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Untertags (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
239 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75186-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
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Ein Mann und eine Frau lernen sich in den späten Jahren ihres Lebens kennen und erfahren noch einmal tiefe Zuwendung und Glück, im Alltag und auf Reisen in die Landschaft seiner Jugend - die Rocky Mountains in Wyoming. Doch neben die Freuden treten bald die Gebrechen des Alters, Jakov neigt zunehmend zu Zerstreutheit. Ein Name bleibt aus, ein Termin wird versäumt, ein Kehrichtsack landet im Teich des Nachbarn. Die ärztliche Untersuchung zeigt: Jakovs Gedächtnis ist nicht nur lückenhaft geworden. Seine Orientierung wird weiter schwinden, seine Sprache versiegen. Herta bemüht sich um Zuversicht, aber je mehr Jakov den Bezug zur Welt verliert und von der Vergangenheit eingeholt wird - einer frühen Liebe, dem Zerwürfnis mit dem Vater -, desto mehr braucht auch sie Unterstützung.

Mit großer Zartheit nähert sich Urs Faes einem Paar unter dem Eindruck der Krankheit. Er erzählt von innigen Momenten und wachsender Entfernung, von Fürsorge und Erschöpfung, von der Verunsicherung, wenn einer sich selbst abhandenkommt und lange Verdrängtes plötzlich wieder Gegenwart wird. Und von der Kraft der Einfühlung, einer Verständigung jenseits der Worte.



<p>Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Seine Romane <em>Paarbildung</em> und <em>Halt auf Verlangen</em> standen auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.</p>

Zwei Urnen


Sie war jetzt allein.

Niemand mehr würde kommen.

Sie legte die Hände auf die Tischplatte, ließ sie langsam über die geschliffene und neu lackierte Fläche gleiten, als wollte sie sich vergewissern, dass keine Fuge, kein Spalt, nicht einmal die kleinste Kerbe geblieben war. Sie umkreiste die Krüge, hielt Abstand, geradezu panisch bemüht, sie nicht zu berühren. Ihre Hände beschrieben kleine Bögen. Warum sage ich Krüge, dachte sie, das sind doch Urnen.

Herta hielt inne, schaute auf; draußen dunkelte es ein, auf dem Baum saßen die Spatzen. Sein Baum, dachte sie unwillkürlich und schloss die Augen. Diesen geduckt wirkenden Mirabellenbaum hatte er immer seinen Baum genannt, the crooked tree, the hunchbacked tree, der strauchartig sich ausbreitete. Das hatte Jakov gefallen. Er hatte sich um die gelben Früchte gekümmert, die Blätter eingesammelt im Herbst und abseits vom übrigen Laub auf einen Haufen geschichtet: das Laub des geduckten Baumes.

Sie machte kein Licht; sie wäre nicht da, falls jemand klingelte. Über dem See zogen Regenwolken dahin. Ihre Hände umfassten den linken Krug. Sie folgten der bauchigen Form. Dann nahm sie den Deckel ab und legte ihn beiseite. Sie hob das Gefäß an, kippte es und sah gespannt zu, wie die Asche langsam herausglitt: ein Grau, krümelig körnig und flockig zugleich, von Splittern durchsetzt, länglichen und schmalen spitzen. Sie beugte sich vor, die Mündung der Urne nah am Aschehaufen, der sich schon gebildet hatte und jetzt rasch höher wurde, zu einer ansehnlichen Größe wuchs, mit diesen nach unten kollernden Splittern, die sie nur mit der äußersten Fingerkuppe berührte.

Als nichts mehr herausfiel, klopfte sie sacht auf den Boden des Kruges. Dann holte sie einen Lappen, wischte das Innere sorgsam aus und ließ die Aschereste auf den Berg taumeln, den Ascheberg, in seinem Grau, mit einem Schimmer von Braun und diesem sie sonderbar berührenden Saum von Splitterknöchelchen.

Als sie die Urne abgestellt hatte, bemerkte sie die Plakette: Der Name stand darauf, das Datum, die Zeit.

