Vorwort

Mit diesem Werk legen wir ein neues, großes Botanik-Lehrbuch vor. Bei der gemeinsamen Arbeit daran haben wir besonders an drei kognitive Leistungen der Menschen gedacht, die unser Buch zur Hand nehmen: Sehen – Lesen – Lernen. Dadurch kann man über die Aufnahme von Information und die Verarbeitung von Fakten zum Wissen und schließlich durch Reflexion zum Verstehen gelangen.

Im Sehen begeistern wir uns für die Wunder der Natur, wie wir sie im Leben der Pflanzen wiederfinden. Bei der unermesslichen Vielfalt der Formen und Funktionen des Lebens auf der Erde sind unter allen Naturwissenschaftlern besonders die Biologen zu andauerndem präzisen Beobachten der Natur aufgefordert. Da dürfen und sollen wir staunen. Das ist der Anfang. Dann müssen wir durch Analysen und Experimente Information sammeln und Wissen schaffen und durch interpretierendes und reflektierendes Nachdenken Verstehen erarbeiten. Durch die reichhaltige Auswahl von Bildern ohne und mit Abstraktion und auf den verschiedenen Ebenen der räumlichen Skalierung wollen wir auch im Buch selber das Sehen fördern. In diesem Sinne sollen die Titelbilder der 42 einzelnen Kapitel die Vorstellungskraft anregen und neugierig machen, ein Kapitel aufzuschlagen. Ohne eigene Legende symbolisieren alle Titelbilder den Inhalt der jeweiligen Kapitel. Vielfach ist dies metaphorisch. Manchmal findet man im Inneren des Kapitels eine Wiedererkennung und gelegentlich einen konkreten Hinweis.

Beim Lesen reichern wir unser Wissen an und dringen zum Verstehen vor. Solches Lesen kann konzentrierte Arbeit, aber auch Unterhaltung sein. Wir haben uns daher bemüht, für den Fluss des Textes eine Sprache zu finden, die als angenehm empfunden wird und zum Lesen verführt. Wir wollen gerne auch Leser gewinnen, die außerhalb von praktischen Bedürfnissen des Lernens und beruflichen Zielen spüren, dass die Faszinationen des Pflanzenlebens in hohem Maße unterhaltend sein können. Dies darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass wirklich einprägendes Verstehen im Umgang mit der Information und dem Wissen Arbeit erfordert. Die in den Text eingestreuten „Kompakte“ mit besonders hoher Dichte von Fakten können dabei als Hintergrundinformation verstanden und beim flüssigen Lesen ruhig überschlagen werden.

Für das Lernen auf einem vertieften Niveau der Botanik wollen wir eine lückenlose Übersicht über das Gesamtgebiet geben, verbunden mit dem Bekenntnis und dem Mut zur Lücke. Das klingt paradox. Wir glauben, dass im wissenschaftlichen Studium durchaus eine lückenlose Übersicht erworben und durch Lernen auf Examina reproduziert werden kann. Das Bekenntnis zur Lücke sollte dann eigentlich gar keinen Mut erfordern sondern dankbar als Entspannung aufgenommen werden. Es ist vollkommen unmöglich, alle Details zu kennen. Die Auswahl der Beispiele kann willkürlich sein und sollte auch in Examina individuell verschieden sein dürfen. In diesem Sinne erschien es uns selbstverständlich, die Wahl der Beispiele in den Teilbereichen zu beschränken. Wir wollten auf keinen Fall ein Handbuch oder Nachschlagewerk erzeugen. Wir haben dafür versucht, alle ausgesuchten Phänomene als Information ausführlich zu beschreiben, als Wissen ihre Bedeutung aufzuzeigen und sie zum Verstehen soweit möglich durchsichtig zu machen. Die „Kompakte“ bringen dazu wichtige Begriffe und Inhalte in übersichtlicher Form und können für das Einprägen nützlich sein. Die Beschäftigung mit den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel kann dabei der Selbstkontrolle dienen, da neben alle zusammenfassend herausgearbeiteten Punkte Fragen gestellt sind, die mit der im jeweiligen Kapitel, oft aber auch an anderen Stellen des Buches gegebenen Information aus dem erworbenen Wissen und Verstehen heraus beantwortet werden können. Bei den Empfehlungen für weiterführende Literatur haben wir uns darauf konzentriert, Werke aufzuführen, die über den von uns erarbeiteten Überblick hinausgehen oder die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten, die aber gleichermaßen allgemeinen Wissensstoff vermitteln. Hinweise auf Spezialliteratur und Originalarbeiten hätten diesen Rahmen gesprengt.

