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Die Erfindung des Ungehorsams (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31095-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
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Hitze, Regen, beißender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf. Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort - nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis. Sie lebt in der Schweiz.

Martina Clavadetscher, geboren 1979, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach ihrem Studium der Deutschen Literatur, Linguistik und Philosophie arbeitete sie für diverse deutschsprachige Theater, gewann den Essener Autorenpreis und war für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren Roman Die Erfindung des Ungehorsams erhielt sie 2021 den Schweizer Buchpreis. Sie lebt in der Schweiz.

Alles andere wird zur Nebensache.

Iris flüstert in die Stille.

Nur der Klang der Eiswürfel begleitet ihre Erzählung.

Daran erkennt man den Kern einer Sache,

fährt Iris fort.

Und ich bin mir sicher, auch für Ada rückte damals alles sofort in den Hintergrund: Babbages Soiree, die Herren der Royal Society, das Raunen im geschmückten Saal, die Hitze der Hauptstadt, sogar die Karusselle oder die emsigen Schausteller, die sie an jenem Nachmittag unten an der Themse gesehen hatte;

all die Marktfahrer, die in Stoffzelten oder auf kleinen Podesten schauerhafte Experimente und exotische Entdeckungen präsentierten, nein, Ada wusste sofort, das hier war tausendmal besser, tausendmal interessanter als der bleiche Kraken im Salzwassertank, die Krokodile mit den zusammengebundenen Mäulern, Giftschlangen in Bastkörben, Kartenspieler, Feuerspucker, die unförmigen, kahlen Köpfe von Gewichthebern, bärtige Weiber oder dieser bucklige Junge, der Hand in Hand mit einem Totenkopfäffchen durchs Publikum streifte, um Münzen einzusammeln.

Irisʼ Blick gleitet langsam über die Tafel vor ihr.

Wie eine gedeckte Welt liegt sie da – das gebleichte Tischtuch, die Vase mit den Pfingstrosen, die leeren Schüsseln, vier Teller, zwei Kerzen – eine schattige Welt; wenigstens das Licht der Flammen züngelt auf den Gesichtern der Zuhörer. Wollstone und Godwin warten, wie es weitergeht. Ihre Wangen glühen, ihre Lippen lauern auf eine Zwischenfrage.

Allein Eric sitzt mit verschränkten Armen da.

Iris holt Luft. Ihre Aufregung ist hörbar. Sie ist ganz in ihrem Element.

Als Ada sah, wie die kleinen Zahnräder der Differenzmaschine ineinandergriffen, wie es klickte, sich drehte und wie alles plötzlich einen glasklaren Sinn ergab, da wusste sie es, in diesem Moment, mitten im Saal, mitten in der Hauptstadt und mitten im Viktorianischen Zeitalter: Das war ein Juwel, das war der Kern.

Und in diesem Moment entschied sich die Mathematikerin Ada Augusta Lovelace für den Irrsinn ihrer Vision.

Hier endet Iris, und eine Stille beginnt.

Godwin und Wollstone tauschen Blicke aus, auf die Iris sofort reagiert.

Gut, ich behaupte, das war der Kern, weil ich es weiß,

ergänzt Iris mit einem Lächeln und knüpft umgehend einen neuen Gedanken daran.

Das oder der Webstuhl, Jacquards Webstuhl mit den Lochkarten, um genauer zu sein,

erzählt sie in wachsendem Wahn.

Doch Eric interveniert.

Ich denke das reicht jetzt, Iris, es ist schon spät geworden.

Godwin und Wollstone reagieren enttäuscht.

Der Zauber des Abends verfliegt,

die Welt fällt abrupt zurück ins Jetzt,

draußen heult der Alarm eines Autos.

Ja, meine Damen,

sagt Eric mit einem Lächeln,

die Show ist leider vorbei, für heute zumindest.

Godwin und Wollstone kommen erst um halb sieben,

weiß Iris. Sie kommen immer um halb sieben. Auch heute. Doch die Ungeduld dehnt den neuen Tag,

denn Iris ahnt:

Ich war beim letzten Mal so nah dran, aber heute Abend, heute werde ich es schaffen, heute werde ich bis zum Kern erzählen.

Sie sitzt auf dem Sofa; seit Stunden oder erst seit Kurzem, sie kann nicht sagen, wie lange sie hier schon wartet.

Ich könnte vor Langeweile gestorben sein,

fantasiert Iris und schließt die Augen.

Die Dunkelheit hinter ihren Lidern imitiert den Sternenhimmel, das Schwarz wirkt still, während die Stadtwohnung ihre gewohnten Geräusche erzeugt: Der Kompressor des Kühlschranks, die integrierte Eismaschine, die Lüftung in den Badezimmern, das Klicken der Stehlampe, das Säuseln des Luftbefeuchters und von draußen das Surren der elektrischen Gartenschere, mit der sie an den Hauseingängen allerlei Gewächse wie Bärenklau, Bitteresche, tropischer Flieder, überhaupt jedes Wuchern von Neophyten zurückschneiden. Und sind es nicht die Hausmeister, die mit ihrem Getue jede Stille füllen, ist es das ferne Rauschen der Fünften Straße, wo Taxis unentwegt Menschen von Ort zu Ort fahren, wo Lieferdienste Kisten und Pakete aus aller Welt holen und bringen und wo sich alles und jeder darum bemüht, dass diese Stadt nie zur Ruhe kommt.

Ein Streif Sonnenlicht schlüpft schief durchs Fenster.

Der Frühling taucht dieses Jahr tatsächlich früh auf,

denkt Iris und mag diesen Gedanken, mag es überhaupt, wenn die Begriffe eine Silbe Realität in sich tragen.

