Ein neues Menschenbild? (eBook)

Gespräche über Hirnforschung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
140 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76899-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein neues Menschenbild? - Wolf Singer
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Der Konflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaften tritt in der aktuellen Diskussion um ein sich wandelndes Menschenbild besonders hervor. Dieser Band enthält eine Reihe von exemplarischen Gesprächen, in denen der Hirnforscher Wolf Singer der Idee vom frei handelnden Menschen den u. a. von neuronalen Prozessen weitgehend determinierten Menschen entgegenstellt, aber auch die Bedeutung von sozialen und kulturellen Faktoren für die geistige Entwicklung des Menschen betont. Kritisch setzt sich Singer mit der Vision einiger Zukunftsforscher auseinander, die die Entwicklung von künstlichen Gehirnen für die nächsten Jahre voraussagen. Die Gespräche mit Singer vermitteln aber auch einen Einblick in seine aktuellen Projekte in der Hirnforschung, die Hoffnung für die Entwicklung neuer Therapieformen geben.



<p>Wolf Singer wurde 1943 in München geboren. 1962 begann er sein Medizinstudium an der dortigen Ludwig-Magimilians-Universität, das er 1968 mit dem Staatsexamen und der Promotion abschloss. Es folgte ein Ausbildungsaufenthalt an University of Sussex (England) im Jahr 1971 und vier Jahre später die Berufung zum wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und zum Direktor an das MPI für Hirnforschung, Frankfurt am Main.</p> <p></p>

Das Ende des freien Willens?


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT: Herr Professor Singer, war es Ihr freier Wille, uns hier und jetzt ein Interview zu geben?

WOLF SINGER: Ich fürchte nein, und die Bedingtheiten kennen Sie: Dem Gespräch gingen Telefonate voraus und dann gewisse kognitive Prozesse in meinem Gehirn, die letztlich dazu führten, dass ich zugesagt habe, das Interview zu führen.

– Ihr Kollege, der Hirnforscher Gerhard Roth, hat unlängst in einem Spektrum-Interview die Behauptung gewagt, unser freie Wille existiere eigentlich gar nicht und sei nur eine nützliche Illusion. Wie denken Sie darüber?

– Die Frage des freien Willens ist eine der wichtigsten, die gegenwärtig an der Berührungsfläche zwischen Natur- und Kulturwissenschaften diskutiert werden. Das Problem ist, dass wir als Naturwissenschaftler bei der Beschreibung unserer Forschungsobjekte stets aus der Dritte-Person-Perspektive urteilen: Untersuchungsgegenstand und Untersuchender sind nicht identisch. Bei der Suche nach den neuronalen Grundlagen psychischer Phänomene wie Bewusstsein oder freier Wille untersucht der Forscher sich jedoch selbst – betrachtet Phänomene aus der Dritte-Person-Perspektive, die er zugleich aus der Ich-Perspektive der ersten Person wahrnimmt.

– Wo liegt das Problem?

– Wir finden weder sinnhafte Zuschreibungen noch kulturelle Konstrukte in unserem Forschungsobjekt, dem Gehirn.

– Bitte konkretisieren Sie das!

– Ich meine Phänomene wie Intentionalität, also das absichtsvolle Handeln oder eben den so genannten freien Willen. Denken Sie aber auch an soziale Realitäten wie z. B. Wertesysteme! Diese Phänomene erschließen sich nur der subjektiven Erfahrung, gehören aber dennoch zu den erforschbaren Wirklichkeiten. Wir empfinden uns als »frei«, wir handeln auch danach, ja ziehen Menschen sogar zur Verantwortung, weil wir annehmen, sie seien »frei«. Diese Konzepte haben auch insofern den Status von Realitäten, als sie sehr wirksam sind. Sie bestimmen unser Handeln, bestimmen unser Rechtssystem, unsere Erziehungsweisen.

– Leidet die Hirnforschung also an einer Art Messproblem?

