Kirche der Armen? (eBook)

Impulse und Fragen zum Nachdenken. Ein Handbuch.
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
479 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06342-9 (ISBN)

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Kirche der Armen? -
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Wie kann die Kirche in Europa zu einer Kirche der Armen werden? Und soll sie das überhaupt?Dieser Wunsch von Papst Franziskus wird im Kontext von neuer Armut und Migration auch für Europa brisant. Caritas-ExpertInnen, TheologInnen, Personen aus der Praxis und VertreterInnen unterschiedlicher Konfessionen und Religionen reflektieren aus bibel- und praktisch-theologischer, sozialwissenschaftlicher und sozialethischer Perspektive Konzepte wie Armut, Gerechtigkeit, Caritas und Diakonie. Mit prägnanten Begriffserklärungen, Interviews, Außenperspektiven aus Wirtschaft und Kunst, Einblick in Praxiserfahrungen regt das Handbuch zum Nachdenken und Weiterfragen an: Was kann 'Armut' als kirchlicher Auftrag heute bedeuten?

Frank G. C. Sauer, Universitätsassistent am Institut für Praktische Theologie - Pastoraltheologie und Kerygmatik in Wien, Mitglied der Church of England

Frank G. C. Sauer, Universitätsassistent am Institut für Praktische Theologie - Pastoraltheologie und Kerygmatik in Wien, Mitglied der Church of England

Armut in Westeuropa

Situation und Herausforderungen

Martin Schenk

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Armut in den westeuropäischen Ländern, ihren Ausprägungen und ihren Unterschieden. Dazu werden die wichtigsten Indikatoren zu Rate gezogen und die Ergebnisse in den Kontext sozialstaatlicher Sicherung gesetzt. Aus den sozialempirischen Daten wird auf die Herausforderungen geschlossen, mit denen sich Armutsbekämpfung und -vermeidung in Westeuropa aktuell konfrontiert sieht. Dabei kommen Wohnen, Gesundheit, sozialer Aufstieg, Pflege, Prekarität und die Suche nach Anerkennung in den Blick.

1. Armut: Verhältnis, Freiwilligkeit und Freiheit

Armut setzt sich stets ins Verhältnis. Sie manifestiert sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 700 € im Monat leben müssen, hilft es wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen könnten. Die Miete ist hier zu zahlen, die Heizkosten hier zu begleichen und die Kinder gehen hier zur Schule. Deshalb macht es Sinn, Lebensverhältnisse in den konkreten Kontext zu setzen. Armut ist weniger ein Eigenschafts- als ein Verhältniswort.

Die Ohnmacht: Armut ist das Leben, mit dem niemand tauschen will. Hier geht es nicht um freiwillig gewählte Armut wie sie zum Beispiel von Mönchen oder Asketen praktiziert wird. Freiwillig gewählte Armut braucht einen Status, der den Verzicht zur Entscheidung erhebt. Unfreiwillige Armut sieht anders aus. Armutsbetroffene haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die kleinsten und feuchtesten Wohnungen, sie haben die krank machendsten Tätigkeiten, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um durchschnittlich sieben Jahre früher als Angehörige der höchsten Einkommensschicht.1 Fasten ist nur dann Fasten, wenn die Möglichkeit, etwas zu essen, offen steht, sonst sind wir beim Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit.

Die Unfreiheit: Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern, sondern auch an Möglichkeiten. Armut heißt eben nicht nur ein zu geringes Einkommen zu haben, sondern bedeutet einen Mangel an Möglichkeiten, um an den zentralen gesellschaftlichen Bereichen zumindest in einem Mindestausmaß teilhaben zu können: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Armut ist eine der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust2. Freiheit zum Beispiel über Raum zu verfügen: aus einer runtergekommenen Wohnung wegziehen können oder eben nicht. Oder sich frei ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen oder nicht. In Armut kann man sein Gesicht vor anderen verlieren. Oder die Verfügbarkeit über Zeit: Frauen mit Kindern in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, die nicht entscheiden können, wann und wie lange sie arbeiten und wann eben nicht. Oder die Freiheit sich zu erholen. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Nicht weil die Manager weniger Stress haben, sondern weil sie die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem Flug nach Paris, einem guten Abendessen und Hilfen im Haushalt.

2. Soziale Ungleichheit

Der Begriff soziale Ungleichheit definiert Unterschiede zwischen Gesellschaftsmitgliedern bezüglich sozialer Schichtmerkmale, wie z.B. Einkommen, Teilhabe an den Bildungsgütern, berufliches Sozialprestige, verfügbarer Besitz, Gesundheitsrisiken von Arbeitsbedingungen und Wohngegend. Die wichtigste Determinante sozialer Ungleichheit stellte nach Hradil3 in vorindustriellen Ständegesellschaften die Geburt dar, in der beginnenden Industriegesellschaft war es der Besitz und in den modernen Industriegesellschaften entwickelte sich der Beruf zum zentralen Ungleichheitsfaktor. Sage mir welchen Beruf Du ausübst und ich sage Dir, wo Du in der Gesellschaft stehst. Als bedeutsamste Dimensionen sozialer Ungleichheit gelten heute berufliche Position, Einkommen und Bildung, die für die Konstruktion sozialer Schichten miteinander kombiniert werden.

