Ein Tag des Glücks (eBook)
352 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76662-0 (ISBN)
»Wenn Gott eine koschere Welt haben will, dann muss Er sie selber erschaffen.« - Eine Mutter überlegt, wie sie ihrer Tochter den Verlobten ausreden kann ... Ein Mann, der einem anderen dessen geliebte Frau ausgespannt hat, schlägt nun vor, mit ebendieser bei ihm einzuziehen - samt seiner eigenen Exfrau. Eine vertrackte Vierecksgeschichte nimmt ihren Lauf ...
In diesen und zwanzig weiteren tragikomischen wie federleichten Geschichten von der Liebe erzählt Isaac Bashevis Singer auf rasant hinreißende Weise von diesem schönsten aller Gefühle.
<p>Isaac Bashevis Singer wurde am 21. November 1902 in Polen geboren. In seinen Jugendjahren gab er den 14. Juli 1904 als offizielles Geburtsdatum an, eine vorsichtige Richtigstellung erfolgte im Alter. Singer wuchs in Warschau auf und emigrierte 1935 in die USA. Er lebte in New York und gehörte dort bald zum Redaktionsstab des <em>Jewish Daily Forward</em>. 1978 wurde ihm für sein Gesamtwerk der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er starb am 24. Juli 1991 in Miami.</p>
Ein Tag des Glücks
1
In allen drei Zimmern, nur nicht in der Küche, waren die Rouleaus heruntergezogen. Denn Mendel Bialer liebte die Sonne nicht. Jetzt, da er älter war, verbrachte er die meiste Zeit liegend. Was hatte er denn zu tun? Er bekam schon seine Pension. Und außerdem schmerzten ihn die Füße. Nachts warf er sich schlaflos im Bett herum, aber den ganzen Tag über döste er. Die Sommersonne war so glühend heiß, daß sie sogar durch die Rouleaus drang. Auf seiner Stirn landete eine Fliege. Er wischte sie fort, aber sie setzte sich gleich wieder auf seine rötliche Nase. Obwohl er halb schlief, machte er sich Sorgen. Die Pension, die er nach fünfunddreißig Jahren als Buchhalter in der Mühle bezog, war zu klein, um davon leben zu können. Er war die Miete schuldig. Außerdem hatte er ein unverheiratetes Mädchen im Haus, seine Tochter Feigele oder Fela, wie man sie in der Schule genannt hatte. Obwohl sie schon vierundzwanzig Jahre alt war, benahm sie sich noch wie ein Mädchen von sechzehn, las dumme Bücher und suchte sich keine Arbeit. Die Heiratsvermittler hatten versucht, einen Mann für sie zu finden, aber sie war wählerisch und benahm sich, als wäre sie die Tochter eines reichen Mannes und eine Schönheit dazu, während sie in Wirklichkeit keinen Groschen hatte und außerdem noch häßlich war. Mitten im Halbschlaf griff Mendel an seinen grauen Bart und runzelte die Stirn, als ob er fragen wollte: »Was soll werden? Worauf wartet sie?«
