Der undankbare Flüchtling (eBook)

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2020 | 1. Auflage
400 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9439-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der undankbare Flüchtling -  Dina Nayeri
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Dina Nayeri wurde als Tochter eines Arztehepaars in Isfahan geboren. Sie wuchs in einem wohlhabenden Viertel auf, in einem Haus mit Swimmingpool und Garten, inmitten von Familie und Verwandten. Weil die Mutter zum Christentum konvertierte, mussten sie aus dem Iran fliehen und den geliebten Vater zurücklassen. Nach mehreren Stationen bekamen sie Asyl in den USA, Nayeri studierte an den besten Unis und wurde im Laufe der Jahre zu einer hoch gebildeten, erfolgreichen Vorzeige-Migrantin. Und trotzdem blieb sie vor allem eines: ein Flüchtling.

Dina Nayeri wurde während der Islamischen Revolution im Iran geboren und emigrierte als Zehnjährige in die USA. In Princeton absolvierte sie ihren BA, in Harvard ihren MBA und Master of Education. Ihr Debüt 'Ein Teelöffel Land und Meer' war ein großer Presse- und Publikumserfolg und wurde in 14 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien ihr Roman 'Drei sind ein Dorf'. Dina Nayeri lebt in Paris.

1


Im Flugzeug, das uns aus dem Iran hinausbrachte, sprachen wir nur flüsternd und staunend darüber, was wir gerade getan hatten. Ich ließ es mir von Maman immer wieder bestätigen: »Ist es jetzt vorbei? Sie werden uns nicht verfolgen? Woher wissen wir, dass es Wunder waren?«

Viele Jahre lang bildeten Mamans »Drei Wunder« die Grundlage für unsere Identität, die Geschichte unserer Umsiedlung und damit auch die Geschichte unseres Lebens. Auch nachdem ich dieses Narrativ längst verworfen hatte, hielt meine Mutter noch daran fest; es bestimmt bis heute ihr Leben.

»Weil es eben sehr unwahrscheinlich war«, sagte Maman.

»Gibt es dort auch Smarties?«, fragte Khosrou. Seit unserem Besuch in London vor drei Jahren glaubte mein Bruder fest daran, dass ihn woanders mehr Smarties erwarteten, und auch Divist-jib, oder »zweihundert Löcher«, denn so verstand er mit seinen kindlichen Ohren den Namen der englischen Schokoladenkekse der Marke Digestives. Ich stellte mir vor, wie ein beleibter Brite mit einer hohen Kochmütze und einer kleinen Gabel genau zweihundert kleine Löcher in den Schokoladenüberzug jedes einzelnen Kekses stach.

»Wie unwahrscheinlich?«, fragte ich – ich wollte eine Zahl hören. Wie oft gingen Geschichten wie unsere schlecht aus? Ich wusste, dass ich nicht zweifeln sollte, dass der Zweifel offenbaren würde, wie schwach mein Glaube war, und zukünftige Wohltaten verhindern würde. Und ich glaubte ja daran. Aber ich war auch ein mathematikbegabtes Kind, und ich hatte Fragen, die ich damals nicht artikulieren konnte, weil mir das Vokabular der Statistiker fehlte. Stattdessen fragte ich wieder nach meinen Spielsachen und Büchern. »Versprichst du mir, dass niemand mein Zimmer betreten wird?«

Wunder oder nicht, die Art und Weise, wie unsere Flucht vonstattenging, bedeutete, dass wir nicht als Geflüchtete in den Vereinigten Arabischen Emiraten landeten. Wir hatten ein dreimonatiges Visum, das uns Mr Jahangir besorgt hatte, Babas reicher Verwandter, Wunder Nummer drei, das sich ereignet hatte, während wir uns versteckten. Doch Maman wusste, dass wir bald Geflüchtete sein würden. Oder, noch schlimmer, illegale Einwanderer. Wir hatten nicht vor, in den Iran zurückzukehren, wenn unser Visum abgelaufen war. Am Tag nach unserer Ankunft beantragte Maman beim Büro der Vereinigten Nationen in Abu Dhabi Asyl für Europa. Sie hoffte auf eine Antwort, bevor unsere Visa abgelaufen waren und die Einwanderungsbehörde der Emirate herausfand, dass wir die Frist überschritten hatten. Wir erzählten Mr Jahangir nichts von unseren Plänen.

