Kopf, Hand, Herz - Das neue Ringen um Status (eBook)

Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
400 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25877-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kopf, Hand, Herz - Das neue Ringen um Status -  David Goodhart
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Wie viele Akademiker brauchen wir? - Welche Berufe unsere Gesellschaft zusammenhalten
Es muss erst eine Pandemie ausbrechen, damit wir merken, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Worauf es wirklich ankommt, was »systemrelevant« ist. Die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln ist es, und die verlässliche medizinische Betreuung. Verkäuferinnen und Pflegekräfte - die neuen Helden des Alltags. So lange, bis sich dieser wieder normalisiert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der kognitive, analytische Fähigkeiten am höchsten bewertet werden, höhere Bildung für möglichst viele ist erklärtes Ziel. An den Schalthebeln der Macht sitzen überwiegend akademisch Ausgebildete, sie bestimmen den Kurs stark nach ihren Interessen und Wahrnehmungen. Doch das hat seinen Preis: Eine Gesellschaft, die die Berufe der Hand und des Herzens, also Handwerk und soziale Berufe, geringschätzt und schlecht bezahlt, droht aus der Balance zu geraten. Der Kopf hat zu viel Einfluss erlangt, so David Goodhart. In seiner provozierenden Analyse zeigt er auf, warum das problematisch ist und wo wir ansetzen müssen, um die Gewichte zu verschieben.

David Goodhart, geboren 1956, ist britischer Journalist und Autor mehrerer Sachbücher zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre war er Deutschlandkorrespondent der Financial Times. In seinem letzten Buch The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics beschäftigte er sich mit den Gründen für das Erstarken des Populismus in westlichen Ländern.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch entstand weitgehend vor Beginn der Coronakrise. Doch die Pandemie und ihre absehbaren Nachwehen haben direkte Auswirkungen auf sein Thema – die ungleiche Verteilung von Status und Anerkennung, die in den letzten Jahrzehnten zu einem herausragenden Merkmal wohlhabender Gesellschaften geworden ist. Zum einen hat die Krise Undenkbares denkbar gemacht: Wenn wir das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben über Monate hinweg anhalten, einschränken und gemeinsam einen Teil der Lasten schultern können, dann ist es vielleicht genauso denkbar, das Status­ungleichgewicht in unserer nach Bildung geschichteten postindustriellen Gesellschaft um einige Grade zu korrigieren.

Den meisten von uns geht es darum, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, doch die von der Krise schwer getroffenen Nationen Europas und Nordamerikas stehen vor großen Umbrüchen. Auf das Thema dieses Buchs bezogen wird Corona auf unterschiedliche Weise dazu beitragen, Hand und Herz – sprich: handwerkliche, nicht-akademische Berufe und Tätigkeiten in Erziehung und Pflege – wieder aufzuwerten und ihnen etwas von dem Ansehen zurückzugeben, das sie in den zurückliegenden Jahrzehnten an den Kopf – sprich: kognitive Tätigkeiten – verloren haben.

Auf der Makroebene wird heute eine neue Form der Globalisierung denkbar, die von einem der humorvolleren Slogans der Krise auf den Punkt gebracht wird: Proletarier aller Länder, vereinigt euch: Ihr habt nichts zu verlieren als eure Lieferketten. Eine umfassende Entglobalisierung ist weder wünschenswert noch wahrscheinlich, wir haben unsere Lektionen aus dem Protektionismus der Dreißigerjahre gelernt. Der »Hyperglobalisierung«, wie sie der Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik nennt, die vor allem Konzernen, Finanzmärkten und hochmobilen Akademikern dient, können wir aber dennoch einige Zügel anlegen. In Europa schlug in der Krise die Stunde des Nationalstaats und des nationalen Gesellschaftsvertrags, während in den Vereinigten Staaten die relative Schwäche des Zentralstaats augenfällig wurde. In der nächsten Phase der Globalisierung werden Nationalstaaten wieder mehr Mitsprache einfordern. Einige der langen und anfälligen Lieferketten werden gekürzt und gekappt werden. Die Billig-Globalisierer, die Fabrikschließungen zwar bedauern, sie aber als Preis für die günstigeren Produkte von Amazon in Kauf nehmen, werden einen zunehmend schweren Stand haben. Denn die meisten von uns sind nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten, und vielleicht sind wir dazu bereit, ein paar Euro mehr für ein Mobiltelefon hinzublättern, wenn es im eigenen Land produziert wurde.

