Ins Innere hinaus (eBook)

Von den Engeln und Mächten
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75343-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ins Innere hinaus -  Christian Lehnert
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Eine »Geschichte der unsichtbaren Welt in einzelnen Blättern«, nichts Geringeres schwebt dem Dichter und Theologen Christian Lehnert in diesem Buch vor. Ausgangspunkte seiner Gedanken sind Naturgeister und niedere Gottheiten, dualistische Vorstellungen von Engeln und Dämonen, himmlische Hierarchiebildungen, Grenzüberschreitungen zwischen Diesseits und Jenseits mit geheimnisvoller geistiger Schmuggelware im Gepäck. Gnosis, Kabbala und Visionen kommen ebenso vor wie moderne Psychotechniken. Von der sogenannten ?faktischen? Seite der Wirklichkeit her aber treten Analogien des Geistersehens im philosophischen Denken und in den Naturwissenschaften ins Bild. Zugrunde liegt die Frage: Wie kann das Numinose heute, in einer postsäkularen Welt, zu einer progressiven Kraft werden, welche die vorherrschenden, scheinbar festgefügten Weltbilder unterwandert und verflüssigt? Den kleinen Rissen in den festen Straten religiöser oder wissenschaftlicher, liberaler oder säkularer Weltanschauungen folgt Lehnert, sucht jene Risse, wo der Zweifel eindringt, wo die vergessenen Axiome der ?Exaktheit? und die Brüchigkeit ihrer Anschauungen aufleuchten.

Wie stellt man derartiges dar? Begriffliches Denken, poetisches Bild und Erzählung, Autobiographisches und Spekulation schwingen in den einzelnen Texten ineinander, erhellen sich gegenseitig. Eine bewegliche Form des Schreibens stellt sich ein: ein suchendes Sprechen, das sich ins Unsagbare vortastet. So versammeln sich - immer vom Ausgangs- und Bezugspunkt des eigenen Lebens aus und ohne Fiktion - Bruchstücke eines Bekenntnisses als »Blätter« sehr unterschiedlicher Tonlagen. Sie behalten als Ganzes die Gestalt einer Frage.



<p>Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universit&auml;t Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtb&uuml;cher und Prosab&auml;nde, f&uuml;r die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis f&uuml;r Nature Writing (2018).</p>

Ein Gespenst geht um


Es ist, als hätten wir heute eine ungeheure Freiheit gewonnen und die Gestalt des Lebens sei mehr als je zuvor Ausdruck unserer eigenen Entfaltung aus dem heraus, was wir wollen. Wir hätten unerschöpfliche Möglichkeiten und könnten denken und handeln in einer Autonomie wie noch nie in der Menschheitsgeschichte – keiner sei festgelegt auf den, der er ist. Keine Glaubensgemeinschaft, keine Herkunft, keine Kultur und sogar immer weniger unsere Biologie könnten letztlich über uns bestimmen. Leicht nur den Kopf gewendet, wird sichtbar, wie wir von all dem, was wir aus eigenem Entschluß ergreifen, gegriffen werden. Wir sind bestimmt von unseren Wünschen und wissen selten sicher, welche wirklich unsere eigenen sind. Das »Eigene«, gar das »Eigentum« treten uns oft als fremde Mächte gegenüber, ganz zu schweigen von den entwickelten Techniken der Manipulation.

Vielleicht geschieht wirklich nichts Neues unter der Sonne der Neuzeit. Kurz die Folie marxistischer Begriffe – wie ich sie noch aus der Schule kenne – über die Gegenwart gelegt, erscheinen die Freien vor ihren Bildschirmen und Smartphones, in Kneipen und Galerien, in Flugzeugen und Büros dem früheren »Proletariat« zum Verwechseln ähnlich. Sie sind »Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert«, sie müssen »sich stückweis verkaufen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel«. So konstatierte es das »Manifest der Kommunistischen Partei« von 1848, und das ließe sich in minimaler zeitgenössischer Variation so wiederholen: Die stückweisen Freien sind eine Spekulationsmasse im Informationskapitalismus. Sie gleichen einem Warenstrom oder einer Geldanlage. Man könnte sagen: Eine ökonomische Geistkraft, die wachsen will, eingebettet in digitale Technik, die immer mehr Lebensbereiche erfaßt und vernetzt, gestaltet die Welt um, indem sie auch das Innere des Menschen erobert. Sie macht ihn zum Kunden und Käufer und zum »freien Kreativen« und rechnet immer verläßlicher mit dem, was er erstrebt und ersehnt. Der beschleunigte Ressourcenverbrauch greift nun, nach der Natur und den Beständen kultureller Erinnerungen, auch das Meer des Unbewußten an.

