Zerrissen (eBook)
400 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45745-0 (ISBN)
Prof. Dr. Michael Tsokos, Jahrgang 1967, ist Professor für Rechtsmedizin und leitet das Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin in Berlin. Michael Tsokos ist der bekannteste deutsche Rechtsmediziner und regelmäßig als Experte im In- und Ausland tätig, beispielsweise für das BKA bei der Identifizierung der Opfer von Terrorangriffen und Massenkatastrophen. Seine bisherigen 27 Bücher waren allesamt SPIEGEL-Bestseller. Folgen Sie Michael Tsokos auf Instagram: @dr.tsokos
Michael Tsokos, 1967 geboren, ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité. Seine Bücher sind allesamt Bestseller. Einige seiner True-Crime- und Sachbuch-Bestseller wurden bereits mit hochkarätiger Besetzung erfolgreich verfilmt. Weitere TV-Produktionen sind in Arbeit. Wolf-Ulrich Schüler arbeitet als Journalist bei RTL und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Köln.
2
Berlin-Mitte,
Kinderintensivstation der Charité,
Donnerstag, 24. Juli, 11:10 Uhr
Der Tod hatte diesmal eine Ausnahme gemacht. Warum auch immer. Wahrscheinlich waren es nur ein paar wenige Faktoren gewesen, die verhindert hatten, dass das kleine Mädchen an seinen schweren Kopfverletzungen verstarb. Vielleicht war es aber auch nur purer Zufall. An so etwas wie einen Schutzengel glaubte Dr. Fred Abel jedenfalls nicht.
Der Rechtsmediziner von der rechtsmedizinischen Abteilung der BKA-Einheit »Extremdelikte« hatte sein zerknittertes Leinenjackett in der Umkleide der Intensivstation abgelegt und gegen einen sterilen Kittel getauscht, der am Rücken geschlossen wurde und ihm bis zu den Unterschenkeln reichte. Er saß jetzt auf einem Hocker, der einzigen Sitzgelegenheit in dem kleinen Intensivzimmer, den er nah an das Krankenhausbett herangeschoben hatte, und betrachtete das knapp zwei Jahre alte Kind. Das Krankenzimmer war erfüllt von dem sonoren Brummen der Beatmungsmaschine, die dem Kind kontinuierlich Sauerstoff über einen Beatmungstubus zuführte. Die schwarzen Haare des kleinen Mädchens, die an Ebenholz erinnerten, lugten hier und da unter dem Kopfverband hervor. Das Kabel einer Hirndrucksonde ragte ebenfalls heraus. Die blasse Haut war weiß wie Schnee und ließ Abel unwillkürlich an Schneewittchen denken.
Wie Schneewittchen, zwischen Leben und Tod.
Allerdings lag die Kleine nicht in einem Glassarg, sondern in einem Klinikbett, umgeben von Gerätetürmen modernster Medizintechnik. Geräte mit daran angeschlossenen Infusionsschläuchen und elektronischen Kabeln, die den Kreislauf stabilisierten und die Vitalfunktionen überwachten.
Es war nicht klar, ob das Mädchen überhaupt jemals wieder aufwachen, jemals wieder zu sich kommen würde.
Abel beugte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel und faltete die Hände.
Das EKG piepste ruhig und gleichmäßig. Die Herzkurve auf dem Monitor zeigte stabile Wellen, die sich vor- und zurückzogen, wie die Brandung im Meer. Die Geräusche der medizinischen Geräte waren das einzige Lebenszeichen des Kindes. Surren. Piepsen. Und das bedrohliche Brummen der Beatmungsmaschine.
Abel beugte sich noch etwas weiter vor, bis er jedes Detail auf den dünnen Unterärmchen erkennen konnte: Unter der papierdünnen Haut zeichneten sich ihre zarten, venösen Blutgefäße ab.
Abels Augen scannten jeden Millimeter der blassen, fahlen Haut des Kindes ab. Frische Abschürfungen oder Blutergüsse? Verschorfungen oder Narben als Zeichen länger zurückliegender äußerer Gewalteinwirkung?
Er konnte nichts dergleichen entdecken.
Besonders an der Innenseite der zarten Oberarme oder an den schmalen Handgelenken von Kindern fanden sich oftmals Griffspuren – Abdrücke der Fingerkuppen, die sich durch festes Zupacken tief in Haut und Unterhautgewebe eingegraben hatten und entsprechende Hämatome zurückließen. Von erwachsenen, starken Händen, die ihre Spuren als stumme Zeugen hinterließen. Wenn sich der Zorn, die Überforderung und die Hilflosigkeit der Großen mit brachialer Gewalt an den Körpern der Kleinsten entluden.