Sie kniete nieder, stützte ihr Kinn auf der Tischplatte auf. Ihre zur Schale geformten Hände näherten sich dem Aschehaufen, umschlossen ihn, ohne ihn zu berühren.

Sie ließ die Hände kurz auf dem Tisch ruhen. Dann schob sie ihre Rechte mitten durch den Haufen, teilte ihn langsam in zwei, schob die Hälften auseinander: da einer, dort einer. Meine Hälfte, ihre Hälfte; dazwischen das Meer, der Atlantische Ozean. Vielleicht müsste Jakovs Asche dem Meer übergeben werden, in der Mitte zweier Kontinente. Beide haben sein Leben umspannt. Niemand weiß, was seine Heimkehr ist. Jakov hat von Europa als seiner Heimkehr gesprochen, da wo die Anfänge seiner Familie liegen: Warmia, Masuren. Nun sprechen »die da drüben« von seiner Heimkehr nach Thermopolis, Wyoming, in den Staat mit den hohen Bergketten, den großen Ebenen, den tiefen Einsamkeiten. Das hatte er oft erwähnt. Herta hätte vom Duft des Salbeis und der Pinien nach dem Regen gesprochen.

Nun kehrt er zurück; und die Seinen werden denken, er sei wieder bei ihnen, einer von ihnen.

Aber er ist auch da, bei ihr. Da oben am Waldrand, wo sie oft gestanden hatten, soll er ruhen, mit dem Blick auf den See und in die Berge. Auch daheim. Einer wie er ist an vielen Orten daheim. Er ist kein Einheimischer, er ist ein Vielheimischer. Das passt zu ihm.

Sie ergriff das bereitgelegte Blatt, schob es mit einem schnellen Ruck unter den ersten Haufen, hob ihn vorsichtig auf und ließ die Asche in die neue Urne gleiten. Sie legte das Papier nochmals nah an die Aschereste, die von diesem Haufen geblieben waren, tupfte mit dem Zeigefinger jedes Flöckchen auf, schob jeden Splitter nach. Den zweiten, etwas kleineren Aschehaufen beförderte sie mit derselben Sorgfalt in die Urne mit der Plakette. Mit bebenden Fingern packte sie einen Splitter nach dem andern, ließ ihn in die Urne fallen. Sie strich Leim auf den Rand und drückte den Deckel an. Das hatte sie lange geübt. Sie schmunzelte einen Augenblick. Dann kehrte dieser jähe Schmerz zurück.

Für die Amerikaner, murmelte sie vor sich hin und tippte den Zettel an. Sollen sie ihre Urne haben. Und ich die meine.

Sie wagte immer noch nicht, Licht zu machen; niemand sollte sie stören.

Unser letztes Stelldichein.

Herta flüsterte und kam sich dabei seltsam vor. Was tust du da? Und warum?

Warum Jakov nach einer langen Ehe diese Verfügung getroffen hatte, das begriff sie nicht. Er hatte nie zurück über den Atlantik gewollt, außer für Besuche mit ihr zusammen, nie allein. Wir beide, hatte er gesagt, bleiben zusammen, beisammen für immer. Die Kastanie am Waldrand hatte ihm gefallen: ein Ort der Ruhe, ein Ort zum Bleiben.

Nun hatte er anders entschieden, ohne ihr das mitzuteilen. Ein Kuvert enthielt alles, was er verfügte. Was sie schmerzte. Was sie hinnahm und nicht begreifen konnte.

Sie hörte ein Geräusch, schnellte auf. Sie bemerkte auf der Straße eine rasch vorübereilende Gestalt, den Mantelkragen hochgeschlagen wie er, Jakov, manchmal. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken, nicht mehr. Da ging einer vorüber, in den Abend hinein. Keiner, der zu ihr wollte, das war gut. Sie würde nicht öffnen, niemandem. Sie hatte genug Besuche empfangen in den letzten Tagen. Sie waren ihr schlimmer vorgekommen als das, was in den vergangenen Monaten geschehen war. Ihre Töchter waren da gewesen, Leute aus dem Dorf – auch solche aus dem Heim, die ihn gekannt hatten. Alle hatten ihn gekannt. Fast alle. Sie hatte Hände schütteln, Auskunft geben müssen, erzählen von den letzten Wochen, die ohne Sprache gewesen waren.