»Es stinkt«, stöhnte ich in Mamans Schoß, auf der heißen, schweißtreibenden Autofahrt nach Schardscha, der Stadt außerhalb von Dubai, wo wir untergebracht werden sollten. »Ich kann nicht atmen, wenn es so stinkt.« Sie hielt meinen Kopf in ihren langen Jeansrock gedrückt, wie sie es zigmal auf den Fahrten in unser Haus in Ardestoon getan hatte, als ich klein war und an Reiseübelkeit litt. Unbekannte Gerüche machten mich verrückt, doch ich lernte, wie man sie mit angenehmen Empfindungen verknüpft, wenn ich mich darauf konzentrierte, in meinem fehlerhaften, juckenden Kopf, der Maman zu humorvollen Vergleichen mit Morvarid und anderen grantigen alten Frauen aus dem Dorf anregte, die ich liebte. Doch an den Geruch anderer Menschen konnte ich mich nie gewöhnen. Er löste bei mir den Drang aus, mir die Haut abzukratzen.

Maman mietete ein Einzelzimmer in einem Hostel, in dem auch andere Davongelaufene untergekommen waren, die sich nicht als Geflüchtete qualifiziert hatten. Ich hasste das Gebäude, einen verqualmten Fertigbau voller Einzimmer-Apartments mit papierdünnen Wänden und einer verglasten Lobby, die wie eine Arrestzelle aussah, in der der Manager, ein koreanischer Student, saß und den ganzen Tag auf seinen Fernseher starrte. Wir zahlten monatlich Miete, aus Mamans Notfallbeutel (in dem sie das Geld und unsere Reisepässe aufbewahrte), teilten uns ein Bett und versuchten, die Mäuse und die Kakerlaken zu ignorieren. An dem Abend, als ich die erste Kakerlake entdeckte, sprang ich aufs Bett, umschlang meine Knie mit den Armen und schaukelte hin und her, bis ich die Vorstellung loswurde, sie würde auf mir herumkrabbeln. Maman sprang auch aufs Bett und wir drei umarmten uns, bis ein Spiel daraus wurde. Wir waren in einem Boot. Um uns herum ein tosendes Meer. »Behaltet die Beine im Boot!«, warnte Maman und wir kreischten vor Vergnügen. »Sonst beißen die Haie euch die Zehen ab! Da kommt eine große Welle!«

»O nein! Ein Hai!«, schrie ich und verbarg mich in den Armen meiner Mutter. »Er ist unter dem Boot! Wir werden alle sterben! Wir sind verloren!«

»Wer ist der stärkste Ruderer?«, fragte Maman, und Khosrou sprang auf und ab, schnaufte und schlug sich an die Brust. »Wirf das Boot nicht um!«

»Vielleicht müssen wir einen von uns dem Hai vorwerfen«, sagte ich und warf einen Blick auf meinen kleinen Bruder mit seinen appetitlichen Gliedmaßen.

»Dina!«, sagte Maman. Sie zog uns an sich, unter ihre Decke, wo es zart und pudrig nach Narzissen duftete, und wir beruhigten uns. Khosrou, Maman und ich waren nun ganz allein. Wir hatten ein kleines Badezimmer, einen Mini-Kühlschrank, eine Kochplatte und kahle Wände; und wir waren in Sicherheit.

»Was tut Baba wohl gerade?«, fragte ich und vergrub mein Gesicht in ihrer Achselhöhle. Ich stellte mir meinen verspielten Baba vor, der jetzt niemanden mehr zum Spielen hatte, oder zum Eisessen, oder zum Gedichtevorlesen. Baba hatte keinerlei Sinn für Verhältnismäßigkeit. Als ich zwei Jahre alt war, weckte er mich regelmäßig mitten in der Nacht auf, um mit ihm Eiscreme zu essen. Wenn wir allein waren, fragte er mich Dinge, die ich gar nicht verstand, wie »Wo ist das Olivenöl?« oder »Ist heute Post gekommen?« Ich war drei Jahre alt.

»Ich weiß nicht«, sagte Maman. »Vielleicht zieht er gerade einen Zahn oder macht eine Wurzelbehandlung? Vielleicht ist er auch nach Ardestoon gefahren und isst gerade ein leckeres ghorme sabzi … Au, lass das!« Ich hatte Schorf von ihrem Arm gepult.

»Es war so weit«, sagte ich, als Maman sich die Stelle an ihrem Arm rieb, an der ich ihre bloße Haut freigelegt hatte. Ich kuschelte mich wieder in ihren Arm. »Ich will auch ghorme sabzi haben.«

»Ich will Smarties«, sagte Khosrou unter Mamans anderem Arm, »und Hähnchenschnitzel!« Schnitzel klang bei uns wie sheh-nee-sell.