Abels Blick wanderte gerade höher, über das kurzärmelige Nachthemd aus steifer Baumwolle zum Hals des Mädchens, als er jäh aus seinen Überlegungen gerissen wurde.
»Noch mal danke, Herr Dr. Abel, dass Sie gekommen sind und wir auf Ihre Expertise zurückgreifen können. Ich habe die Krankenunterlagen jetzt hier«, sagte der junge Mann leise, der sich geräuschlos hinter dem Rechtsmediziner postiert und dort still verharrt hatte, um den Experten nicht zu stören.
Er hatte sich Abel bei dessen Ankunft als Assistenzarzt Dr. Marco Weise, einer der Stationsärzte der Kinderintensivstation, vorgestellt. Schmales Gesicht. Blonder Seitenscheitel. Anfang bis Mitte dreißig. Hände, die permanent aneinanderrieben.
Ein nervöser Tic, wahrscheinlich ein kleiner Waschzwang inklusive, hatte Abel gedacht, als er vorhin einen kurzen Blick auf die geröteten und schuppenden Hände des Mannes geworfen hatte. Oft war es aber auch das ständige Desinfizieren von Händen und Unterarmen, das Ärzten, die in operativen Fächern oder auf Intensivstationen arbeiteten, diese juckenden, zum Teil allergischen Hautirritationen verschaffte.
Weise war dann, nachdem er Abel das Intensivzimmer mit dem Mädchen gezeigt hatte, im Stationszimmer verschwunden, um die Krankenunterlagen des Kindes zu holen.
»Kein Problem. So funktioniert ein gemeinsamer rechtsmedizinischer Bereitschaftsdienst in der Hauptstadt. Mal sind die Kollegen von der Charité dran, mal die Damen und Herren vom Landesinstitut, und ab und zu sind wir vom BKA an der Reihe«, erwiderte Abel etwas schroffer als beabsichtigt.
Der junge Arzt schien verunsichert.
Abel wusste durchaus um das Spannungsfeld, in dem sich Klinikärzte bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung befanden. Einerseits unterlagen die behandelnden Ärzte ihrer Schweigepflicht und waren an einem vertrauensvollen Arzt-Patient-Verhältnis interessiert, was eine enge Zusammenarbeit und offene Kommunikation mit den Eltern der betroffenen Kinder erforderte. Andererseits waren sie ihrem hippokratischen Eid, alles zum Wohle ihrer Patienten zu tun und weiteren Schaden von ihnen abzuwenden, verpflichtet – was wiederum eine Einbeziehung der Rechtsmedizin bei solchen Verdachtsfällen unerlässlich machte. Aus alldem resultierte nicht selten eine spürbare Zurückhaltung, manchmal sogar Aversion der Ärzte gegen die hinzugerufenen Rechtsmediziner.
Abel kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn und wartete, was Weise zu diesem Fall zu berichten hatte.
»Ich weiß, dass Sie sonst andere Fälle bearbeiten. Größere Sachen. Brutaler. Komplexer. Und komplizierter. Wir wissen, wofür Ihre Abteilung ›Extremdelikte‹ beim BKA sonst zuständig ist«, sagte Weise in entschuldigendem Ton.
Abel blickte flüchtig über die Schulter zu dem Assistenzarzt und erwiderte leise: »Jedes Opfer, egal wie alt oder was ihm zugestoßen ist, hat eine Untersuchung und objektive Einschätzung seiner Verletzungen verdient. Aber Sie ahnen nicht, wie schnell die Dinge kompliziert werden können.« Er sprach mehr zu sich selbst, in der Hoffnung, der Mediziner würde verstehen, dass er nicht hierhergekommen war, um sich zu unterhalten, sondern um Fakten zu erfahren, die er dann in ein Gesamtbild einordnen konnte. Als Weise daraufhin schwieg und keinerlei Anstalten machte, Abel irgendetwas über seine kleine Patientin zu berichten, erhob sich der Rechtsmediziner und beugte sich über das Mädchen. Behutsam schob er das Nachthemd des Kindes über Beine, Bauch und Brust und inspizierte die Körperoberfläche. Doch auch hier: Nichts. Keinerlei Auffälligkeiten.
Abel betrachtete den Hals und das Gesicht der Kleinen und registrierte erst da, dass sie augenscheinlich asiatischer Herkunft war. Für einen kurzen Moment flatterten ihre geschlossenen Lider, und Abel meinte ein leises Stöhnen zu vernehmen. Aber dann lag sie wieder still da.
Wie Schneewittchen in ihrem Glassarg, ging es Abel erneut durch den Kopf.
