Komfortzone (eBook)
248 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-04205-6 (ISBN)
Robin Becker ist 1975 in Bielefeld geboren. Seit seinem 16. Lebensjahr bereist er mit Rucksack und Feder die Welt. Als gelernter Industriemechaniker zog er 1996 nach Köln. Ab 2003 studierte er in Potsdam und Bielefeld Sozialpädagogik. 2008 zog er nach Bern, wo er auf diversen Bühnen Lesungen hielt. Seine beiden ersten Romane, Das Kino bin ich (2017) und Komfortzone (2020), veröffentlicht er über den Selbstverlag tredition. Von 2013 bis 2023 wohnte Robin Becker in Köln und Berlin und war freiberuflich als Sozialpädagoge sowie Autor tätig. Zudem veranstaltet und moderiert er seit 2021 in Köln die 'Offene Welt-Bühne', wo Musiker*innen, Tänzer*innen, Kabarettist*innen und Autor*innen auftreten und er aus seinen Büchern vorliest. Seit 2023 lebt Robin Becker im Kanton Bern, wo er als selbstständiger Schriftsteller und Familienbegleiter arbeitet.
Robin Becker ist 1975 in Bielefeld geboren. Seit seinem 16. Lebensjahr bereist er mit Rucksack und Feder die Welt. Als gelernter Industriemechaniker zog er 1996 nach Köln. Ab 2003 studierte er in Potsdam und Bielefeld Sozialpädagogik. 2008 zog er nach Bern, wo er auf diversen Bühnen Lesungen hielt. Seine beiden ersten Romane, Das Kino bin ich (2017) und Komfortzone (2020), veröffentlicht er über den Selbstverlag tredition. Von 2013 bis 2023 wohnte Robin Becker in Köln und Berlin und war freiberuflich als Sozialpädagoge sowie Autor tätig. Zudem veranstaltet und moderiert er seit 2021 in Köln die "Offene Welt-Bühne", wo Musiker*innen, Tänzer*innen, Kabarettist*innen und Autor*innen auftreten und er aus seinen Büchern vorliest. Seit 2023 lebt Robin Becker im Kanton Bern, wo er als selbstständiger Schriftsteller und Familienbegleiter arbeitet.
II
Um zwölf sollte ich in Jegenstorf bei der Wohngruppe für psychisch und geistig beeinträchtigte Menschen sein, die den Namen „Die Insel“ trug. Ich bekam mit Google Maps heraus, dass die S-Bahn zwanzig Minuten bis dahin brauchen würde und ich vom Bahnhof noch fünfzehn Minuten zu gehen hätte.
Ich versuchte, mich auf meinen ersten Arbeitstag zu freuen, sagte mir, so eine neue Herausforderung und ein bisschen Struktur würden mir bestimmt gut tun. Doch ich hatte auch eine Heidenangst vor dem, was da vor mir lag. Weil ich konnte mir im Moment noch nicht im geringsten vorstellen, von nun an dreißig Stunden die Woche irgendwo in der Pampa bei depressiven Menschen anzutreten, die meine volle Präsenz und Aufmerksamkeit fordern würden. Ich hatte ja wahrhaft genug eigene Probleme, fühlte mich einsam und verlassen, hatte keine Kohle und war über den Verlust all meines Hab und Guts noch lange nicht hinweggekommen.
Ich blickte mich in meinem kahlen Zimmer um, in dem nur eine Matratze, Bettzeug und ein paar Klamotten lagen, und dachte an all die Sachen, die mir mal gehört hatten und mich in gewisser Weise getragen und ausgemacht hatten. Wobei ich auch durchaus die Chance in meiner gegenwärtigen Situation sah, mich vollkommen neu zu erfinden. Doch das war mir im Moment nur ein schwacher Trost. So ein Leben muss gelebt werden, das kann man sich nicht ausdenken. Ich nahm mir dennoch vor, egal, was auch passieren würde, entspannt und mir treu zu bleiben. Und offen und mutig wollte ich sein.
„Von meinem ersten Lohn werde ich mich neu einrichten“, sagte ich mir. Ich machte mir Porridge mit Banane und Apfel, zog einen dicken Pullover an und stellte meinen Stuhl auf den Balkon, wo ich frühstückte. Unter mir blühte und duftete seit ein paar Tagen irgendein Obstbaum. Die Sonne brach durch die Wolken hindurch. Der Frühling kommt, dachte ich. Schön. Ich schloss die Augen, genoss die wohlige Wärme und lauschte dem Vogelgezwitscher.
Zwei Stunden später klingelte ich schließlich nach einem Spaziergang an Feldern entlang, die kürzlich gedüngt worden waren, an einem großen Fachwerkhaus, über dessen Einfahrt „Die Insel“ geschrieben stand. Eine adrett gekleidete Frau um die fünfzig, die sich mir als Claudia vorstellte und meinte, sie sei die Gruppenleiterin, bat mich freundlich herein.