Mendels Frau Malka schälte in der Küche Kartoffeln. Das Wasser machte jedesmal ein Geräusch, wenn sie eine Kartoffel hineinwarf. Im Schlafzimmer schrieb Fela einen Brief. Am Morgen hatte sie ein goldgerändertes Blatt Papier gekauft, einen Umschlag und eine neue Stahlfeder mit einer feinen Spitze, die nicht klecksen würde. Seit Wochen hatte sie sich Tag und Nacht den Inhalt des Briefes ausgedacht. Sie wußte jeden Satz auswendig. So lautete der Brief:
»Hochverehrter und geliebter General,
von Gott inspirierter Dichter:
Was ich jetzt tue, ist verrückt oder noch etwas Schlimmeres, aber ich kann mir nicht helfen. Eine stärkere Macht als ich treibt mich dazu, Ihnen zu schreiben. Ich bin fast sicher, daß Sie mir nicht antworten werden. Ich bin nicht einmal sicher, daß Sie meinen Brief lesen werden, denn ich weiß, daß Eure Exzellenz hundert oder tausend solcher Briefe von verlorenen Seelen (haha!) empfängt. Ich möchte Ihnen gleich sagen, daß ich ein jüdisches Mädchen bin, arm und nicht schön (ich lege mein Bild bei). Aber ich liebe Sie mit brennender Liebe, die ich selbst nicht verstehe. Ich bin buchstäblich verzehrt von dieser tragischen – Sie werden sie vielleicht komisch nennen – Liebe. Ich denke die ganze Zeit an Sie, und nachts träume ich nur von Ihnen. Ich könnte Ihnen erzählen, wie dies alles begonnen hat, aber ich habe Angst, Sie ungeduldig zu machen. Ich schneide alle Bilder von Ihnen aus Zeitungen und Magazinen aus. Ich habe sogar Ihretwegen, mein Geliebter – gestohlen, indem ich im Café die Seiten eines Magazins herausriß. Sie sind mein ganzes Leben. Ich kann all Ihre herrlichen Gedichte auswendig. Ich lese immer wieder Ihre Bücher, besonders die über Ihre Tapferkeit an der Front. Ich lebe nur für Sie: um Ihre metallische Stimme am Radio zu hören; Sie während der Paraden zu beobachten.
Einmal, im Café Rzymianska, haben Sie mich angesehen. Das Glücksgefühl, das mir dieser Blick gab, die Inspiration, die mein ganzes Wesen durchdrang, kann keine Feder beschreiben – nur jemand mit Ihrem Talent könnte das tun. Mir ist klar, daß mein Brief schon zu lang ist und daß ich endlich zur Sache kommen muß. Ich weiß, Sie sind nicht nur ein Nationalheld und ein großer Dichter, Sie sind auch ein Mann, der ein Herz hat für die, die Ihre Talente bewundern. Ich bitte Sie daher demütig, mir eine halbe Stunde Ihrer Zeit zu gewähren. Wenn Sie mir das Privileg, einige Minuten mit Ihnen verbringen zu dürfen, bewilligen, so wäre das mein heimlicher Schatz, den ich bis zu meinem letzten Atemzug bewahren und hüten werde. Leider haben meine Eltern kein Telefon, so kann ich Ihnen nur meine Adresse geben. Ich bin gewöhnlich den ganzen Tag zu Hause. Während ich diesen Brief schreibe, bin ich mir bewußt, wie gering meine Chancen sind, wie närrisch ich bin und vielleicht auch egoistisch. Adieu, mein großer Held, Dichter und König meiner Seele.
