Jenseits der Literatur (eBook)

Oxford Lectures
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2020 | 1. Auflage
167 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75342-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jenseits der Literatur -  Durs Grünbein
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In seinen vier Vorlesungen, die er als Lord Weidenfeld Lectures im Jahr 2019 in Oxford gehalten hat, setzt sich der Dichter Durs Grünbein mit einem Thema auseinander, das ihn seit jenem Augenblick beschäftigt hat, als er die eigene Position in der Geschichte seiner Nation, seiner Sprachgemeinschaft und seiner Familie als historisch wahrzunehmen begann: Wie kann es sein, dass DIE GESCHICHTE, seit Hegel und Marx ein Fetisch der Geisteswissenschaften, die individuelle Vorstellungskraft bis in die privaten Nischen, bis in den Spieltrieb der Dichtung hinein bestimmt? Will nicht anstelle dessen Poesie die Welt mit eigenen, souveränen Augen betrachten?

In Form einer Collage oder »Photosynthese«, in Text und Bild, lässt Grünbein den fundamentalen Gegensatz zwischen dichterischer Freiheit und nahezu übermächtiger Geschichtsgebundenheit exemplarisch aufscheinen: Von der scheinbaren Kleinigkeit einer Briefmarke mit dem Porträt Adolf Hitlers bewegt er sich über das Phänomen der »Straßen des Führers«, also der Autobahnen, hinein in die Hölle des Luftkriegs. Am Schluss aber steht eine erste Erfahrung von Ohnmacht im Schreiben und die daraus erwachsende, bis heute gültige Erkenntnis: »Es gibt etwas jenseits der Literatur, das alles Schreiben in Frage stellt. Und es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt.«

Die renommierten Lord Weidenfeld Lectures sind seit 1993 einer der Höhepunkte im akademischen Jahr der Universität Oxford. Dazu eingeladen werden bedeutende Geisteswissenschaftler, Schriftsteller und Dichter. Zu den früheren Inhabern dieser Professur zählen George Steiner, Umberto Eco, Amos Oz und Mario Vargas Llosa.



<p>Durs Gr&uuml;nbein wurde am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren. Er ist einer der bedeutendsten und auch international wirkm&auml;chtigsten deutschen Dichter und Essayisten. Nach der &Ouml;ffnung des Eisernen Vorhangs f&uuml;hrten ihn Reisen durch Europa, nach S&uuml;dostasien und in die Vereinigten Staaten. Er war Gast des German Department der New York University und der Villa Aurora in Los Angeles. F&uuml;r sein Werk erhielt er eine Vielzahl von Preisen, darunter den Georg-B&uuml;chner-Preis, den Friedrich-Nietzsche-Preis, den Friedrich-H&ouml;lderlin-Preis, den polnischen Zbigniew Herbert International Literary Award sowie den Premio Internazionale NordSud der Fondazione Pescarabruzzo. Seine B&uuml;cher wurden in mehrere Sprachen &uuml;bersetzt. Er lebt in Berlin und Rom.</p>

1 Die violette Briefmarke


Denke ich an die Briefmarkensammlung meiner Kindheit, fällt mir zuerst ein Detail ein, das einem Traum entsprungen sein könnte, so aufdringlich sticht es hervor und tanzt mir wieder vor Augen, ein kleiner, viereckiger Schmetterling von der Farbe des Vitriol. Es gab da ein Album, gehütet wie ein verbotener Schatz, in dem waren Marken aus der Zeit des Dritten Reiches gehortet, darunter auch eine Reihe verschiedenfarbiger Köpfe des Mannes, dessen Name sich damals nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen ließ. Was wußte ich als Kind von dem verfluchten Österreicher, dem Mann aus Braunau am Inn, der sich wie kein zweiter in die deutsche Geschichte eingemischt und eingeschrieben hatte?

Die Wertzeichen im gefährlichsten meiner Alben waren alle verkehrt herum einsortiert. Der finster blickende Volksverführer mit dem streng gescheitelten Haar stand darin kopf. Hatte ich das getan und warum? Ich weiß nicht mehr, war es eine Vorsichtsmaßnahme gewesen, aus Sorge, jemand könnte mein Album entdecken, oder ein Akt der Teufelsaustreibung, diesen Derwisch des Deutschtums so zu enthaupten?