– An einem Problem der Unvereinbarkeit verschiedener Beschreibungssysteme, würde ich sagen. Das ist mehr als ein Messproblem. Wir beschreiben die Phänomene, die ich gerade angesprochen habe, in der subjektiven Erste-Person-Perspektive. Anders sind sie gar nicht fassbar. In der Dritte-Person-Perspektive der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise existieren diese Phänomene nicht.

– Nur ich erlebe, dass ich etwas Bestimmtes tun will, aber niemand anders …

– Niemand anders außer Ihnen. Zugriff auf die Empfindungen und Bewertungen des Gegenübers erhalte ich nur indirekt mit Hilfe einer Theorie des Geistes.

– Das bedeutet?

– Lassen Sie mich dazu etwas ausholen! Tiere können sich im Allgemeinen nicht vorstellen, was im Kopf des anderen Tieres vor sich geht, wenn dieses sich in einer bestimmten Situation befindet. Selbst hoch entwickelte Tiere können dies nur dann, wenn das beobachtete Tier seine Stimmung zu erkennen gibt. Wenn Schimpansen einen Artgenossen in Wut sehen, dann wissen sie: Jetzt ist er wütend. Aber wenn sie einen anderen Schimpansen still sitzen sehen, der eine Spinne sieht und offenbar gar nicht darauf reagiert, dann können die sich nicht vorstellen, dass er Angst hat und nur deshalb ruhig sitzen bleibt, weil er vortäuschen will, keine Angst zu haben. Allein wir Menschen können solche Interpretationsleistungen erbringen. Nur wir können uns vorstellen, was im anderen vorgehen könnte, wenn er sich in einer bestimmten Situation befindet. Wir sprechen von der Fähigkeit, eine Theorie des Geistes aufzustellen.

– Können Sie mit einer Theorie des Geistes Zugriff auf die individuelle Eigenempfindung eines anderen Menschen erlangen?

– In gewisser Weise ja. Ich nehme an, dass Sie so empfinden wie ich. Ich schreibe Ihnen Freiheit zu, weil ich sie selbst in der ersten Person empfinde, und ich beurteile Sie entsprechend. Aber keinen der entsprechenden Inhalte bekomme ich aus der Dritte-Person-Perspektive zu fassen.

– Was ist bei der Frage nach dem freien Willen das Kernproblem?

– Das wesentliche Problem ist, dass wir annehmen, das Verhalten von ganz einfachen Organismen – Plattwürmern oder Schnecken etwa – lückenlos im Rahmen unserer naturwissenschaftlichen Beschreibungssysteme erklären zu können. Das bedeutet, wir können Verhalten auf neuronale Prozesse zurückführen. Niemand wird gegenwärtig bezweifeln, dass es möglich ist vorauszusagen, was ein Wurm als Nächstes tun wird, wenn die Gesamtheit aller Erregungszustände der Nervenzellen des Tieres messbar wäre.

– Ist das denn schon Stand der Forschung?

– Bei ganz einfachen Tieren – oder sagen wir besser: Nervensystemen – ist das schon fast möglich.

– Sie meinen, Sie haben es vielleicht noch nicht ganz erreicht, aber bald?

– Wir glauben zumindest, dass es prinzipiell möglich ist. Wir müssen dazu nur technische Probleme überwinden, die mit der Komplexität der Vorgänge und den Messinstrumenten zu tun haben.

– Und wo liegt nun die Schwierigkeit?

– Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir unsere Evolutionstheorien für zutreffend halten und viele Hinweise dafür haben, dass sich die Herausbildung komplexer Organismen tatsächlich so vollzogen hat, wie es in Darwins Theorie dargestellt wird. Wir gehen also davon aus, dass bei der Evolution der Arten alles »mit rechten Dingen« zugegangen ist und dass sich die Ausbildung neuer, höherer Verhaltensleistungen ausschließlich der Entwicklung immer komplexerer Nervensysteme verdankt. Diese Entwicklung beruht wiederum ausschließlich auf Prozessen, die vollständig in der Dritte-Person-Perspektive beschreibbar sind. Mit anderen Worten: In der Kette von Ereignissen, die zur Ausbildung komplexer Organismen – letztlich zum Menschen – geführt hat, gibt es nirgends Sprünge. Ich muss keine Agenten …

–… keinen Gott …

–… keine Agenten postulieren, die in der wissenschaftlichen Dritte-Person-Perspektive nicht darstellbar wären. Und dennoch entstehen offenbar aus der Wechselwirkung der auf diese Weise entstandenen komplexen Organismen Phänomene, die nicht mehr in dem Beschreibungssystem vorkommen, das erklärt, wie sich diese Organismen entwickelt haben. Der so genannte freie Wille ist dafür eines der faszinierenden Beispiele.

– Andererseits verfügen wir Menschen aber doch über unser eigenes Erleben als Beschreibungssystem. Das eigene Erleben ist für uns selbstverständlich: Kein Mensch hält es für problematisch, dass er sich selbst erlebt und dass er ein Bewusstsein hat und dass er etwas Bestimmtes tun oder lassen will.

– Genau in diesem individuellen Erleben erfahren wir uns als »frei«.Und daraus ergibt sich der Konflikt. Aus einem Entwicklungsprozess, der sich lückenlos aus der Dritte-Person-Perspektive mit naturwissenschaftlichen Termen beschreiben lässt, gehen Phänomene hervor, die in diesem Beschreibungssystem nicht mehr vorkommen. Letztere werden durch subjektives Erleben erfasst und im zwischenmenschlichen Diskurs thematisiert. Und wie gesagt, es handelt sich auch hierbei um etwas Reales: um erlebbare soziale Realitäten.

– Stößt hier die Naturwissenschaft an ihre Grenze?

– Just an diesem Punkt entzündet sich die heftige Debatte: Kann Naturwissenschaftlern überhaupt zugetraut werden, sich auch zu diesen, eigentlich nur in der Erste-Person-Perspektive fassbaren Realitäten zu äußern? Die einen meinen, es sei möglich. Dies sind meist Naturforscher, die für die Einheit der Wissenschaft plädieren. Die anderen – meist Kulturforscher – behaupten, hier würden Kategorien-Fehler gemacht, und das Vorhaben einer Einheitswissenschaft sei prinzipiell nicht realisierbar.

– Und wo stehen Sie?

– Ich denke, dass hier nichts anderes vorliegt als in allen anderen Situationen, in denen man zwischen verschiedenen Beschreibungssystemen hin und her wechselt. Das ist uns doch geläufig, gerade innerhalb der Naturwissenschaften. Sehr oft sind Phänomene, die es zu erklären gilt, in anderen Beschreibungssystemen erfasst als die elementaren Prozesse, die den jeweiligen Phänomenen zugrunde liegen.

– Können Sie bitte ein Beispiel nennen?

– Die Verhaltensleistung eines höher organisierten Tieres wird in Begriffen beschrieben, die zunächst in der Neurobiologie nicht vorkommen. Wir sprechen beispielsweise von »Aufmerksamkeit«, wir sagen, ein Tier sei jetzt »aufmerksam«, oder das Tier lenkt seine »Aufmerksamkeit« auf einen bestimmten Reiz. Wir benutzen zur Definition einer kognitiven Leistung, deren neuronales Substrat wir erklären wollen, Begriffe, die wir Beschreibungssystemen entlehnen, die wir aus der Ersten-Person-Perspektive heraus entwickelt haben. In diesen Beschreibungssystemen...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Vorwort Wolf Singer
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Naturwissenschaften
Schlagworte Hirnforschung • Interview • singer • STW 1596 • STW1596 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1596 • Therapieformen • Wolf
ISBN-10 3-518-76899-9 / 3518768999
ISBN-13 978-3-518-76899-0 / 9783518768990
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