Mit einer Liebe, die nie sterben wird,
Fela Bialer
P. S. Meine Eltern sind altmodisch und dürfen von der Verrücktheit ihrer Tochter nichts wissen.«
Als das letzte Wort geschrieben war, seufzte Fela. Die ganze Zeit, während der sie schrieb, hatte sie gezittert, einen Fleck auf das Papier zu machen. In der Schule hatte sie eine gute Handschrift gehabt, aber seitdem war sie schlechter geworden: Sie schrieb zu groß, die Linien waren krumm. Sie war in der Schule auch gut im Aufsatz und in der Orthographie gewesen, aber jetzt machte sie oft dumme Fehler. Das kam alles von ihren Nerven. Sie hatte nie ihren Schulabschluß gemacht, da sie an der Mathematik gescheitert war. Zuerst hatte sie nach einer Arbeit gesucht, möglichst in einem Büro, hatte aber keine gefunden. Schließlich hatte sie als Verkäuferin in einem Spielwarengeschäft angefangen, wurde aber schon am ersten Tag entlassen, da sie das Geld nicht richtig herausgegeben hatte. Ihre Mutter nörgelte dauernd an ihr herum, und ihr Vater nannte sie seine »verrückte Prinzessin«. Fela war klein und dunkel, mit breiten Hüften, krummen Beinen, einer Hakennase und großen, hervortretenden schwarzen Augen. In ihrem Tagebuch verglich sie sich selbst mit einer überreifen Frucht. Sie hatte einen Hängebusen, und ihre Arme waren fleischig und wabbelig. Andere Mädchen würden versucht haben, Gewicht zu verlieren, aber in Felas Elternhaus gab es zuviel stärkehaltiges Essen – Kartoffeln, Klöße und Kascha. Außerdem hatte sie ein unbezwingliches Verlangen nach Schokolade. Zudem war sie immer hungrig, als ob sie einen Bandwurm hätte. Wenn sie manchmal des Nachts wach lag, konnte sie ihren Körper anschwellen fühlen, als sei er Teig. Ihre Haut glühte, ihre Brüste strafften sich, als seien sie mit Milch gefüllt. Und obwohl Fela Jungfrau war, fürchtete sie manchmal, sie könne plötzlich gebären. Sie fühlte Flüssigkeiten durch ihren Körper zirkulieren, wie die Säfte einer Pflanze vor dem Aufblühen. Ihr Atem wurde heiß, in ihrem Inneren zog und drückte es sie, und in der Nacht mußte sie dauernd auf die Toilette. Kürzlich hatte sie angefangen, an starkem Durst zu leiden. Ihre Mutter rief oft aus: »Was ist mit diesem Mädchen los? In ihrem Inneren brennt ein Feuer, Gott bewahre!«
Felas Liebe zu Adam Pacholski hatte sie verwirrt. Sie sah alles um sich herum durch einen Nebel. Sie konnte nicht durch das Zimmer gehen, ohne über Stühle, den Tisch und die Kommode zu stolpern. Wenn ihre Mutter ihr ein Glas Tee reichte, so ließ sie es fallen. Sie konnte den Milchtopf nicht auf den Herd stellen, ohne ihn zu vergessen und die Milch anbrennen zu lassen. Keines ihrer Kleider paßte ihr mehr. Ihr Hüftgürtel schnitt in ihr Fleisch. Die Schuhe drückten. Und wie häufig sie auch ihr Haar wusch und kämmte, es sah immer klebrig und unordentlich aus. Ihre Periode war unregelmäßig, manchmal zu spät, manchmal zu früh, und von einer Stärke, die sie erschreckte. Diesen Brief ohne einen Klecks oder Fehler zu schreiben war eine Anstrengung gewesen, die fast ihre Kräfte überstieg. Gott sei Dank war es gutgegangen! Hier und da hatte sie sogar einen Schnörkel zustande gebracht.
Fela las den Brief durch, dann ein zweites und drittes Mal. Nach langem Zögern faltete sie ihn, schob ihn in den Umschlag, schrieb die Adresse, klebte eine Marke darauf und schloß ihn. Ihre Hände flatterten, ihre Knie zitterten. Sie hörte ihren raschen Atem. Im Wohnzimmer war ihr Vater eingeschlafen. Fela wollte das Zimmer unhörbar durchqueren, auf Zehenspitzen, aber die Tür hinter ihr quietschte und ihre Absätze lärmten widerspenstig auf dem Boden. Ihr Vater schreckte auf.
»Warum machst du solchen Lärm, du wildes...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2020 |
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Übersetzer | Ellen Otten |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Image and other Stories |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Glück • Leidenschaft • Liebe • Liebesgeschichten • Manhatten • Nobelpreis für Literatur 1978 • Schicksal • Schtetl • ST 5113 • ST5113 • suhrkamp taschenbuch 5113 • The Image and other Stories deutsch • Warschau |
ISBN-10 | 3-518-76662-7 / 3518766627 |
ISBN-13 | 978-3-518-76662-0 / 9783518766620 |
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