Niemand von denen da drüben war gekommen, zum Glück. Da hätte sie sich vielleicht nicht beherrschen können nach allem, was geschehen war, nach diesen Briefen erst recht. Mit Ungeduld forderten sie zurück, was ihnen gehörte, angeblich: seine Asche, seine Uhr und die anderen Dinge, all of Father’s things. Die Fotos waren aufgeführt, Ehrensachen und Ehrenzeichen; die Stiefel waren vermerkt, die Gürtel und Gürtelschnallen, die Socken und Sockenhalter. Die Liste war lang. Sie müsste zusammensuchen und abhaken. Das würde dann die dritte Firma abholen, die war zuständig für Sachen. Sie wollten nicht warten. We need them back. Immediately, hatten sie unterstrichen.

Das passte zu denen.

Und die Mappe mit Papieren? Auch zurück in die USA? Back home auch diese Zeugnisse aus vergangener Zeit, Liebeszeichen, Briefe? Sie ergriff den Lippenstift, das Strumpfband. Wartete. Nichts. Kein Schmerz mehr, kein Zittern. Sie blickte auf die alten Fotos. Eine schöne Frau, zweifellos. Sie lächelte. Das war ausgestanden. Damit bist du versöhnt. Sie steckte seine Liebesdinge in einen Beutel, um sie wegzuwerfen. Die Papiere legte sie in die Mappe zurück, in die Jakov sie gesteckt und die er bezeichnet hatte: The Virginie-Papers. Die würde sie zur zurückbleibenden Urne legen. Die drüben müssten sie nicht sehen.

Sie nickte versonnen, hob den Kopf.

Wieder einer, der auf der Straße vorübereilte. Der Regen war stärker geworden, das Rauschen verschluckte jedes Geräusch. Sie sah die Lachen im Lichtschein auf dem Vorplatz, Laub lag darin; der Wind blies jetzt heftiger, zerzauste die Bäume, wirbelte auch die Blätter seines Baumes auf. An seinem Testament gab es nichts auszusetzen. Er hatte es Jahre zuvor verfasst, als er durch die Krankheit noch nicht schwer gezeichnet war, alles korrekt, einwandfrei. Aber doch –

Sie verscheuchte den Gedanken, durchquerte den Raum im Dunkel, stellte sich ans Fenster. Der Haufen Laub vom Mirabellenbaum glänzte nass. Sie hatte ihn absichtlich liegen gelassen. Im nächsten Frühling hätte er ihn vielleicht erkannt, wiedererkannt, und dann wäre dieses Strahlen in seinem Gesicht gewesen, wie es jedes Mal sich eingestellt hatte, wenn er sich an etwas erinnerte.

Herta machte Licht, sah die Urnen, die eine nah bei der anderen.

Nur noch...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alzheimer • Amerika • Anerkennungsbeitrag Literatur des Kantons Zürich 2014 • Angehörige • Angst • Beziehung • Cheyenne (Wyoming) • Demenz • Ehe • Erinnerung • Familie • Gedächtnis • Gedächtnisverlust • Geheimnis • Grand-Teton-Nationalpark • Grand Teton National Park • Halt auf Verlangen • Jackson Hole • Judentum • Körper • Krankheit • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2017 • Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich 2021 • Liebe • Mitteleuropa • Natur • Nordamerika (USA und Kanada) • Paarbildung • Pflege • Raunächte • Rocky Mountains • Scheidung • Schweiz • Sommer in Brandenburg • Sprache • Sterben • Stiefmutter • Therapie • Tod • Trauer • USA • USA Westen • USA Westen: Mountain States • Vereinigte Staaten von Amerika USA • Vergessen • Verlust • Wandern • Wyoming • Yellowstone-Nationalpark • Yellowstone National Park • Zürich
ISBN-10 3-518-75186-7 / 3518751867
ISBN-13 978-3-518-75186-2 / 9783518751862
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