„Schön hier“, sagte ich.
Sie lächelte. „Hast du es gut gefunden?“
„Ja, danke.“
Sie stellte mir in der Diele ihren Ehemann, Uerli, und zwei Kolleginnen vor, die Karin und Susanne hießen.
„Hast du dich schon in Bern eingelebt?“
„Ja, sehr nett da“, log ich. „Ich wohne oberhalb vom Gaskessel in der Nähe des Marzilibads.“
„Ach, schön da“, meinte Karin, die wahrscheinlich etwas jünger als ich war und die anderen drei um mindestens ein, zwei Köpfe überragte. „Dann hast du es ja auch nicht weit zur Aare.“
„Ich liebe diesen Fluss.“
„Wie alle Berner“, lächelte Claudia.
Zunächst zeigten die vier mir das Vorderhaus, das offensichtlich kürzlich neu renoviert worden war, die Werkstatt, für die Uerli den Schlüssel vergessen hatte, und den weitläufigen Garten. Uerli fragte mich auf Schweizerdeutsch, ob ich dies verstünde, wenn ich sein Kauderwelsch richtig interpretiert hatte. Er erinnerte mich mit seinem Schnauzbart an einen für mich typischen Italiener aus den Siebzigern.
„Nur ein bisschen“, beantwortete ich seine Frage.
„Das wird dann schon mit der Zeit kommen“, meinte Karin.
Uerli verdrehte sichtbar amüsiert die Augen und schlug vor, ich könnte ja einen Sprachkurs belegen.
„Ja, warum nicht“, erwiderte ich.
„Die meisten der Bewohner sprechen eigentlich ein verständliches Deutsch“, meinte Susanne, die etwas Mütterliches ausstrahlte. Ihr Alter fiel mir schwer zu schätzen. Da sie einige Kilogramm Übergewicht hatte, sah ihr Gesicht deutlich jünger aus, als es wahrscheinlich war.
„Spreche ich denn auch ein verständliches Deutsch?“, fragte Uerli spöttisch.
Claudia sah ihren Ehemann streng an, der sich kurz darauf von uns verabschiedete.
Danach wurde ich in den Speisesaal geführt, wo mir sechs der insgesamt acht Bewohner vorgestellt wurden, von denen zwei gerade damit beschäftigt waren, den Tisch zu decken.
„Hey Leute, ich freue mich, euch in Zukunft kennenzulernen“, sagte ich. Was Besseres war mir spontan nicht eingefallen.
Sie blickten mich mit versteinerter Miene an.
„Wie geht es euch?“
Allgemeines Gemurmel. Ein schmächtiger Mann, der gerade eine Patience legte, fragte mich, ob ich denn aus der Zukunft komme.
Claudia und Karin lachten.
Ich schmunzelte und dachte an den Film Der Mann, der vom Himmel fiel mit David Bowie, und so fühlte ich mich auch gerade – als käme ich aus einer völlig anderen Welt.
„Schön habt ihr es hier“, lobte ich. „Das war hier früher bestimmt mal ein traditionelles Gutshaus mit Bauernhof und so.“
„Hier wurde vor zwei Jahren alles umgebaut und renoviert“, erklärte mir ein Bewohner, der offensichtlich das Downsyndrom hatte.
Claudia verabschiedete sich bis später. Kurz darauf klingelte es an der Haustür und das Essen wurde von zwei jungen Männern hereingebracht, die es ziemlich eilig hatten. Es gab Salat, Spaghetti mit Bolognese und Pudding zum Nachtisch.
Eine ältere Bewohnerin erzählte mir bei Tisch, dass sie zurzeit in der Werkstatt Holzfiguren und Traumfänger basteln würden.
„Toll! Und macht das Spaß?“, fragte ich.
„Manchmal.“
Nach dem Essen wurde gemeinsam die Küche aufgeräumt und dann Uno gespielt. Ich trank einen Kaffee nach dem anderen und versuchte so gut es ging, mich auf mein neues Umfeld einzulassen. Irgendwann holte Claudia mich zu sich ins Büro, wo sie mich über die Arbeitszeiten aufklärte und mir eine Kopie des Schichtplans vorlegte. Ich war heilfroh, dass die Nachtbereitschaft immer sie und ihr Ehemann abhielten, denn die beiden wohnten direkt im Nebengebäude. Meine Aufgabe sollte in der Hauptsache sein, die Bewohner im Alltag zu begleiten, zu unterstützen und ihnen mit psychologischem Rat beizustehen.