Stimmt das? Was verbirgt die Folie? In Netzwerken entstehen fortwährend Strukturen, die Verwertungen selbst wieder unterwandern. Mir scheint aber, als seien der soziale Umgang und auch das Gefühl, gar die religiöse Sehnsucht oder die erotische Anziehung heute stärker denn je von der Zweckrationalität ökonomischer Beziehungen durchdrungen. Häufiger sehe ich ein Prinzip aktiviert, das der liberalen Ökonomie als Grundsatz galt: Niemandem wird mehr das Recht zuerkannt, sich anders zu verhalten, als es dem eigenen Vorteil dient. Das ist der kategorische Imperativ einer ökonomisierten westlichen Gesellschaft. Die Selbstsorge gerät zur Kardinaltugend, zur Bedingung des guten Lebens. Wo dieser Grundwert greift, werden Algorithmen leichter effektiv. Suchmaschinen können uns einfacher durchschauen und berechnend vorausgreifen auf das, was wir wollen. Sie vermögen es auch immer geschickter, uns abzukapseln, daß wir nicht mehr mit denen kommunizieren müssen, die anders denken als wir. Wo Informationen in automatisierten Systemen verwaltet werden, ist es einfach, die Existenz von Störendem zu entwerten. Einsam kreist dann der freie Mensch um seine eigenen Spiegelbilder.

Eines der subversiven Gespenster, die noch umgehen in Europa, ist neben der Kunst, die verstört und Wahrnehmungsräume weitet und andere Welten entwirft, die Religion. Sie klagt das »ganz Andere« ein und fragt nach uns im Sinne einer existentiellen Nacktheit, von unseren Grenzen her, von Tod und Geburt. Sie mißtraut uns, nennt uns altertümlich »Sünder«, Unfreie unserer selbst, sie nimmt uns alle Gewißheit über uns und das, was wir wirklich wollen, sie macht uns bettelarm. Bloß stehen wir da und haben die eine wirkliche Wahl: uns dem Ungestalten, dem radikal Fremden zu öffnen, das mit dem Wort »Gott« angedeutet ist, oder uns selbst zu folgen, ausgesetzt den Eingriffen von Mimikry-Maschinen in unsere Seele. (Natürlich gilt dies nur, wo die Religion nicht selbst marktförmig wird und strategisch um Öffentlichkeitsanteile und Mitglieder kämpft oder sich ideologisch verfestigt zur puren Selbstvergewisserung privaten Lebens, als »Opium des Volkes«.)

Das Ungeformte, das tiefer liegt als alle Strukturen und Automatismen, als alle Autonomie und als jede Vorstellung von uns selbst, das Unmögliche am Grund des Möglichen, der tiefe Raum des Unbestimmten, wie ihn bildhaft die Engel verkörperten und aus dem heraus die Wirklichkeit zu einem göttlichen Atemzug wurde, mag uns den offenen Horizont wiederbringen. Nur erwarte niemand davon einen Glücksgewinn, auch keine Daseinserleichterung. Wer etwas will, hat hier schon verloren: »Gieß aus, damit du erfüllt werden kannst.« (Augustinus)

Ein Schlag aus dem Dunkel


»Schreiben Sie davon«, hat er zu mir gesagt, »Sie dürfen, ja Sie müssen davon schreiben, wenn es um Engel geht. Nehmen Sie mich als unverfänglichen Zeugen. Engel – und eine solche Kraft war es wohl, die uns in etwas trieb, was uns erst eigentlich einander hat erkennen lassen – sind gar nicht angenehm, aber sie sind ehrlich.«