»Wir werden nie wieder Hähnchenschnitzel essen«, entgegnete ich. »Das machen sie nur im Hotel Koorosh, und das ist in Isfahan.« Ich dachte an unsere Lieblingsspeise, die so lecker nach Zitrone schmeckte.

»Es gibt auch anderswo Hähnchenschnitzel«, sagte Maman.

»Nein, gibt es nicht«, sagte ich. »Nur im Hotel Koorosh. Das weiß doch jeder. Ich vermisse das Hotel Koorosh. Glaubst du, Baba ist heute Abend dort?«

»Ich vermisse Babaeejoon«, sagte Khosrou – selbst Jahre später trauerte er noch um das Stoffschaf, das von den Flughafenpolizisten auf der Suche nach Schmuggelware ausgeweidet worden war.

»Morgen«, sagte Maman, »schauen wir mal, ob wir Smarties und Schnitzel auftreiben können, und ihr schreibt Baba einen Brief.« Sie gähnte, und wir schliefen in ihren Armen ein, wie jede Nacht in den nächsten sechzehn Monaten.

Die Vereinigten Arabischen Emirate waren ein seltsames Land, in dem die Unruhe des Mittleren Ostens mit westlicher Dekadenz kollidierte. Die Küste am Persischen Golf war übersät mit schicken Ferienorten, doch wenn man es wagte, die Swimmingpools am Strand links liegen zu lassen und ins Meer zu waten, klebte einem bald Rohöl wie schwarzer Teer an den Beinen, das womöglich aus einem undichten Tanker oder einem abgeschossenen Flugzeug stammte. In Dubai gab es ein ganzes Einkaufszentrum, in dem es nur Gold zu kaufen gab, und Gläubige wie Ungläubige gaben Unsummen für Schmuck aus. Auf den Straßen waren Burkas, Tschadors und Kopftücher zu sehen, während Frauen aus dem Westen ohne Kopfbedeckung in Cafés neben arabischen Millionären saßen, deren makellose weiße Gewänder ihnen die Anmut von Bräutigamen verlieh.

Maman und ich warfen unsere Kopftücher weg, als seien es benutzte Taschentücher. Ich trug mein Haar zum Pferdeschwanz gebunden oder offen, sogar auf der Straße, und sie legte sich eine kleine Auswahl an westlichen Kleidern zu. Nachdem ich drei Jahre lang in meiner kratzigen islamischen Schuluniform geschwitzt hatte, machte mir die Hitze in den Emiraten gar nichts aus – nie zuvor hatte ich mich so frei gefühlt.

Dennoch wurde uns bald bewusst, dass wir zum ersten Mal auf unsere Ausgaben achten mussten. Wir hatten nicht viel Geld, und Dubai war teuer. Alle Iraner, die wir hier trafen, waren ungeheuer reich. Wer aus dem Iran flüchtet, kommt selten durch Dubai; für die Türkei braucht man kein Visum, man kann in einem Lastwagen mitfahren. Doch Maman war mehr oder weniger in Panik nach Dubai geflohen, und bald würden wir wissen, ob es klug gewesen war, sich von der Herde zu trennen.

Morgens saßen wir meistens in unserem winzigen, düsteren Zimmer, um die erstickende Hitze zu vermeiden (auf dem Asphalt konnte man ein Ei braten), und probierten die neuen Laute und Silben aus, an die Maman sich noch aus ihrem Englischkurs an der Universität erinnerte. Wir entdeckten einen öffentlichen Swimmingpool am Strand, doch abends war der Eintritt zu teuer, denn dann wollten alle schwimmen gehen. Tagsüber war das Wasser beinahe am Sieden, aber der Eintritt war billiger, und wir hatten den Pool für uns allein. Maman trug Strumpfhosen unter ihrem einteiligen Badeanzug, aus Schamhaftigkeit,...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2020
Übersetzer Yamin von Rauch
Sprache deutsch
Original-Titel The Ungrateful Refugee
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte assimilation • Asyl • Dankbarkeit • Flüchtlinge • Flüchtlingsbiografie • Harvard • Identität • Iran • Migration • Rolle des Westens • Sachbuch • USA • Verantwortung • Würde
ISBN-10 3-0369-9439-4 / 3036994394
ISBN-13 978-3-0369-9439-0 / 9783036994390
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