärerziehung begann er 1896 in Prag ein Studium der Kunst- und Literaturgeschichte, wechselte dann an die Universitäten von München und Berlin. 1901 heiratete er in Worpswede die Bildhauerin Clara Westhoff, löste die Ehe aber bereits 1902 wieder auf. In den darauffolgenden Jahren bereiste er Italien, Skandinavien und Frankreich. In Paris schloss er Bekanntschaft mit Rodin und wurde dessen Privatsekretär. Bereits nach acht Monaten kam es aber zum Bruch. Es folgten unstete Jahre des Reisens mit Stationen in verschiedenen Städten Europas. Nach seinem Entschluss zu einem reinen Dichterdasein war Rilke zu jedem Verzicht bereit, wenn es dem Werk galt. Er opferte sein kurzes Leben ganz seiner Kunst. Im Ersten Weltkrieg war er zur österreichischen Armee eingezogen worden, wurde aber seiner kränklichen Konstitution wegen in das Wiener Kriegsarchiv versetzt. 1926 starb Rilke nach langer Krankheit in Val Mont bei Montreux. Rainer Maria Rilke gilt als der bedeutendste und einflussreichste deutsche Dichter der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Larenopfer
(1895)
IM ALTEN HAUSE
Im alten Hause; vor mir frei
seh ich ganz Prag in weiter Runde;
tief unten geht die Dämmerstunde
mit lautlos leisem Schritt vorbei.
Die Stadt verschwimmt wie hinter Glas.
Nur hoch, wie ein behelmter Hüne,
ragt klar vor mir die grünspangrüne
Turmkuppel von Sankt Nikolas.
Schon blinzelt da und dort ein Licht
fern auf im schwülen Stadtgebrause. –
Mir ist, dass in dem alten Hause
jetzt eine Stimme ›Amen‹ spricht.
AUF DER KLEINSEITE
Alte Häuser, steilgegiebelt,
hohe Türme voll Gebimmel, –
in die engen Höfe liebelt
nur ein winzig Stückchen Himmel.
Und auf jedem Treppenpflocke
müde lächelnd – Amoretten;
hoch am Dache um barocke
Vasen rieseln Rosenketten.
Spinnverwoben ist die Pforte
dort. Verstohlen liest die Sonne
die geheimnisvollen Worte
unter einer Steinmadonne.
EIN ADELSHAUS
Das Adelshaus mit seiner breiten Rampe:
Wie schön will mir sein grauer Glast erscheinen.
Der Gangsteig mit den schlechten Pflastersteinen
und dort, am Eck, die trübe, fette Lampe.
Auf einer Fensterbrüstung nickt ein Tauber,
als wollt er durch den Stoff des Vorhangs gucken;
und Schwalben wohnen in des Torgangs Lucken:
Das nenn ich Stimmung, ja, das nenn ich – Zauber.
DER HRADSCHIN
Schau so gerne die verwetterte
Stirn der alten Hofburg an;
schon der Blick des Kindes kletterte
dort hinan.
Und es grüßen selbst die eiligen
Moldauwellen den Hradschin,
von der Brücke sehn die Heiligen
ernst auf ihn.
Und die Türme schaun, die neueren,
alle zu des Veitsturms Knauf
wie die Kinderschar zum teueren
Vater auf.
BEI ST. VEIT
Gern steh ich vor dem alten Dom;
wie Moder weht es dort, wie Fäule,
und jedes Fenster, jede Säule
spricht noch ihr eignes Idiom.
Da hockt ein reichgeschnörkelt Haus
und lächelt Rokoko-Erotik,
und hart daneben streckt die Gotik
die dürren Hände betend aus.
Jetzt wird mir klar der casus rei;
ein Gleichnis ists aus alten Zeiten:
der Herr Abbé hier – ihm zuseiten
die Dame des roi soleil.
IM DOME
Wie von Steinen rings, von Erzen
weit der Wände Wölbung funkelt,
eine Heilge, braungedunkelt,
dämmert hinter trüben Kerzen.