Jahre liegt zurück, was er meinte. Damals hatte er vor mir im Pfarrhaus gesessen, ein hochgewachsener, hagerer Mann. Wir hatten das Zimmer zum Garten aufgesucht, wo wir ungestört waren, spät in der Abenddämmerung, und ich hatte kein Licht angemacht. In einer kleinen Pfütze vor dem Fenster schimmerte eine Spiegelung des gelblichen Himmels, die sich wiederum spiegelte in der Tischplatte vor uns und wiederum in seinen und vermutlich auch in meinen Augen. Das war das einzige Helle im Raum.

»Ein Schlag …«, sagte er, flüsterte er immer wieder. Freilich wußte er nicht, ob er von außen oder von innen geführt worden war. Ein Wirbel von Seelenkraft und Gewalt, von Trieb und Haut und Haar und grellen Worten war durch die gestrige Nacht gejagt. Der Mann war Religionslehrer an einer Polizeischule. Ich wußte, wie er diesen Beruf liebte, das offene Gespräch mit den jungen Beamten über das Gute, die Quellen des Guten, über die Angst und den Tod und über Gottesvorstellungen, die er vorsichtig und fragend einbrachte, ohne jemanden vereinnahmen zu wollen, wie er immer wieder betonte.

Die letzte Nacht und den Tag hatte er in Untersuchungshaft verbracht; er war in Handschellen abgeführt worden von einem seiner Schüler. Die Blicke dieses jungen Uniformierten waren nur kurz über sein Gesicht gehuscht, nur für Sekundenbruchteile trafen sich die Pupillen, aber da stachen sie tief. Scharfe schwarze Punkte, und in den verkniffenen Zügen um die Augen des Polizisten lag mehr als nur eine Irritation. Eine wirre Mischung aus Enttäuschung und Spott, aus Triumph und verstörter Einsamkeit gärte da hoch: Ach, der Herr Religionslehrer ist angezeigt wegen Vergewaltigung. So also ist das: Nachfolge Jesu. Blitzartig, wie aufgebohrt, aufgerissen, war die Erkenntnis unvermeidlich, daß nun auch der Lehrer den fernen Fluchtpunkt verraten habe, der am Ende aller Macht hätte verbleiben müssen: daß es das Gute und den Gott als letzte Instanz gibt.

Der aufgelöste Mann in meinem Zimmer rang um Atem und hatte keine Kraft für zusammenhängende Sätze. Auch später formte sich mir kein wirkliches Bild, dem ich hätte trauen können, keine Handlungsfolge. Eine ganz grundsätzliche Desorientierung hatte den Mann erfaßt. Die klare Zuordnung von Dingen zu Namen, von Zeiten zueinander, von Handlungen zu Täterschaft und von Erlebtem zur Wirklichkeit war ihm entglitten. Angst, er sprang auf, lief zur Tür und zurück, wurde zwar schnell wieder ruhig und zog beherrscht sein Jackett zurecht, aber er blieb unfaßlich, nickte andauernd, war anwesend verschwunden.

Weniges wurde deutlich: Er hatte wohl einen heftigen Streit mit seiner Frau gehabt. Dies geschah nicht selten, war schnell wieder vergessen, wie er sagte, und war doch öfter schon begleitet gewesen von Gewaltausbrüchen, die er gemeinsame nannte. Er zeigte mir Narben von Messerstichen an der Schulter, seine Frau hätte sie ihm vor Jahren beigebracht, und ich sah in der Dämmerung die rötlichen Wulste zwischen Falten zum Schlüsselbein hin.

Worum es diesmal ging? Beiläufiges. Eine verschobene Wochenendfahrt zur Mutter seiner Frau, »immer so eine...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Dämonen • Engelskunde • Gnosis • Kabbala • Moderne Wissenschaft • Mystik • Psychotechniken • Religiöse Erfahrung • Säkulare und postsäkulare Weltbilder • Spekulation • Theologie • Visionen
ISBN-10 3-518-75343-6 / 3518753436
ISBN-13 978-3-518-75343-9 / 9783518753439
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