Politische Männlichkeit (eBook)

Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76737-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Politische Männlichkeit -  Susanne Kaiser
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»Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken«, appelliert Björn Höcke an den deutschen Mann. Mit dieser Forderung ist der AfD-Politiker nicht allein: Von Neuseeland bis Kanada, von Brasilien bis Polen vernetzen sich Rechtspopulisten, sogenannte »Incels«, aber auch christliche Abtreibungsgegner unter dem Banner der Männlichkeit, um Frauen auf einen nachrangigen Platz in einer angeblich natürlichen Hierarchie zurückzuverweisen.

Susanne Kaiser bietet einen kompakten Überblick über die Geschichte und das Programm dieser Bewegung. Sie wertet Diskussionen in der »Mannosphäre« aus, zeigt internationale Verbindungen auf und fragt, warum rechte Mobilisierung überall auf der Welt gerade über die Themen Gender Studies, LGBT-Rechte und Geschlechterrollen funktioniert.



<p>Susanne Kaiser, geboren 1980, ist Journalistin und politische Beraterin. Sie schreibt unter anderem f&uuml;r <em>Die Zeit</em>, die <em>Neue Z&uuml;rcher Zeitung</em> und <em>DER SPIEGEL</em>.</p>

1. Die Incel-Bewegung


Als Stephan Balliet an Jom Kippur aufbricht, um in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anzurichten, weiß er noch nicht, dass er den »Highscore« an diesem Tag nicht knacken wird. Er wird nicht »so viele Juden oder wenigstens Muslime wie möglich« umbringen, im Ranking »First Person Shooter/Single Player« des Portals »Encyclopedia Dramatica« wird er nicht zu seinen Idolen Anders Behring Breivik auf Platz eins oder Brenton Tarrant auf Platz vier herankommen. Breivik hatte 2011 bei einem Bombenanschlag in Oslo und mit Schusswaffen in einem Zeltlager auf der Ferieninsel Utøya ein Massaker mit insgesamt 77 Toten verübt, die meisten von ihnen Jugendliche. Tarrant hatte 2019 bei seinem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch 51 Musliminnen und Muslime umgebracht. Stephan Balliet wird kein gefeierter Star der globalen Amokläuferszene werden, wie er es sich wohl erhofft hatte, denn er tötet bloß zwei Menschen. Für Platz 50 des Hassrankings hätte er 14 Todesopfer gebraucht.

Stephan B., wie ihn die Presse später nennt, wird sehr schnell klar, dass er scheitern wird: »Ich bin ein complete loser«, sagt er in sächsischem Englisch in die Kamera, die seinen Terror-Livestream sendet. Die »guys« im Internet beeindruckt er nicht sonderlich, bloß fünf schauen ihm während der Tat zu. Ein bisschen zirkuliert der Stream anschließend in den Hassforen der Szene, und Balliet erntet Punkte für seinen Score, weil der Livestream funktioniert.17 Punktabzug hingegen gibt es für alles, was schiefläuft, und das ist eine ganze Menge: Die Tür der Synagoge lässt sich nicht öffnen, er schießt den Reifen seines eigenen Tatfahrzeugs platt, die selbst gebauten Schusswaffen und Sprengsätze funktionieren nur selten, seine Shotgun aus dem 3-D-Drucker hat Ladehemmungen und fällt beim Nachladen auseinander.

Immerhin bekommt Balliet für den Anschlag sehr viel Aufmerksamkeit von der deutschen und internationalen Presse, die ausführlich über seinen Antisemitismus, die Gamer-Szene, Neonazi-Gruppierungen in Sachsen-Anhalt und Onlineradikalisierung berichtet. Was hingegen kaum Beachtung findet, ist ein Thema, das sich dominant durch die Geschichte von Stephan Balliet und von anderen Amokläufern vor ihm zieht: das Thema Männlichkeit. Dabei spielt Männlichkeit, vor allem die soldatische, eine ganz entscheidende Rolle bei den westlichen Amokattentätern der letzten zehn Jahre.

Schon in Stephan Balliets Eingangsstatement zu seinem Livestream ist das Thema prominent: »Hi, mein Name ist Anon und ich glaube, dass der Holocaust niemals stattgefunden hat. Der Feminismus ist der Grund für die sinkenden Geburtenraten im Westen, die das Einfallstor für Massenmigration sind. Und die Wurzel all diesen Übels ist der Jude.« Mit dem selbst gewählten Namen stellt Balliet seine Tat gleich zu Beginn in den Dienst der Internetkultur. In Foren nennen sich Verfasser, die ihre Identität nicht preisgeben wollen, einfach »Anon« als Kurzform für »anonymous«. In den Auseinandersetzungen mit Balliets Ideologie geht der mittlere Teil fast immer verloren: dass der Feminismus schuld daran sei, dass die Geburtenraten im Westen sinken, was die Ursache für Massenimmigration sei. »Ausländer« wiederum seien schuld daran, dass Männer wie er keine Frauen abbekämen, wird er bei seiner Vernehmung zwei Wochen später vor dem Haftrichter in Karlsruhe erklären. Er habe noch nie eine Freundin gehabt und sei ein unzufriedener weißer Mann. Tatsächlich wohnte er mit siebenundzwanzig Jahren noch bei seiner Mutter, in einem winzigen Zimmer, aus dem er nur selten herauskam, so berichten es die Eltern nach der Tat den Behörden.