Nur soviel weiß ich: Der Anblick von Briefmarken führt mich zuverlässig in die Paradiese der Erinnerung zurück, in eine Gartenschau auf kleinstem Raum. Vor den Kinderaugen war hinter den Klarsichtstreifen der Sammelalben eine ganze Welt in Miniaturbildern aufbewahrt. Briefmarken sind oftmals der erste Orbis pictus im Leben eines Kindes. In engster Anordnung ergeben sie ein Buch der sichtbaren Welt, nach Art der Bilderfibel des Johann Comenius. Die Reihen der Marken erschienen mir damals wie Blumenbeete, alle wohlgeordnet und doch wild durcheinanderwirbelnd dank ihrer bunten, vielgestaltigen Motive. Da fand sich die Trachtengruppe dicht neben dem Bohrturm, das Eichhörnchen am Baumstamm neben dem Olypmpiasieger im Skispringen – Schätze internationaler Philatelie mit der Farbigkeit von Zirkusplakaten. Es gab die Marken der Malediven in ungewöhnlicher Dreiecksform und gleich daneben die großformatigen aus Brasilien mit den herrlichen Schmetterlingsmotiven.

Dagegen wirkten die Überbleibsel aus der Nazizeit seltsam streng und monoton. Sie waren, auf eine bedrückende Weise, einfallslos, schlicht in ihren Motiven – es gab da nur Adler und Burgen, brutale Stahlhelmmänner, Reiter und nackte Athleten, später auch kämpfende Wehrmacht aller Waffengattungen. Dazwischen aber tauchte der Diktator im Profil auf, als Typus des weitblickenden Staatsmannes. Ich weiß nicht, was in uns gefahren war, aber damals reizte uns diese widerwärtigste Figur des Zeitalters mächtig als finstere Märchengestalt. Er war der Dämon, den ein Bilderverbot, ein allgemeines Tabu von uns fernhalten sollte.

Das Briefmarkensammeln hatte ich irgendwann aufgegeben, die Alben verschwanden, wie vieles andere, auf dem Dachboden. Jahre später aber segelte mir beim Stöbern in ihnen eine Feldpostkarte mit einer violetten Marke entgegen. Es war ihre aufreizende Färbung, das Eisenhutlila, das mich auf Gedankenabwege brachte. Denselben Führerkopf gab es auch in den Varianten Erbsengrün, Kastanienbraun, Blutrot – selbst in harmlosem Orange, in der Farbe der Südfrüchte, trat er einem entgegen. Briefe und Ansichtskarten, die das bedrohliche Konterfei trugen, waren damals in alle Welt hinausgesandt worden. In Expreßzügen wurden sie kreuz und quer durch das erwachende Deutschland gesandt und per Luftpost hinaus bis nach Amerika, China und Australien. Denke ich heute zurück an die kleinen Einheitsmarken, wird mir der Massencharakter des Nationalsozialismus mit einem Mal anschaulich. Ich frage mich, von wie vielen Millionen Menschen Hitler seinerzeit abgeleckt wurde, freiwillig oder widerstrebend, jedenfalls abgeleckt. Die Vorstellung dieser sklavischen Vielzüngigkeit, Doppelzüngigkeit, klebrigen Servilität hat etwas Entsetzliches.

Wenn es nicht das Schwammkissen am Postschalter war, dann mußte eine Menschenzunge ihn auf der Rückseite befeuchtet haben. Ich stelle mir all die Situationen vor, in denen das geschehen war, unbeachtete, intime Momente, und dazu die Anlässe und die verschiedenen Orte auf dem neuen europäischen Kriegsschauplatz. Den strahlenden Julitag am Tisch eines Münchner Biergartens oder einen Spätsommerabend in Wien unter Weinranken beim Heurigen nach dem Gruß an die Lieben daheim. Die Postkarte an die Tante, mit einem kräftigen Faustschlag auf die widerspenstige Marke besiegelt, wenn der Wehrmachtskamerad eben verschwunden war auf die Toilette. Oder beschwingt auf ein Briefchen an die Liebste geklebt, Monate vor der Abkommandierung an eine der Fronten. An einem Winterabend in der Wachstube einer Kaserne im besetzten Polen als Feldpostsendung, nach einem Ausgang durch Warschau, entlang der Barrikadenzäune des neu errichteten Ghettos – und einer schrieb an die Mutter: »Es wimmelt noch von Juden hier.« Oder zum Jubiläum Zwei Jahre Generalgouvernement aus einer Kaserne im besetzten Lublin verschickt. Aus einer Berliner Kaschemme nach durchwachter Nacht, Stunden bevor man den Truppenzug in Richtung Rußland bestieg.