Dieser sozioökonomische Status entspricht einer vertikalen Ungleichheit, die mit anderen Dimensionen verwoben ist wie Gesundheit, Wohnsituation, sozialen Kontakten und auch Lebensstilen. Wenn Einkommen ungleich verteilt ist, spricht man von Verteilungsungleichheit. Unter Chancenungleichheit hingegen versteht man, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Frauen oder Zugewanderte „innerhalb der Verteilung eines knappen, begehrten Gutes eine bessere oder schlechtere Stellung einnehmen“4.

Die drei Dimensionen des Schichtindikators haben auch ihre Grenzen. Die berufliche Position gilt nur für die eine Hälfte der Bevölkerung: die Erwerbstätigen. Für die andere Hälfte wie PensionistInnen, Arbeitslose und viele Armutsbetroffene ist der Berufsstatus nicht ermittelbar. Und für gut ausgebildete „Ich-AG“s und studierte Taxifahrer verbindet sich hohe Bildung nicht mehr mit hohem Einkommen.

Vertikale und horizontale Ungleichheiten sind miteinander verwoben. Es ist nicht so, dass in der postindustriellen Gesellschaft soziale Schichten bzw. sozialer Status vom Milieu bzw. der Lebenslage abgelöst werden, sondern es zeigen sich neue Verknüpfungen und Abhängigkeiten. Pierre Bourdieu5 hat mit dem Begriff des „Habitus“ den Brückenkopf beschrieben, der in einem Feedbackprozess soziale Position und Lebensstil verbindet.

3. Armut in der Europäischen Union

Wenn wir nun die Daten der empirischen Sozialforschung vergleichen, können wir in West-Europa unterschiedliche Entwicklungen beobachten. Der Indikator „Armutsgefährdung und Mehrfach-Ausgrenzung“ umfasst die drei Gruppen „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Deprivation“ und „Personen in Haushalten mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität“ (vgl. Abb. 1). Armutsgefährdung bedeutet so viel wie Einkommensarmut, also ein Leben unter der mit Haushaltseinkommen berechneten Armutsgrenze. Als „erheblich materiell depriviert“ gelten Personen in Haushalten, denen es am Notwendigsten mangelt, die Wohnen, Ernährung, Gesundheit, Wärme beraubt („deprivare“) sind. Westeuropäische Länder, die weniger als 4% „erheblich deprivierte“ Personen aufweisen, sind Schweden, Niederlande, Finnland, Dänemark, Österreich und Luxemburg. Länder mit höherer sozialer Ausgrenzung sind Portugal, Spanien, Italien, Irland und Griechenland. Bei „Armutsgefährdung“ haben Großbritannien und Deutschland relativ hohe Werte.

Abb. 1: Armut in Europa6

NEET-bedeutet im Englischen Not in Education, Employment or Training. Der Begriff bezeichnet die Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden. Italien hat die höchste NEET-Rate (22,2%), gefolgt von Bulgarien (21,6%), Griechenland (20,6%), Zypern (18,7%), Kroatien (18,6%), Spanien (18,6%), Rumänien (17,2%), Irland (16,1%), Ungarn (15,4%) und Portugal (14,2%).7 Alle diese Länder verzeichnen ein massives Anwachsen der Jugendarbeitslosigkeit seit 2008. Das Land der EU-28 mit dem größten Anstieg ist Zypern, dicht gefolgt von Griechenland. Deutliche Zuwächse sind auch in Rumänien, Italien, Spanien und Portugal zu verzeichnen (Abb. 2).

Abb. 2: Jugendarbeitslosigkeit in Europa8

Eine vergleichende Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments,9 dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, führt die Ergebnisse von nationalen Studien aus Belgien, Zypern, Griechenland, Irland, Italien, Spanien und Portugal über die Auswirkungen der Finanzkrise und der Austeritätspolitiken zusammen und analysiert deren Auswirkungen auf die Grundrechte in der Europäischen Union: In allen sieben Ländern kam es zur Reduktion von LehrerInnen an den Schulen, obwohl die SchülerInnenzahlen gestiegen sind. In Griechenland wurden Schulen nicht mehr beheizt und Schulstandorte wurden geschlossen, was den Zugang zur Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen erschwerte. In Spanien sparte man bei der Schulausstattung, sogar bei den Schulbüchern. In Griechenland kam es zu gravierenden Einschnitten zusätzlich im Gesundheitssystem. Dabei wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung so aufs Spiel gesetzt, dass sogar die Kindersterblichkeit anstieg. Auch die Wartezeiten für Operationen sind explodiert, gleichfalls in Spanien, Irland und Zypern. Diese Kürzungen in den Gesundheitssystemen haben die Ärmsten am härtesten getroffen.

3.1. Der Elefant im Weltladen und der Sozialstaat

Er hat einen breiten, hohen Rücken, der Kopf mit Mund geht nach unten, der Rüssel zeigt nach oben. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Entwicklung der Einkommen in den letzten 30 Jahren ab – in einer Grafik, die als Elefantenkurve bekannt geworden ist.

Abb. 3: Einkommenszuwachs und Verlust weltweit

Beim Schwanz hinten, ganz unten wird der arme, abgehängte Teil der Weltbevölkerung sichtbar. Dort, wo sich des Elefanten Rücken befindet, ist der Anstieg der Einkommen der städtischen Mittelschichten in China und Indien abgebildet. Dort, wo der Mund nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2020
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Armut • Caritas • Gerechtigkeit • Kirche • Migration • Nächstenliebe • Pastoral • Sozialethik
ISBN-10 3-429-06342-6 / 3429063426
ISBN-13 978-3-429-06342-9 / 9783429063429
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