Hotel der Schlaflosen (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75355-2 (ISBN)
Nach dem überaus erfolgreichen, in fünfundzwanzig Sprachen übersetzten Roman-Diptychon Im Frühling sterben und Der Gott jenes Sommers legt Ralf Rothmann mit Hotel der Schlaflosen seinen neuen, von mitreißender Sprachkraft und großer Empathie getragenen Erzählungsband vor, elf Meisterstücke - und en passant eine Chronik menschlicher Befindlichkeiten von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart.
Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.
Wir im Schilf
Gegen Ende der Probe verzogen sich die Wolken, und als mit dem Licht hinter den Kirchenfenstern auch die Violintöne heller zu werden schienen, riss die Saite über dem Steg. Ein schwarzer Draht, pendelte sie unter dem Wirbelkasten, und Emilia spielte das Glissando ohne E, wobei sie die Bruchstelle aus dem Lidwinkel betrachtete. Schräg war sie und schimmerte matt wie der Anschliff einer sehr feinen Kanüle.
Ihr wurde schwindelig, und noch während der Schlussakkord ihres Bruders ausklang, legte sie das Instrument auf den Flügel und bückte sich nach ihrer Handtasche. Außer den homöopathischen Tropfen und der Schachtel Aspirin gab es weiße und blaue Pillen darin, für den Tag, für die Nacht. Sie drückte eine aus der Folie, hielt sie mit den Zähnen und kramte zwischen Schminkzeug, Lufthansa-Erfrischungstüchern und der neuen Vogue nach ihrer Wasserflasche.
Stumm hatte sie in der Praxis in Zürich gewartet, bange wie die meisten. Man konnte über den See voller Jollen bis zur so genannten Goldküste blicken und weiter, hockte aber wie geduckt hinter den großen Pflanzen, die zwischen den Sesseln standen, eine Art Zierschilf, und blätterte in Illustrierten. Eine Frau, gut zehn Jahre jünger als sie, wurde vor allen anderen aufgerufen und kam schon nach wenigen Minuten wieder zurück, fahl im Gesicht, die Lippen blutleer. »So«, sagte sie zu ihrem Mann, der sich nur zögernd von seinem Smartphone löste, »jetzt kann ich mich eigentlich umbringen.« Und da erst hatte Emilia bemerkt, dass die Fenster der Röntgen- und Diagnosepraxis, alle Fenster in diesem fünften Stock, vergittert waren.
Als sie später auf die Straße trat, beide Ellenbeugen verpflastert, denn sie hatte zarte Venen und war wieder und wieder gestochen worden, fiel ihr ein frisch geklebtes Plakat vor dem Haus auf: Iggy Pop, Hallenstadion. Der Leim tränte über das blondierte Haar und das immer noch schmale, von Schmerz und Drogen zerfurchte Gesicht des alten Sängers, mit dem er neuerdings auch Reklame für Parfüms und Familienautos machte, und als sie die Ankündigung später am Airport noch einmal sah, klebte bereits ein »Ausverkauft« über dem Foto.
Leer die kleine Wasserflasche, die sie immer bei sich trug, und ihr Bruder nahm das Instrument vom Flügel und musterte die gerissene Saite. »War die nicht neu?«, fragte er. »Hast du noch die Quittung?« Auch er hatte im Mantel geprobt, einem dünnen Kaschmirmantel, und Emilia beugte sich über eine der leeren Bodenvasen neben dem Altar und öffnete resigniert den Mund. Mit einem hohen Ton fiel die Pille in das Innere.
Der Klavierstimmer, der ihnen auf der Empore zugehört hatte, die Hände wie Muscheln hinter den Ohren, kam langsam durch die Kirche und sah sie fragend an. Er trug eine teuer zerschrammte Lederjacke und schwere Stiefel, und David nickte, der Flügel war in Ordnung. Ein schöner Mann oder einer, der ihm gefiel, was man am Trinkgeld erkennen konnte; der Klang seiner Absätze in der hallenden Kirche, das Metrum von Jugend und gesunder Kraft, wurde lauter mit zunehmender Entfernung. Fast schon war er am Taufstein, auf dem sein Motorradhelm lag, als Emilia den Kopf hob und rief: »Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?«
Natürlich rauchte er nicht, und David stieß etwas Luft durch die Nase und öffnete seine Tasche, weiches Kalbsleder aus Aix, ihr Geschenk zu seinem Sechzigsten. Er zog das Allegro con spirito in der G-Dur-Sonate hervor und tippte auf den letzten Takt. »Hier sind zwei Viertel, das habe ich gewusst. Da kannst du das Tempo nicht so schleppen, Emi. Lass uns das gleich noch einmal spielen, ja?«
Der Küster, ein älterer Afrikaner, kam aus der Sakristei und verteilte einen Armvoll Lilien in den Vasen, jene Sorte, die voll erblüht nach durchgeschmorten Kabeln riecht, und langsam schüttelte sie den Kopf; sie war es gewohnt, dass David ihr kaum zuhörte. Den Mund geöffnet, zeigte er auf ihren Geigenkasten, die samtrote Vertiefung, und fragte: »Wieso ›keine Ersatzsaiten‹? Wo sind die denn?«
In Zürich, in dem Behälter aus Plexiglas an der Wand, hatten schon etliche Scheren, Taschenmesser, Feuerzeuge und Flacons gelegen. An diesem Sonntag, Punkt Mitternacht, waren auch in der Schweiz die neuen Bestimmungen für die Flugsicherheit in Kraft getreten, und nachdem der Beamte in seinem Verzeichnis nachgesehen und mit einem Vorgesetzten telefoniert hatte, nahm er die vier Briefchen aus Wachspapier an sich. »Tut mir leid, Madame, aber die dürfen nicht mit an Bord.«
Und nach ihrer erstaunten Frage hatte er beide Hände vor seinem Hals geballt, eine imaginäre Schlinge zugezogen und gesagt, sie könnte die Drähte ja als Waffe benutzen. Das war ihm so ernst, wie er aussah, der eidgenössische Uniformierte, und den Widerspruch, dass er seiner seltsamen Verordnung gemäß dann auch die Saiten von ihrem Instrument nehmen müsste, einer Galimberti von 1925, ließ sie vorsichtshalber unerwähnt. Der Check-in begann in wenigen Minuten.