Von der Decke, rundgemauert,
schwebt ob eines Engels Kopfe
hell ein weißer Silbertropfe,
drin ein ewig Lichtlein kauert.
Und im Eck, wo Goldgeglaste
niederhangt in staubgen Klumpen,
steht in Schmutz gehüllt und Lumpen
still ein Kind der Bettlerkaste.
Von dem ganzen Glanze floss ihm
in die Brust kein Fünkchen Segen …
Zitternd, matt, streckts mir entgegen
seine Hand mit leisem: »Prosim!«
IN DER KAPELLE ST. WENZELS
Alle Wände in der Halle
voll des Prachtgesteins; wer wüsste
sie zu nennen: Bergkristalle,
Rauchtopase, Amethyste.
Zauberhell wie ein Mirakel
glänzt der Raum im Lichtgetänzel,
unterm goldnen Tabernakel
ruht der Staub des heilgen Wenzel.
Ganz von Leuchten bis zum Scheitel
ist die Kuppel voll, die hohle;
und der Goldglast sieht sich eitel
in die gelben Karneole.
VOM LUGAUS
Dort seh ich Türme, kuppig bald wie Eicheln
und jene wieder spitz wie schlanke Birnen;
dort liegt die Stadt; an ihre tausend Stirnen
schmiegt sich der Abend schon mit leisem Schmeicheln.
Weit streckt sie ihren schwarzen Leib. Ganz hinten,
sieh, St. Mariens Doppeltürme blitzen.
Ists nicht: Sie saugte durch zwei Fühlerspitzen
in sich des Himmels violette Tinten?
DER BAU
(1)
Die moderne Bauschablone
will mir wahrlich gar nicht passen.
Hier, dies alte Haus darf fassen
reiche, weite Steinterrassen,
kleine, heimliche Balkone.
Und die weitgewölbten Decken,
die so günstig sind den Lauten,
Nischen rings, die eingebauten,
draus die Arme sich der trauten
Dämmrung dir entgegenstrecken.
Alle Mauern breiter, stärker
und aus echten Quaderkernen; –
traun, das Gruseln könnt ich lernen,
seh ich auf die Zinskasernen
aus dem kleinen, stillen Erker.
IM STÜBCHEN
(2)
Traut ists, wenn verstohlen heulen
im Kamine wilde Winde,
in der Stube; ganz gelinde
tickt auf dem barocken Spinde
fort die Stockuhr mit den Säulen.
Dort, die kleine Silhouette
zeigt die alte Tracht der Locken,
tief im Fenster steht ein Rocken,
und vergessne Töne stocken
im verlassenen Spinette.
Immer noch liegt die Postille,
dass an ihrem Geist erfrische
Jung und Alt sich, auf dem Tische,
und der Spruch ob jener Nische
lautet: ›Es gescheh Dein Wille …‹
ZAUBER
(3)
Oft seh ich die heimliche Stube belebt,
so lebhaft erzählen die Wände;
ein liebliches Mädchen, halb Kind noch, hebt
dort zu der Madonna die Hände.
Ein tüchtiger Junge beim Vater steht,
der viel zu des Hauses Gewinn tat.
An huben sie flüsternd das Abendgebet,
und Mutter lässt ruhen das Spinnrad.
Da deucht mich, es wird wohl das Auge nass
sogar der Madonne im Rahmen.
Ich lausche: – Laut von des Vaters Bass
ertönt das versöhnende: »Amen«.
EIN ANDERES
(4)
Naht der Sohn mit schwerem Schritt
seinem Vater. Schwer die Zunge …
»Wirklich, was, ein Bräutchen, Junge?!
Vorwärts, nur herein damit!«
Und da steht zum ersten Mal
jetzt das Mädchen rot und stille;
und der Vater putzt die Brille:
»Teufel! Gut war deine Wahl!«
Und er streckt die Arme aus,
und das Bräutchen nimmt verlegen
seinen Kuss und seinen Segen …
Davon weiß das alte Haus.