Die krisenhafte Auseinandersetzung mit Männlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Video des Livestreams hindurch. Balliet spricht nicht mit sicherer, tiefer, sondern mit ungeduldiger, hoher Stimme. Dabei macht er sich unentwegt selbst schlecht, aus fast jedem Satz spricht Selbsthass. Noch bevor etwas nicht funktioniert, nimmt er sein Scheitern schon vorweg: »Das ist doch falsch. Meine Fresse, Mann, lad! Ach, scheiß drauf, machen wir das Nächste«, ist das Erste, was man von ihm hört, noch bevor er überhaupt die Kamera richtig platziert hat. Er wird dies dauernd wiederholen: »Klappt nicht, scheiß drauf«.

Das Selbstbild von Stephan Balliet ist das eines Versagers, der sich daran gewöhnt hat, dass die Dinge nicht so laufen, wie er es gerne hätte. Es muss sich gut anfühlen, aus dieser Lage heraus als Elitesoldat in militärischer Kleidung aufzutreten, als Kämpfer für eine geheime Organisation, die global vernetzt ist. »Nobody expects the Internet-SS«, spricht der Attentäter auf dem Weg zur Synagoge in die Kamera und kichert. Als er die Synagoge stürmen will, offenbart sich jedoch das Planungsdesaster: Alle Eingänge, die ins Innere führen, sind verschlossen. Die selbst gebauten Sprengsätze können den Holztüren nichts anhaben. In rechtsradikalen Kreisen wird er dafür viel Häme ernten. Balliet läuft planlos hin und her, scheint nicht weiterzuwissen. Das ist die Situation, in der unvermittelt eine Frau die Straße entlangläuft, stämmig, kurzhaarig, mit selbstbewusstem Schritt: »Muss das sein, wenn ich hier langgehe – Mann ey!«, schnauzt sie ihn schroff an, als würde es sich bei Balliets Anschlag um einen müßigen Karnevalsscherz handeln. Der Attentäter scheint nicht zu wissen, wie er reagieren soll. Bis er sich wieder gefangen und die Shotgun in Anschlag gebracht hat, ist sie an ihm vorüber. Deshalb schießt er ihr in den Rücken. Sie geht sofort zu Boden. Ohne ihr weiter Beachtung zu schenken, kehrt Balliet wortlos zurück zur Tür, doch sie lässt sich immer noch nicht öffnen. Verärgert läuft Balliet zurück zu der Frau, die bäuchlings auf dem Boden liegt, und feuert ihr eine Salve in den Rücken. Sein einziger Triumph ist dieser Moment. »Das Schwein«, beschimpft er die Tote. Diese Sekunden sind eine Schlüsselszene im Tatvideo. Denn der Mord an der Frau hat eine sichtbare Ermächtigung von Stephan Balliet zur Folge, zumindest vorübergehend, die einzige im gesamten Stream. »Töten ist nicht kompliziert«, gibt er sich skrupellos. Kurze Zeit später wird er einen Passanten, der bei der toten Frau steht und etwas murmelt, mit fester Stimme und in autoritärem Ton ansprechen: »Wie bitte?«, als ob er sagen wollte: »Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie es hier zu tun haben?« Doch dann hat seine Shotgun erneut Ladehemmungen, und es will ihm nicht gelingen, auch den Mann zu erschießen, der langsam und ungläubig rückwärts zurück zu seinem Wagen stolpert. Die soldatische Autorität Balliets, die er über das Töten erlangt hat, ist dahin. Vielleicht beschimpft er die Frau aus diesem Grund noch einmal mit »das Schwein«, als er in sein Auto steigt. Dann sackt er endgültig zurück in die Versagerhaltung: »Was willst du erwarten von einer Niete?«, »unfähiger Versager«, »one time loser, always a loser«, sind die Sätze, die er wie ein Mantra zu sich selbst spricht.

Diese Sätze sind wichtig, denn sie sind Ausdruck einer Haltung, die Balliet mit anderen Männern verbindet: mit den sogenannten Incels – unfreiwillig enthaltsam lebenden Männern, die einer radikalen misogynen Weltanschauung anhängen.18 Zum Incel, wie sich der Begriff bis heute entwickelt hat, wird man nicht, weil man noch nie eine Beziehung oder Sex hatte, sondern, weil man Frauen und die Gesellschaft dafür verantwortlich macht, dass es so ist. Vor allem in den USA und in Kanada, aber auch in anderen westlichen Ländern organisieren sich Männer in Internetforen, um Gewaltfantasien gegen Frauen auszutauschen und sie in manchen Fällen auch in die Tat umzusetzen. Aufgrund weiblicher Zurückweisung frustrierte Männer haben aus ihrem Frauenhass eine umfassende Ideologie geschmiedet. Sie sind weltweit vernetzt, besonders in rechtsextreme und rechtsterroristische Kreise hinein, so wie Balliet.

Die Ideologie geht so weit, dass sie Pläne zu einem »Incel-Aufstand« gegen das System beinhaltet. Mit Attentaten sollen möglichst viele Frauen und sexuell aktive Menschen getroffen werden. Anschließend übernehmen Incels die Macht und unterwerfen all diejenigen, die normale...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • AfD • Andrew Tate • Angry White Men • Annika Brockschmidt • Bjön Höcke • Christchurch • Correctiv • edition suhrkamp 2765 • Elon Musk • Emilia Roig • ES 2765 • ES2765 • Feminismus • Gender • Hanau • Incel • Joe Rogan • Luis Rubiales • Mannosphäre • Oberster Gerichtshof • Polen • proud boys • Putin • Qanon • Rammstein • Rechtsextremismus • reddit • red pill • Roe v. Wade • Till Lindemann • Tobias Ginsburg • Winnetou
ISBN-10 3-518-76737-2 / 3518767372
ISBN-13 978-3-518-76737-5 / 9783518767375
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