Es gab noch einen neuen Satz im Reisegepäck, natürlich, aber das hatte ihr Bruder vom Flughafen Tegel ins Hotel liefern lassen, weil nach der Matinee ein Lunch mit irgendwem von der Plattenfirma anstand. Seine Augenlider zuckten, und er blickte auf die Uhr, polierte das Glas mit der Manschette. Noch fast zwei Stunden Zeit hatten sie, die Straßen waren frei, die Unterkunft lag in der Nähe, und trotzdem stöhnte er: »Herrgott, Emi, muss das jetzt auch noch passieren! Kann nicht einmal etwas glattgehen bei uns?«
Sie lächelte müde. Seit über dreißig Jahren ging immer alles glatt, aber er brauchte diese Erregung, sie war der Pfeffer in seiner Routine. Er musste mindestens eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof sein und stand oft schon vor dem Öffnen der Schalter auf den Flughäfen herum. Mit seiner Idee von Professionalität, zu der unbedingt Pünktlichkeit gehörte, rettete er sich vor den Leerstellen im Leben, dachte Emilia manchmal; nicht professionell zu sein war das Schlimmste, bei sich und bei anderen. Dass mit dem Pochen darauf schon die Stümperhaftigkeit beginnt, dass wahrhaftiges Tun keine Professionalität braucht – der Gedanke war irgendwo in seiner Jugend begraben, als er Skrjabin mit dem Ellbogen gespielt hatte.
Ihm noch nichts von der Diagnose erzählt zu haben, kam ihr einmal mehr richtig vor angesichts seiner Nerven, die schon bei einer gerissenen Saite schwach wurden. Das Hotel befand sich in der Gothaer Straße, kaum fünfzehn Minuten entfernt, und während der Küster ihm Rooibostee kochte, ging Emilia vor das Portal, massierte sich die Fingergelenke und wartete auf das Taxi. Ein milder Sonntag im frühen Oktober, ein Feiertag zudem; Wind fuhr in ihr frisch getöntes braunes Haar und ließ den offenen Trenchcoat flattern, Möwen kreischten über dem Kanal. Auf den Straßen kein Mensch.
Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie sich kaum je um Pünktlichkeit bemüht; dennoch war sie noch nie, nicht einmal bei Wetterkatastrophen oder Streiks, unpünktlich gewesen. Stets waren ihre Instinkte zuverlässiger als jede Uhr, und das hatte sie gelassen gemacht mit den Jahren – was nicht hieß, dass sie nicht gelegentlich Träume quälten, in denen sie grob verspätet auf die Bühne eilte und die falschen Noten aus der Tasche zog, während mehr und mehr Menschen den Saal verließen …
Das Taxi hielt, ein Mercedes ohne Stern, die rissigen Kunstledersitze im Fond waren kalt. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Schnäuzer, nickte ihr zu, und als sie die Tür schloss, bemerkte sie einen Geruch im Auto, der ihr bekannt vorkam, ohne dass sie ihn gleich einordnen konnte. Ein verblichener Wunderbaum pendelte unter dem Spiegel.
»Ich dachte schon, ich bin noch blau«, sagte der Mann und wies mit dem Daumen auf das Plakat an der Kirchentür, die Ankündigung der Matinee, Schubert, Bartók, Brahms. Er hatte einen leichten arabischen Akzent und jede Menge Gold im Mund. »Sie sehen aber besser aus als auf dem Foto!«
Unwillkürlich strich sie sich eine Strähne hinters Ohr. »Ach, danke! Aber darauf bin ich viel jünger!«
»Na und?« Er schob einen Gang ein. »Jünger ist blöder, oder? Also kann jünger nicht schöner sein. Wohin?«
Sie nannte ihm das Fahrtziel, und langsam bog er auf die Potsdamer Straße. Irgendetwas schleifte unter dem Bodenblech oder im Radkasten des alten Autos. In...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Angst • Berlin • Gegenwart • Gerty-Spies-Literaturpreis • Gott jenes Sommers • Heinrich-Böll-Preis • Heinrich-Böll-Preis 2005 • Hoffnung • Im Frühling sterben • Kleist-Preis • Kleist-Preis 2017 • Max-Frisch-Preis • Milch und Kohle • Moskau • Nachkriegszeit • Premio San Clemente 2017 • Ruhrgebiet • Shakespeares Hühner • Thomas-Mann-Preis 2023 • Tod • Uwe-Johnson-Preis • Uwe-Johnson-Preis 2018 • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2004 |
ISBN-10 | 3-518-75355-X / 351875355X |
ISBN-13 | 978-3-518-75355-2 / 9783518753552 |
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