Diese Sichtweise hatte schon vor der Krise vermehrt Anhänger gewonnen. Schon 2019 erfuhr der Welthandel unter dem Eindruck des Handelskriegs zwischen China und den Vereinigten Staaten eine leichte Abschwächung. Das bestehende Modell der Hals-über-Kopf-Globalisierung hat zu viele Verlierer hervorgebracht, nicht zuletzt unsere globale Umwelt.

In den zurückliegenden beiden Generationen wurde der Westen von Zentrifugalkräften beherrscht, die zwar auf der einen Seite globale Öffnung und individuelle Freiheiten begünstigten, auf der anderen jedoch kollektive Bande schwächten und dafür sorgten, dass die Kopfarbeit ein unverhältnismäßig großes Stück vom Kuchen erhielt, während Hand und Herz an Status und Einkommen verloren. In sämtlichen wohlhabenden Nationen hat die Wissensökonomie die Bildungselite an die Spitze der Statushierarchie befördert und die kognitiv Begabten reichlich beschenkt, doch zugleich haben viele andere Menschen Sinn und Zugehörigkeitsgefühl verloren.

Die jüngsten, sicher auch durch die Pandemie beförderten Entwicklungen lassen allerdings vermuten, dass wir nun an der Schwelle zu einer stärker zentripetalen Phase stehen, in der sich Nationalstaaten festigen und wirtschaftliche und kulturelle Offenheit zurückgenommen wird. In dieser Phase werden Regionalismus, gesellschaftliche Stabilität und Solidarität an Bedeutung gewinnen, während die Skepsis gegenüber den Ansprüchen der kognitiven Klasse wie auch unsere Sensibilität für die Zumutungen der modernen Leistungsgesellschaft steigen wird.

Als ich 2019 mit der Arbeit an diesem Buch begann, hätte ich mir nicht vorzustellen gewagt, dass der Beitrag der Arbeitnehmer, die ich hier als »Herz« und »Hand« bezeichne, in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien geradezu zum Sinnbild der Krisenbewältigung werden würde. Die Bürger applaudierten nicht nur dem medizinischen Personal, sondern auch den Menschen, die sonst unbemerkt die Grundfunktionen unseres Alltags aufrechterhalten – die Mitarbeiter von Supermärkten, die Busfahrer und Lieferanten, die Menschen, die unsere Waren in die Läden und unsere Medikamente in die Apotheken bringen, die Menschen, die unseren Haushaltsmüll entsorgen. In einer Umkehr der Statushierarchie kam es mit einem Mal auf jene Menschen an, die nicht studiert haben und kognitiv weniger geschult sind.

Doch die tiefsten Spuren könnte die Denkpause hinterlassen, die der Lockdown uns und unserer hektischen Leistungsgesellschaft verordnet hat. Viele von uns, vor allem die besser ausgebildeten Menschen, die im Home Office arbeiten konnten, mussten sich darüber Gedanken machen, worauf es ihnen im Leben wirklich ankommt. Mit der Unterbrechung unserer geschäftigen mobilen Existenz nahmen viele von uns zum ersten Mal ihre Nachbarn richtig wahr und fühlten sich in einer physischen Gemeinschaft verortet. Dieses neue Gefühl der Verwurzelung und Beziehung und die neue Wahrnehmung unserer eigenen Sterblichkeit können in rührselige Sentimentalität oder ängstliche Risikoscheu ausarten. Es gibt durchaus Menschen, die nicht möchten, dass der Lockdown endet. Andere wünschen sich dagegen verzweifelt ihre früheren Freiheiten zurück, und gerade in Deutschland war der Protest gegen die Einschränkungen oftmals lauter als anderswo in Europa. Einige erwarten für die Zeit nach der Krise nicht etwa eine mitfühlendere, fürsorglichere Gesellschaft, sondern Exzesse des Hedonismus und Individualismus, eine Neuauflage der Wilden Zwanziger.