Jedesmal war es der gleiche selbstvergessene Akt gewesen, etwas Affenhaftes wie das Lausen der Felle, das Ablecken eines Stöckchens, an dem Ameisen kleben – ein bedingter Reflex, wie es im modernen, zwangsläufigen Leben nun so viele gab. Wer sich dabei ertappte, war wohl für einen Augenblick beschämt, dachte auch kurz an die Ansteckungsgefahr, vergaß es aber sofort wieder und hatte das nächste Stück Wertzeichen bereits angefeuchtet.

Die violette Briefmarke im Wert von sechs Pfennig mit dem Bild Adolf Hitlers und der Aufschrift Deutsches Reich – wie eine giftige Pflanze, eine Sumpfblüte, klebte sie da auf allen Postkarten jener Zeit. Ich erinnere mich, wie ich sie beim ersten Mal lange betrachtet habe, wohl wissend, daß ich etwas Verbotenes tat. Damals bin ich in dieses kleine Rechteck hinabgestürzt wie die neugierige Alice in den Kaninchenbau – und zwischen die Zeiten und Zeichen geraten. So muß sich ein Bergwanderer fühlen, wenn er im Gebirge unverhofft auf das seltene Edelweiß stößt. 

Später, wenn mir die Marke hier und da wiederbegegnete, zitterte manchmal noch etwas von dem Gefühl des Ungeheuerlichen nach, von der beschämenden Erfahrung, damals durch schwankenden Boden gebrochen zu sein. Durch diese kleine Membran war ich, ohne Vorwarnung, hineingezogen worden in das grauenvollste Kapitel deutscher Geschichte. In Vladimir Nabokovs Erinnerungen Speak, Memory stieß ich später auf eine Stelle, die mir die längst verschollene Markensammlung wieder vor Augen führte. Der Erzähler berichtet von seiner Exilzeit im Berlin der dreißiger Jahre und davon, wie er mit seinem Kind, dem kleinen Dmitri, zum Spielen oftmals die öffentlichen Parkanlagen aufgesucht hatte. »Unser Sohn muß an jenem windigen Tag in Berlin (wo natürlich niemand der Bekanntschaft mit dem allgegenwärtigen Bild des Führers entgehen konnte) fast drei Jahre alt gewesen sein, als wir, er und ich, vor einem Beet mit bläßlichen Stiefmütterchen stehenblieben, deren jedes auf dem nach oben gewandten Gesicht einen schnurrbartartigen Fleck hatte, und auf meine ziemlich alberne Anregung hin Bemerkungen über ihre Ähnlichkeit mit einer Schar nickender kleiner Hitlers machten.«

Es war diese Ähnlichkeit mit etwas scheinbar Naturgegebenem, einem Blumenmuster, eine bloße Farb- und Formimpression, die auch mich mit meinen Briefmarken in Verwirrung gestürzt hatte. Die violette Briefmarke, längst entrückt, plötzlich war sie wieder da, wurde größer und kleiner und oszillierte zwischen einer brutalen Nähe und einer schwindelerregenden Ferne. In dem Fetzen zähnchenumrandeten Papiers war sie greifbar geworden, die Formel vom Einzelnen und der Masse. Die violette Marke mit dem Profilbild des »Führers« war ein Abgrund, der jederzeit aufbrechen konnte. Hier der Einzelne als serielle, graphische Nummer, der Mann aus dem Wiener Männerheim, die inferiore Gestalt, ein Namenloser, einer unter acht Millionen, wie er sich selber in seinem Kampfbuch beschrieben hatte, und da ein Volk aus lauter Habenichtsen und Enttäuschten, die ihn, die gescheiterte Existenz, als einen aus ihrer Mitte an die Spitze gehoben hatten – eine Masse, die ihrerseits aus lauter Millionen Namenloser bestand. Die Briefmarke stand für den zufälligen Einen, den Einzelnen, der sich zum Medium der Vielen gemacht hatte, die ihn...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2020
Zusatzinfo Mit 40 Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 1933 bis 1960 • Autobahn • Briefmarken • Collage • Deutsche Geschichte • Dichtungstheorie • Essayistik • Fotografie • Geschichte • Lord Weidenfeld Lectures • Nationalsozialismus • Postkarten • Universität • Vorlesungen • Zeithistorie • Zeitzeugenschaft
ISBN-10 3-518-75342-8 / 3518753428
ISBN-13 978-3-518-75342-2 / 9783518753422
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