Der große Kalanag (eBook)

Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die Welt eroberte

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-19765-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der große Kalanag -  Malte Herwig
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Kalanag - das schillernde Leben des berühmtesten Zauberkünstlers der Nachkriegszeit
Er war der größte Showstar der jungen Bundesrepublik, als Magier machte er nach dem Krieg eine Weltkarriere, Helmut Schreiber alias Kalanag. Seine Zaubervorführungen waren aufwendig, brillant, exotisch und schlugen die Zuschauer in ihren Bann. Doch sein größtes Kunststück war es, seine zwielichtige Vergangenheit in der NS-Diktatur verschwinden zu lassen. Als Filmproduzent und Präsident des Magischen Zirkels pflegte er enge Verbindungen zu Nazi-Größen wie Hitler, Göring und Goebbels, stellte seine Arbeit in den Dienst der nationalsozialistischen Sache, produzierte das einzige antisemitische Musical der Zeit und sorgte für die Gleichschaltung der deutschen Zauberkünstler. Auf der Grundlage von ausführlichen Archivrecherchen und Interviews erzählt Malte Herwig erstmals das wendungsreiche Leben dieses Mannes, der die ganzen Widersprüche der Kriegs- und Nachkriegszeit verkörpert.

mit 16-seitigen Farbbildteil

Malte Herwig, geboren 1972 in Kassel, studierte Literatur, Geschichte und Politik und promovierte an der Universität Oxford. Er arbeitete als Autor für das Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, »Spiegel« und »Stern« und veröffentlichte mehrere Bestseller, darunter »Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden« (2013), »Die Frau, die Nein sagt« (2015) über die Malerin und Picasso-Muse Françoise Gilot und »Meister der Dämmerung« (2020), die Biografie des Literaturnobelpreisträgers Peter Handke. 2019 erfand Herwig den preisgekrönten Podcast »Faking Hitler« über die gefälschten Hitler-Tagebücher. Zuletzt erschien von ihm 2021 »Der große Kalanag« über den Zauberkünstler Helmut Schreiber.

@malteherwig

www.publicorum.com

Ein Magier aus Deutschland

London, im Januar 1951. Das Stoll Theatre am Kingsway füllte sich langsam. Das prächtige Gebäude war wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit viel Stuck, Gold und Kristall im Stil der französischen Beaux-Arts-Architektur erbaut worden. Mit zwei Dutzend Logen und fast 3000 Plätzen auf vier Etagen war der ehemalige Opernpalast noch immer eines der größten Theater der britischen Metropole und seit vielen Jahren mit Varieté-Aufführungen und populärem Entertainment erfolgreich. Doch eine Vorstellung wie an diesem Abend hatte es noch nie gegeben. Seit Tagen kündigten riesige Plakate »das achte Weltwunder« und »Europas führenden Zauberkünstler« an.1

Gedankenverloren schlenderte Val Andrews zu seinem Platz im Parkett, von dem aus er die Bühne genau einsehen konnte. Der vierundzwanzigjährige Brite war nicht gekommen, um sich zu amüsieren – jedenfalls nicht nur. Seit ihm der Vater seinen ersten Zaubertrick gezeigt hatte, faszinierte ihn die Kunst der Täuschung und der Illusion, und er war für einen anständigen Beruf verloren. Er trat als Bauchredner in Varietés auf und schrieb über Zauberkunst. Der heutige Abend war Recherche, Konkurrenzbeobachtung und eine gute Gelegenheit, den jüngsten Gerüchten auf den Grund zu gehen.

Im Publikum saßen Magiefachleute, Theaterkritiker, Varieté-Agenten und Dutzende seiner Kollegen. Bekannte Zauberkünstler wie Cecil Lyle, Francis White, Oswald Rae, Billy McComb und Robert Harbin waren in Begleitung ihrer Partnerinnen erschienen. Man konnte sie auf den ersten Blick erkennen, weil sie keinen Anzug trugen, sondern die Arbeitskluft der Magier, einen Smoking, und weil sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten.

Was war von diesem neuen Zauberer aus Deutschland zu halten? Würde er wirklich ein echtes Automobil vor aller Augen auf der Bühne verschwinden lassen? »Ein Spielzeugauto vielleicht«, höhnte einer der Anwesenden. »Selbst wenn es der schwächste Teil der Show werden sollte«, entgegnete der Zauberhändler und Verleger Charles Goodliffe und deutete auf das Programm, »ist es immer noch ein genialer Werbe-Trick.«2 Wer immer dieser Magier war, er hatte offensichtlich einen guten Sinn fürs Geschäft und es nicht versäumt, prominent auf Fabrikat und Hersteller des verschwindenden Hillman-Minx-Tourenwagens hinzuweisen, wofür er zweifellos ein üppiges Honorar kassierte.