Doch im Mittelpunkt der Krise standen die Bereiche Pflege und Erziehung, und allein deshalb ist eine wirtschaftliche und politische Neuorientierung zu erwarten. So wie selbst konservative Politiker ihre Haltung zur Staatsverschuldung überdenken mussten, könnten wir nun unsere Vorstellungen von Produktivität und Wirtschaft insgesamt auf den Prüfstand stellen. Schon heute geben wohlhabende westliche Gesellschaften einen erheblichen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit und Erziehung aus, und dieser wird infolge der Krise vermutlich noch wachsen. Dabei werden wir feststellen, dass es in vielen Bereichen des Gesundheitssektors, ob in Krankenhäusern oder Altenheimen, eben nicht darum geht, die Produktivität zu steigern, sondern vielmehr darum, sie zu senken. Es geht darum, die Zahl der Betten pro Pflegekraft zu reduzieren, nicht zu erhöhen. Wenn Deutschland in der ersten Phase besser durch die Krise kam als seine europäischen Nachbarn, dann auch deshalb, weil das deutsche Gesundheitswesen über mehr Kapazitäten verfügt als die meisten anderen.

Wenn wir den Gesundheitssektor aufwerten und stiefmütterlich behandelte Bereiche wie die Altenpflege besser finanzieren wollen, dürfen wir die häusliche Pflege und die frühkindliche Erziehung nicht außen vor lassen. Damit werden große Fragen nach der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau aufgeworfen und danach, wie sich die Arbeit in Haushalt und Familie aufwerten lässt, ohne die Freiheiten zurückzunehmen, die sich Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpft haben. Unsere in der Krise erzwungene Häuslichkeit hatte reichlich Spannungen, Trennungen und selbst Gewalt zur Folge. Aber sie hat viele von uns auch an den Wert der Familie und ihrer Erziehungs- und Pflegearbeit erinnert.

Deshalb bin ich der Ansicht, dass Hand und Herz durch die Krise gestärkt wurden und gegenüber dem Kopf wieder leicht an Status gewonnen haben. Oder um es politisch auszudrücken, ich beobachte, dass die Krise vor allem in Europa ein ungewöhnliches Bündnis hervorgebracht hat zwischen der konservativen Präferenz für Region, Land und Familie auf der einen Seite und einer sozial­demokratischen Präferenz für höhere Staatsausgaben und einen gewissen Kollektivismus, verbunden mit einem neuen Umweltbewusstsein. Doch wie Sie diesem Buch entnehmen können, hatte ich dies bereits vor der Coronakrise vermutet, weshalb ich mich der Covid-Bestätigungs-Verzerrung schuldig bekenne: der Neigung, die eigenen Erwartungen an die Zukunft durch die Pandemie bestätigt zu sehen.

Dieser Argumentation könnte man nun zwei Argumente entgegenhalten. Erstens könnte man darauf verweisen, dass der Kopf durch die Krise keineswegs einen Dämpfer erhielt, weil Experten – namentlich Virologen, Mediziner oder Impfstoffforscher – ihre Bedeutung für die Gesellschaft unter Beweis gestellt und die populistische Wissenschaftsskepsis weitgehend widerlegt haben. Und zweitens könnte man anführen, dass die digitalen Plattformen der großen Technologiekonzerne, die während der Krise noch stärker in den Mittelpunkt unseres Alltags gerückt sind, der Inbegriff der entkörperlichten Welt der Datenverarbeitung sind und die Ideologie des Kopfes bestätigen.

Beide Einwände sind berechtigt, doch ich bezweifle, dass sie schwer genug wiegen, um meine These von der Corona-Umverteilung zu widerlegen. Der erste Einwand würde mein Problem mit der Expertenkultur falsch verstehen. Experten aus den Bereichen Naturwissenschaft, Technik oder Medizin stoßen nur auf geringe Skepsis (in den Vereinigten...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Übersetzer Jürgen Neubauer
Sprache deutsch
Original-Titel Head Hand Heart. The Struggle for Dignity and Status in the 21st century
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ausbildungsberufe • Corona-Krise • eBooks • faire Bezahlung • Lohngefälle • Macht und Status • Maja Göpel • Medizin • Pflegekräfte • Somewheres und Anywheres • Soziales Ansehen • Soziologie • Systemrelevant
ISBN-10 3-641-25877-4 / 3641258774
ISBN-13 978-3-641-25877-1 / 9783641258771
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