***
Es war ein sonniger 1. Maifeiertag gewesen mit Musik, als plötzlich in Kreuzberg ein Trupp Polizisten in Kampfmontur und mit knirschenden Gelenken übers Festgelände marschierten, erinnerte ich mich kurz nach dem Aufwachen, noch halb träumend. Ich war mit Steffen und Bolle unterwegs gewesen, die mit mir die Ausbildung bei den Berliner Stadtwerken machten. Wir hielten uns an unserem Dosenbier fest wie wohl die meisten hier. Reihenweise sahen und hörten wir, wie Dosen knarzend zerquetscht wurden. Und es brauchte nicht lange, bis einer die erste schmiss. Von da an gab es ein heilloses Durcheinander, zu meinem Glück, denn mir fiel dabei dieses bezaubernd aufgebrachte Fräulein mit den rotblonden Haaren, die ihr wie Flammen um den Kopf standen, in die Hände. Ich beruhigte sie ein wenig, und sie hielt mich wiederum davon ab, mich in das Getümmel zu stürzen. Eine Wolke Tränengas zog auf. Gemeinsam liefen wir davon.
Die Rothaarige stellte sich mir als Mareike vor. Wir waren vom ersten Moment an unzertrennlich, redeten viel miteinander – so kannte ich mich noch gar nicht, so überzeugt und gelöst plappernd. Ich wusste plötzlich über Dinge Bescheid, von denen ich überhaupt keine Ahnung haben konnte. Ich lief zur Höchstform auf, die Erkenntnisse kamen mir praktisch während des Redens, alles schien zunächst so einfach zu sein in Mareikes Nähe.
Ich bewohnte nur ein Zimmer, Küche, Bad, dennoch zog sie bereits nach einer Woche mit ihrer Couch, fünf Müllsäcken voll Klamotten und zwölf Kartons voll philosophischer, soziologischer, historischer Sachbücher und Romane, die sie von ihrer Großmutter, einer unbekannt gebliebenen Schriftstellerin, geerbt hatte, bei mir ein. Mareike wollte wie ihre Oma Romanautorin werden, las viel, redete gerne, war sehr unternehmungslustig, schrieb jedoch nie – dazu sei die Zeit noch nicht reif, meinte sie.
Schon bald war ich auf beinah jeden Typen eifersüchtig, mit dem Mareike sich auch nur unterhielt. Anfangs fand sie mein entsprechendes Verhalten süß, später eher abstoßend. Ich arbeitete an mir, begriff allmählich, dass ich kein ausgeglichenes Selbstwertgefühl und daher Verlustängste hatte, gab Mareike mehr Freiheiten und übte mich im Vertrauen fassen. Nachdem aber dummerweise ich sie mit dazu einer guten Freundin von ihr betrogen hatte, machte sie mit mir Schluss.
Als ich vor vier, fünf Jahren einmal gegoogelt hatte, was aus Mareike geworden war, erfuhr ich, dass sie nun mit einem französischen Bildhauer zusammen war, der zwanzig Jahre älter war als sie, und dass sie gerade einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen hatte. Ihre Story handelte von einer Frau, die dem Scheiterhaufen entgegensah und ihr kurzes Leben rekapitulierte. Ein Leben voller Romantik, Exzesse und Träume. Sehr surreal geschrieben. Die Sätze gingen wild ineinander über und ergaben oft keinen Sinn, weil nicht verständlich war, was die Frau wirklich erlebt und was sie fantasiert hat. Wunderbar.
Ich könnte sie jetzt erneut googeln, ihre Telefonnummer herausfinden und einfach anrufen, überlegte ich. Sie würde sicherlich aus allen Wolken fallen. Damals nach der Trennung hatte sie mir gesagt, ich solle sie nie mehr anrufen. Und als ich herausbekommen hatte, dass sie bereits zwei Monate nach mir einen neuen Freund hatte, war ich Hals über Kopf von Berlin nach Bielefeld zurückgezogen.
Aufstehen, ein neuer Tag beginnt. Das Leben ist keine Tagträumerei, sagte ich mir, und startete voll durch. Ich setzte einen Espresso auf, machte Milch warm, kochte zwei Eier, schmierte...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2020 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anarchie • Ängste • Betrug • bewusster Konsum • Beziehung • Beziehungsroman • Boykott • Deutschland • Entwicklungsroman • Erbkrankheit • Gesellschaftskritik • Gesellschaftsroman • Heimarbeit • Journalismus • Kapitalismuskritik • Konzernkritik • Neuanfang • politischer Roman • Psychologie • Robin Becker • Roman • Schweiz • Sexualität • Spiritualität • Tantra • Vereinsarbeit |
ISBN-10 | 3-347-04205-0 / 3347042050 |
ISBN-13 | 978-3-347-04205-6 / 9783347042056 |
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