Auch Andrews war skeptisch, zumal es ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, eine Karte für die Premiere zu bekommen. Jahrelang hatte es in England keine abendfüllende Zauberrevue mehr gegeben. Die Zauberkunst galt als verstaubt, ein altmodischer Zeitvertreib für Amateure, Kinder und Hinterwäldler.

So traurig das war, in einem waren sich Andrews und seine Kollegen einig: Was heutzutage als Zauberkunst präsentiert wurde, war für gewöhnlich eher fauler Zauber als echte Kunst. Die Tricks, die man in kleinen Varietés und in Nachtclubs zu sehen bekam, waren immer die gleichen, die Darstellung lieblos und langweilig. Alter Wein in neuen Schläuchen, keine Innovation, kein Witz. Das »achte Weltwunder« der Magie, so viel schien klar, war ein großmäuliges Versprechen, das diesem mysteriösen Magier nur auf die Füße fallen konnte.

Wer war dieser Mann mit dem klingenden Namen »Kalanag« überhaupt? Immerhin, das Rätsel seines Namens hatten sie schnell gelöst. »Dschungelbuch«, hatte einer der Kollegen im Foyer nur gesagt, und alle wussten Bescheid, denn die Geschichten des Schriftstellers Rudyard Kipling kannte in England jedes Kind. Andrews erinnerte sich, dass darin ein Elefant mit dem Namen Kala Nag vorkam, was so viel bedeutete wie schwarze Schlange. »Fragt sich bloß, ob er nachher einen Schlangenbeschwörer auf die Bühne bringt oder gleich einen ganzen Elefanten verschwinden lässt«, witzelte einer der englischen Experten und sorgte für allgemeine Erheiterung.

Aber der junge Andrews ließ sich von der Skepsis seiner abgebrühten Kollegen nicht abschrecken. Er liebte Premierenabende, und noch mehr liebte er Geheimnisse. Auch er hatte die Gerüchte gehört. Hinter dem Künstlernamen Kalanag sollte sich ein Zauberkünstler aus Deutschland verstecken, dem Land, mit dem Großbritannien wenige Jahre zuvor noch im Krieg gestanden hatte. Angeblich sogar jener Helmut Schreiber, der Anführer des Magischen Zirkels im »Dritten Reich« gewesen war und ein enger Freund von Goebbels und Göring. Im Hauptberuf sei dieser Schreiber Filmproduzent gewesen und habe Propagandafilme für die Nazis gemacht. Ein einflussreicher Mann, von dem gesagt wurde, er habe seine Zauberkünste sogar Adolf Hitler persönlich vorgeführt. »Macht euch auf eine Kostümschlacht gefasst«, hatte einer von Andrews’ Kollegen im Foyer geraunt. Die Show werde mehr Spektakel als echte Zauberkunst bieten.

Doch davon war jetzt noch nichts zu sehen. Nur ein indischer Tonkrug stand vor dem schweren, roten Vorhang des Stoll Theatre. Ein undefinierbarer, bitterer Geruch stieg Andrews in die Nase und erschien ihm wie ein Omen für das, was da kommen würde. Aus dem Orchestergraben schwollen die ersten Klänge. Auch das war ungewöhnlich. Welcher Zauberkünstler konnte sich schon ein eigenes Orchester leisten?

Dann öffnete sich der Vorhang. Mit dem Wort »Simsalabim« betrat Kalanag zusammen mit seiner platinblonden Partnerin Gloria de Vos die Bühne und schlug ein gewaltiges Zauberbuch auf, das, wie er sein Publikum mit einem Augenzwinkern wissen ließ, »die Wunder von Pharao bis heute« enthalte.

Dann präsentierte er im atemberaubenden Tempo ein Kunststück nach dem anderen und tat das so präzise, dass ein Kritiker die Show später mit der Uhr des Observatoriums in Greenwich verglich. Auf offener Bühne verschwand ein Auto mitsamt dem Bürgermeister von London, nachdem der Zauberer ihn gebeten hatte, im Wagen Platz zu nehmen. Der Tonkrug erwies sich als unversiegbare Quelle, aus der Kalanag zwischen den Szenen immer wieder »Wasser aus Indien« in eine Schale goss. Eine junge Frau wurde in drei Teile zersägt. Dann erschien eine riesige Buddhastatue auf der Bühne, und Tempeltänzerinnen rangen mit lebenden Pythonschlangen, während das Orchester geheimnisvolle Melodien spielte und Kalanag seine Partnerin Gloria bis unter den Bühnenhimmel in die Höhe schweben ließ.