Der Blick des Rechtsmediziners blieb an der rechten Ohrmuschel hängen. Reste von getrocknetem Blut waren dort noch zu erkennen. Die kleine dunkelbraune, fast schwarze Kruste lag wie eine dünne, fossile Steinschicht auf dem Ohrläppchen des Mädchens. Schädelbasisbruch, ging es Abel durch den Kopf, während er sich zu dem Stationsarzt umdrehte. »Also gut, warum bin ich hier? Warum benötigen Sie in diesem Fall meine rechtsmedizinische Einschätzung?«
Weise begann in der Krankenakte zu blättern, ehe er in monotonem Tonfall daraus referierte: »Siara Zhou, zweiundzwanzig Monate alt. Vor zwei Tagen hier bei uns stationär aufgenommen. Die von der Mutter informierten Rettungskräfte haben sie bewusstlos im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung vorgefunden. Sie konnte reanimiert und stabilisiert werden und ist wegen ihres Zustandes gar nicht erst in die Rettungsstelle, sondern direkt mit dem Notarztwagen in die Neurochirurgie hier im Hause gebracht worden. Gestern Verlegung des Kindes aus der Neurochirurgie zu uns auf Intensiv.«
»Was genau ist passiert? Ich meine, was wissen Sie zum jetzigen Zeitpunkt?«, wollte Abel wissen.
»Die Mutter hat der Notärztin gegenüber erklärt, Siara sei ein sehr lebhaftes Kind und sie, also die Mutter, sei zum Zeitpunkt des Vorfalls der Verletzungen nicht im Zimmer gewesen. Sie wurde am nächsten Tag von der Polizei vernommen und hat dort ausgesagt, dass sie für etwa zwanzig, höchstens dreißig Minuten in der Küche war und die Tür zum Wohnzimmer, in dem sich Siara und ihre Zwillingsschwester aufhielten, geschlossen hatte. Die beiden Mädchen toben manchmal wild, ziehen sich überall hoch und klettern auf dem Mobiliar herum, wenn sie allein sind, meinte sie. Als sie aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, lag Siara vor der Couch, eine Blutlache unter ihrem Kopf. Die Mutter vermutet, sie könnte auf die Couch geklettert und dann heruntergefallen sein. Das Mädchen muss wohl ungebremst auf den Fliesenboden im Wohnzimmer aufgeschlagen sein. Wie gesagt, ein offensichtlich sehr lebhaftes Kind …«
»Fliesenboden im Wohnzimmer?«, unterbrach Abel ihn irritiert.
»Ja. Es fand sich vor der Couch, wo sie lag, eine größere Blutlache, das hat jedenfalls die Notärztin bei der Aufnahme der Kleinen den Kollegen berichtet. Wenn das Verletzungsmuster mit den Angaben der Mutter übereinstimmen würde, dann wäre es ein Unfall im häuslichen Milieu. Aber …«
»Zu dem Aber kommen wir gleich«, unterbrach Abel den Assistenzarzt erneut. »Immer der Reihe nach. Zunächst sind folgende Punkte zu klären: Erstens,...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2020 |
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Reihe/Serie | Die Fred Abel-Reihe |
Die Fred Abel-Reihe | |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | als die Wirklichkeit • Bestseller-Autor • blutige Thriller • Drogen • Drogenclans • Forensik • Forensiker • Fred Abel • Fred Abel Reihe • Gerichtsmedizin • Gerichtsmediziner • Gerichtsmedizin Krimi • Gerichtsmedizin Thriller • harte thriller • Kindesmisshandlung • Krimi • Krimi-Bestseller • Kriminalfall • kriminalfälle deutschland • Kriminalistik • Kriminalroman • krimi serie • Lars Moewig • Michael Tsokos • Michael Tsokos Bücher • Michael Tsokos Fred Abel • Misshandlung • nichts ist spannender • nichts ist spannender, als die Wirklichkeit • Nichts ist spannender als die Wirklichkeit • Obduktion • Pathologie • Privatdetektiv • Privatermittler • Professor Michael Tsokos • Psychothriller • Rechtsmedizin • Rechtsmediziner • Rechtsmediziner Michael Tsokos • Sabine Yao • spannende Bücher • Thriller • Thriller Berlin • Thriller Bestseller • Thriller Bücher • Thriller deutsche Autoren • Thriller Deutschland • Thriller Drogen • Thriller Forensik • thriller reihe • Thriller-Serie • True Crime • True Crime Bücher • True Crime Bücher deutsch • True Crime deutsch • True-Crime-Podcast • True crime Thriller • Tsokos Bücher • Wahre Verbrechen |
ISBN-10 | 3-426-45745-8 / 3426457458 |
ISBN-13 | 978-3-426-45745-0 / 9783426457450 |
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