Indem wir in diesem Lehrbuch der Botanik die umfassende Biologie der Pflanzen präsentieren, also alle Bereiche der Botanik umspannen, folgen wir der Stufenleiter der Skalierungsebenen von 16 Größenordnungen im Raum und 32 Größenordnungen in der Zeit, wie sie im Kapitel 3 in Abbildung 3-3 symbolisiert sind. Das Buch als Ganzes ist für diejenigen gedacht, die den Überblick über das Ganze suchen und die Botanik als einen Schwerpunkt in ihrem Studium wählen. In verkürzter Form bietet auch unsere „Botanik“ für Nebenfächler (ULRICH LÜTTGE, MANFRED KLUGE, GABRIELA BAUER, 5. Auflage, 2005, Wiley-VCH) den Gesamtüberblick. Hier ist dies nun vertieft, und die Gliederung in große Abschnitte und einzelne Kapitel ist stark erweitert. Diese Gliederung des Stoffes sprengt die Grenzen der etablierten Disziplinen der Botanik – Morphologie und Anatomie, Physiologie, Systematik, Ökologie und Pflanzenverbreitung – und umfasst sie doch alle. Ein Leitfaden war uns dabei die Evolution. Wir beginnen unsere Darstellung mit der Evolution des Lebens, bei der frühzeitig photoautotrophe, pflanzenähnliche Stadien aufgetreten sind und versuchen dann, wo immer es möglich ist, dem Gang der Evolution, die zunehmend komplexere Formen geschaffen hat, als rotem Faden zu folgen.

Das kleinere Buch ist in der vorliegenden umfangreicheren Version aufgegangen, und der Leser beider Bücher wird viele Bilder und manche Textabschnitte wiedererkennen. Dies entspricht dem Programm unseres Verlages Wiley-VCH, für große Fächer jeweils ein kleines Lehrbuch für Nebenfächler und ein großes Lehrbuch für Hauptfächler bereit zu halten. Wer sich erst nach der Arbeit mit unserem kleineren Lehrbuch für die Vertiefung und die umfassende Biologie der Pflanzen und das größere Lehrbuch entscheidet, mag viele Anknüpfungsmöglichkeiten als nützlich und angenehm empfinden. Alle aus dem kleineren in das größere Buch übernommenen Teile sind aber nahtlos eingearbeitet worden, und es gibt keine Bruchstellen. Die einzelnen Kapitel sind auch so weit in sich geschlossen, dass sie für sich verständlich werden können, wenn man sich nur jeweils einem Teilaspekt besonders zuwenden will. Gleichwohl sind die einzelnen Kapitel alle deutlich miteinander vernetzt. Durch zahlreiche Querverweise zwischen verschiedenen Kapiteln wird das im Text deutlich gemacht, und dies soll helfen, den Gesamtaspekt nie aus den Augen zu verlieren.

Naturwissenschaft ist prinzipiell ein immerwährender Prozess. Kausale Erklärungen sind nur in den seltensten Fällen lückenlos und daher kaum vollendet. Dies gilt natürlich auch für unser Buch. Es gibt immer Neues zu entdecken, das neue Information schafft, unser Wissen erweitert und unser Verstehen beeinflusst. Dabei soll man nach dem erkenntnistheoretischen Gebot von KARL POPPER nicht danach trachten, Aussagen zu verifizieren, sondern Möglichkeiten suchen und nutzen, zu falsifizieren. Ein Satz, der die logische Form der Allgemeinheit hat, ist empirisch widerlegt (falsifiziert), wenn es ein einziges Gegenbeispiel gibt, empirisch bewiesen aber erst, wenn alle unter ihn fallenden Einzelfälle vorgeführt sind – ein unmögliches Unterfangen.

Man kann daher die Naturwissenschaft niemals als abgeschlossen betrachten. Dies gilt gegenwärtig auch ganz besonders für die Biologie und damit die Botanik. Durch eine explosive Entwicklung analytischer Methodik haben die „-omics“ zu einem ungeheuren Anwachsen der Information geführt, mit riesigen Datenbergen über Gene („Genomics“), Transkripte („Transcriptomics“), Proteine („Proteomics“), Metabolite („Metabolomics“) und eine Menge weiterer struktureller und funktioneller Bestandteile von Lebewesen. Damit will man ganze Systeme möglichst vollständig erfassen. Wenn das anfangs zum Prägen des neuen Begriffs Systembiologie geführt hat, mausert sich Systembiologie jetzt vom Sammeln reiner Information zum Erarbeiten von Wissen und zum reflektierenden Verständnis. Die Molekularbiologie war und ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Sie ist aber Methodik. Die Information der „-omics“ findet Verarbeitung in der Bioinformatik, was Wissen fördert. Die von Biomathematik gestützte theoretische Biologie zeigt grundlegende Prinzipien auf und schafft Verständnis. Wir weisen darauf in unserem Buch immer wieder hin, haben aber auch die grundlegend ausgerichteten Kapitel 3, 18 und 39 dazu eingestreut.

Eine ganz andere Seite sind technologische, praktische Anwendungen, die das Interesse der gestaltenden Menschen erwecken. Wie andere...