Es war damals ein ungewöhnlich

heißer Frühling,

als du zu uns in die Welt gebracht wurdest,

und wir nannten dich Iris, wie die Blume.

Das hatten ihre Schwestern jedes Jahr im April wiederholt, wobei sie

Wie die Blume!

gemeinsam ergänzten, als sei ihre Bemerkung ein eingespielter Akt.

Iris lächelt. Die Erinnerungen verursachen gute Gefühle,

Dieses Jahr werde ich ihnen über einen Lieferdienst Blumen schicken lassen,

entscheidet sie und denkt dabei an den Blumenhändler an der Ecke, denkt an die leuchtenden Blütenköpfe in seinem Schaufenster, an die Scheiben, die an den Rändern manchmal beschlagen und kleine Rinnsale bilden.

Der Tagesplan drängt, er meldet sich wie ein Alarm. Iris muss aufstehen, doch diesmal ist ihr Wille stärker, sie zögert, ein, zwei Sekunden, sie zögert weiter, drei, vier Sekunden, doch da ist dieser Geruch, der aus der Küche kommt. Sie steht auf.

Der Geruch hat ein Geräusch.

Der Klang der Verwesung ist wie das Summen von Fliegen.

Iris sieht die Marille auf den ersten Blick, sie muss aus der Keramikschale und hinter die Ablage gerollt sein, wo sie seither liegt und verendet.

Etwas Braunes, fast Schwarzes überzieht die Frucht, Insekten krabbeln über die eingefallene Haut, kriechen in Löcher, beißen am Gewebe.

Ein Flaum umgibt die tote Kugel, ein weißer Schein aus Schimmel.

Wie Wolkenhaar, luftiger Pelz,

denkt Iris und pustet dem Fundstück entgegen.

Die Härchen zucken.

Eine zarte Aura ziert das Verdorbene.

Iris lässt die Schönheit liegen.

Stattdessen betrachtet sie ihre Hände.

Haben sie sich verändert? Die Farbe?

Sind da Flecken auf der Felderhaut?

Sie lässt Wasser über die Handrücken laufen, sucht gezielt nach Veränderungen, nach Rissen, Dellen, Narben, findet keine, sucht weiter, reibt, dreht, drückt, findet keine, wünscht sich welche, sucht weiter.

Bis das Türschloss klickt.

Iris?

Die Frage trifft sie. Iris reagiert.

In der Küche!

ruft sie mit verstellter Stimme, ihr Ton steigt an, das passiert jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, überhaupt jedes Mal, wenn sie ihm antwortet.

Der Schlüsselbund klackt auf der Holzablage.

Godwin und Wollstone kommen um halb sieben,

sagt Eric, streift den Mundschutz ab und stellt die Papiertüte auf den Marmor in der Küche. Lauchblätter ragen heraus, zwei Hälse von Weinflaschen, darunter Konservendosen, Kokosmilch, ein Glas mit eingelegten Oliven.

Ich weiß,

sagt Iris und:

Danke, das ist lieb von dir.

Sie staunt über ihre Freundlichkeit, die wie ein Kontrollverlust geschieht.

Die Hitze ist furchtbar heute,

sagt Eric.

Über vierzig Grad Celsius. Sei froh, dass du nicht nach draußen musst.

Alles in Ordnung?

Er studiert ihr Gesicht. Sie nickt.

Alles wie immer,

lügt Iris und denkt sofort an den bevorstehenden Abend, der diesmal anders werden soll, denkt nochmals an Ada, an die royalen Wandermenagerien und Tierbuden an der Themse, denkt an die zylinderförmige Rechenmaschine, die exakt tut, was sie tun soll, und sie denkt plötzlich auch an die Sache mit East Farmingdale, an den Freizeitpark dort und an Erics Versprechen, denkt an ihre Schwestern, an all die Frauen da draußen, die wie tickende Zeitbomben irgendwo ihr Leben leben, denkt dann an Godwin und Wollstone, die um halb sieben kommen, um Geschichten zu erzählen, aber vor allem um Geschichten zu hören, und denkt deshalb bereits an ihre nächste Geschichte, die beste, die einzig richtige, denkt dann an ihre Garderobe, überlegt, welches Kleid sie heute tragen soll, an diesem wohl einzigartigen Abend, denkt dann an die Sache mit dem Schrank, dieser elende Schrank, kommt mit dem Denken nicht weiter und versucht gleichzeitig, auch noch an alles andere zu denken, das sie ständig wieder zu vergessen scheint.

Eric tritt näher und fährt ihr über die Schulter, streicht ihr über den Hinterkopf. Wärme entsteht. Er nennt es Trost. Und die Sache wird tatsächlich einfacher, das Denken wird unkomplizierter.

Was soll ich kochen?

fragt Iris mit einem Flüstern.

Godwin mag kein Fleisch, oder?

Eric steht jetzt neben ihr und nickt.

Iris blickt auf die Küchenablage, vergleicht ihre Hände mit seinen Händen, wie sie da liegen auf dem milchweißen Marmor,...

Erscheint lt. Verlag 3.2.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ada Lovelace • Algorhythmus • China • England • Feminismus • Frau • Gewinner • Gewinnerin Schweizer Buchpreis 2021 • Herkunft • Körper • Künstliche Intelligenz • Mathematik • Schweiz • Schweizer Buchpreis 2021 • Sexpuppen • Sexroboter • Sexualität
ISBN-10 3-293-31095-8 / 3293310958
ISBN-13 978-3-293-31095-7 / 9783293310957
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