Tauben flogen aus Schalen, in denen eben noch Flammen gelodert hatten. Schlangenbeschwörer, Ballett-Girls und Zwerge traten in ständig wechselnden Bühnenbildern und Kostümen auf, schwebten und lösten sich auf offener Bühne in Luft auf – und mittendrin Kalanag, immer mit einem harmlosen Lächeln, einer freundlichen Aufforderung, als ob das alles selbstverständlich wäre.

Andrews traute seinen Augen kaum. Viele der Tricks waren ihm bekannt, aber noch nie hatte er eine so einfallsreiche und prächtige Darbietung gesehen. Kalanag begnügte sich zum Beispiel nicht damit, eine Öllampe einfach verschwinden zu lassen. Er ließ gleich ein Dutzend Tänzerinnen in Lampenschirm-Kostümen antreten. »Den Schirm würde ich mir gerne mal genauer anschauen«, flüsterte ein Zuschauer – eine Bemerkung, die Andrews als zynisch empfand, da sie auf das Gerücht anspielte, die Nazis hätten aus der Haut ihrer Opfer in den Konzentrationslagern Lampenschirme gefertigt.

Gewiss, Andrews verstand die Vorbehalte seiner Kollegen. Kalanags magische Truppe war das erste deutsche Ensemble, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs in England gastierte. Der Krieg lag gerade einmal ein halbes Jahrzehnt zurück. England hatte ihn zwar gewonnen, litt aber unter den wirtschaftlichen Folgen und dem Verlust seines Empires. Schwang in den gehässigen Bemerkungen nicht auch ein wenig Neid mit dem wiedererstarkenden Westdeutschland mit, das inzwischen nicht nur ein politischer Bündnispartner war, sondern auch wirtschaftlich für einen in Grund und Boden Besiegten schon wieder erstaunliche Fortschritte machte?

Einem britischen Publikum musste dies alles übertreffende Spektakel wie der Inbegriff des deutschen Wiederaufstiegs nach 1945 erscheinen. Opulente Bühnenbilder, Dutzende Mitwirkende, der offensiv zur Schau gestellte Reichtum des korpulenten, eine dicke Zigarre rauchenden Magiers und seiner in teure Pelze und Kostüme gehüllten Partnerin Gloria wirkten wie Vorboten des beginnenden Wirtschaftswunders in Westdeutschland.

Keines von Kalanags Kunststücken machte das deutlicher als seine »Kalanag-Bar«. Mit einem durchsichtigen Glaskrug in der Hand wandte sich der in einen Barkeeper mit schwarzer Fliege verwandelte Magier dem Publikum zu und nahm Bestellungen entgegen. »Bitte, was wünschen die Ladies und Gentlemen? Einen Sherry? Sofort, meine Dame, einen trockenen oder süßen?« Und mit schwungvoller Geste goss er einen Schwall Wasser aus dem Krug in das Glas, das ihm eine seiner Assistentinnen auf einem Tablett entgegenhielt. Der Effekt war verblüffend, deutlich sichtbar füllte sich das Glas mit dem gelben Getränk und wurde der Bestellerin sofort serviert. »Bitte sehr, meine Dame«, rief der magische Barkeeper, »probieren Sie diesen köstlichen Sherry. Es ist wirklich Sherry, das können Sie bestätigen?« Die Angesprochene nickte erstaunt, nachdem sie einen Schluck gekostet hatte. »Sehen Sie, Ladies und Gentlemen! Hier bekommen Sie jeden Drink, den Sie wünschen.«

Das Publikum jauchzte vor Vergnügen, und schon hatte Kalanag alle Hände voll zu tun. Er verwandelte Wasser in Wein, Bier, Gin und Whisky und ließ die Getränke auch noch in passenden Gläsern servieren. Kein Wunsch blieb unerfüllt. Es war nicht das erste Mal, dass Andrews diesen Trick gesehen hatte, aber noch nie war er so raffiniert inszeniert worden wie von Kalanag. Als ein Scherzbold...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2021
Zusatzinfo Mit Farbbildteil
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Bavaria Film • Biografie • Biographien • David Copperfield • eBooks • Goebbels • Hanussen • Künstler in NS-Zeit • Magier • Okkultismus • Siegfried und Roy • Zauberkunststücke
ISBN-10 3-641-19765-1 / 3641197651
ISBN-13 978-3-641-19765-0 / 9783641197650
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