NOCH EINES
(5)
Auch dem blonden Kinde kam es
in sein Herz, sein waldseereines,
wie das dunkle Ahnen eines
großen Glückes oder Grames.
Und die Mutter ließ das Rädchen
stocken. – »Kind, was macht dich leiden?«
Stürmisch schluchzend schwieg das Mädchen:
Doch verstanden sich die beiden.
Kurz darauf: Am Pförtchen pochte
junger Herr. – »Wollt ihr euch?« – Pause. –
Ob! – Wer da noch fragen mochte!? –
So geschahs im alten Hause.
UND DAS LETZTE
(6)
Still heut die Stube. – Weiß wie Kalk
ist Frauchens Antlitz. Müd und lustlos
ihr feuchtes Auge; halb bewusstlos
lehnt sie bei Vaters Katafalk.
Zuseiten ihr der Gatte kann
sie trösten mehr in keiner Weise;
nun fasst er ihre Hände leise
und sieht sie ernst und bittend an.
»Mein Mütterchen, nimm diesen Strauß!«,
tönt türher hell das Wort des Kleinen;
da glimmt ein Lächeln durch ihr Weinen,
und Trost geht durch das alte Haus.
IM ERKERSTÜBCHEN
(7)
Nicht zu sehn das Alltagstreiben,
flieh ich – wie wenn ich ein Strauß wär –
in das alte, alte Haus her;
lang dann seh ich nicht hinaus mehr
durch die breit verbleiten Scheiben.
Schlichtheit war der Väter Aussaat,
Glück die Frucht, die sie gefunden;
sitz so träumend manche Stunden
dort im Polsterstuhl, im runden,
mitten in Urväterhausrat.
DER NOVEMBERTAG
Kalter Herbst vermag den Tag zu knebeln,
seine tausend Jubelstimmen schweigen;
hoch vom Domturm wimmern gar so eigen
Sterbeglocken in Novembernebeln.
Auf den nassen Dächern liegt verschlafen
weißes Dunstlicht; und mit kalten Händen
greift der Sturm in des Kamines Wänden
eines Totenkarmens Schlussoktaven.
IM STRASSENKAPELLCHEN
Bei St. Loretto da brennt ein Licht
vorm Bilde im Straßenkapellchen;
und um das Wandbild schmiegen sich dicht
Blechblumen mit farbigen Kelchen.
Die Heiligen machen ein übel Gesicht;
denn der Sturmwind, der hastige Knab, hat
nicht Achtung für sie; bei Loretto das Licht
schaut fromm in den dämmernden Sabbat.
DAS KLOSTER
Im Dämmerdustgeschwel
ist schon die Stadt zerronnen,
hoch steht das Haus der Nonnen
des Ordens vom Karmel.
Der Abend hüpft hangab
vorbei mit Feuergarben
und windet tausend Farben
um jeden Fensterstab.
Er schmückt das düstre Haus
umsonst mit Lichtgeglänze:
So sehen frische Kränze
auf Leichensteinen aus.
BEI DEN KAPUZINERN
Es hat der Pater Guardian
vom Klosterschnaps mir angeboten;
ich kenn ihn schon, den dunkelroten,
der alle Toten wecken kann.
Der Pater sucht den Schlüssel, klein,
dort, wo des Sacktuchs Zipfe blauten,
und...
Erscheint lt. Verlag | 7.12.2020 |
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Reihe/Serie | Anaconda Gesammelte Werke |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
Schlagworte | dark academia • Der neuen Gedichte anderer Teil • deutschsprachiger Dichter • Dichtung • Die neuen Gedichte • Dinglyrik • Duineser Elegien • eBooks • Gedichtband • Gedichte • Klassiker • Lyrik • Lyriker • österreichischer Dichter • Rilke • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-27641-1 / 3641276411 |
ISBN-13 | 978-3-641-27641-6 / 9783641276416 |
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