Jahresringe (eBook)
256 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45972-0 (ISBN)
Andreas Wagner, 1978 in Neuss geboren, studierte Sozialpädagogik und arbeitet heute an einer Realschule in Köln. Gemeinsam mit seinen drei Töchtern lebt er in der Domstadt am Rhein. Zum Verfassen literarischer Texte kam er über das Schreiben von Songs, durch das er schon als Jugendlicher einen künstlerischen Ausdruck fand. Nach »Jahresringe« ist »Wie Treibgut im Fluss« sein zweiter Roman. Die Weite seiner niederrheinischen Heimat inspirierte ihn dabei ebenso wie die Lebenserinnerungen seiner Großmutter. Er hat eine Schwäche für Schokolade und ausgedehnte Spaziergänge, bei denen er sich mit den Sehnsüchten und Abgründen seiner Romanfiguren auseinandersetzt und neue Ideen sammelt.
Andreas Wagner, 1978 in Neuss geboren, arbeitet als Schulsozialarbeiter an einer Realschule. Er wuchs in Sichtweite der Braunkohlekraftwerke im Rheinland auf und beschäftigt sich schon seit seiner Jugend mit der Zerstörung der Dörfer durch den Tagebau. Er lebt mit seinen drei Töchtern in Köln. »Jahresringe« ist sein erster Roman.
1
Eine Menschentraube hatte sich um den dunkelblauen Pritschenwagen gebildet. Mit drei lauten Knallgeräuschen war er mitten im Dorf zum Stehen gekommen. Ein, vielleicht zwei Dutzend Leute, hauptsächlich Frauen und Kinder, waren zusammengekommen, um diesem bemerkenswerten Ereignis beizuwohnen: Wie ein gestrandeter Blauwal lag der Lastkraftwagen schwer schnaufend auf der Hauptstraße des Ortes, aber anstelle der Fontäne aus dem Atemloch dampfte und zischte es aus Kühler und Motor. Schwarzer, öliger Rauch vermischte sich mit weißem Qualm und verwandelte das Dorf mit seinen eng aneinandergerückten Backsteinbauten, die von der tief stehenden Abendsonne angeleuchtet wurden, in einen höllisch schimmernden Ort. Aber was war die Hölle gegen das, was Leonore in den letzten zwei Jahren erlebt hatte, seit sie sich ganz im Osten auf den Weg gemacht hatte, um so weit wie nur irgend möglich in den Westen zu gelangen? Angst oder gar Verzweiflung hätte man ihr mit Sicherheit nicht angesehen. Solche Gefühle zu zeigen hatte die Flucht ihr ausgetrieben.
Aber niemand sah sie an, als sie zögernd der Ladefläche des havarierten Wagens entstieg. Die ehemals schwarzen Lederschuhe, die ihre Füße kaum noch umhüllten, hatten abgewetzte Sohlen und waren dünn wie Pergamentpapier. Einen Hauch von Enttäuschung hätte man bemerken können: ein tiefer Atemzug. Augen für einen Moment geschlossen. Lippen aufeinandergepresst. Mehr erlaubte sie sich nicht. Ihre Furcht davor, wie es weitergehen sollte, hielt sie verborgen. Ob sie hier in diesem Weiler einen Platz für die Nacht auftreiben würde? Ob sie wieder einen Teil ihrer Seele würde eintauschen müssen, um einen halbwegs sicheren Ort zu finden? So wie sie es schon oft hatte tun müssen in den letzten zwei Jahren – zuletzt heute Morgen hinter den Trümmern eines zerbombten Hauses im Schatten des Kölner Doms für den Platz in dem blauen Pritschenwagen, dessen Fahrer mit seinem Passierschein und dem vollen Tank seines Lastwagens geprahlt hatte.
Leonore schob sich durch die Ansammlung der diskutierenden Dorfbewohner, die sich um den fluchenden und schwitzenden Fahrer gruppiert hatten und zu der sich nun auch die anderen zwei Mitfahrer gestellt hatten. Männer mittleren Alters; Kriegsheimkehrer? Tagelöhner? Wer wusste das schon? Niemand konnte dieser Tage einschätzen, wie alt man war, wo man herkam oder wo man hinwollte. Stattdessen interessierte sie nur das fauchende Ungetüm, das hier zu verenden drohte. Es war wie überall im Land: Die Menschen hatten verlernt, einander in die Augen zu sehen. Doch genau das war Leonores Glück gewesen. Ohne die ausweichenden Blicke ihrer Mitmenschen wäre sie auf ihrem Weg durch das Land niemals unentdeckt geblieben. Man hätte das Kind in ihr gesehen, das sie noch war, auch wenn sie anderes behauptete. Sie war groß gewachsen, aber bei Weitem noch nicht so alt, wie sie vorgab zu sein.
Als der Fahrer die seitliche Motorhaube anhob und Leonore das heiße Öl die Zylinder und Leitungen hinabrinnen sah, war ihr längst klar, dass ihre Reise wieder einmal ein vorläufiges Ende genommen hatte. Dass es schon wieder kein Weiter geben würde. Also tat sie, was sie in den letzten Monaten immer getan hatte, wenn sie an einem neuen Ort gestrandet war: Sie bewegte sich unauffällig aus dem Zentrum des Geschehens, um sich aus sicherer Entfernung einen Überblick zu verschaffen. Wer war ihr wohlgesinnt? Wo lauerte Gefahr? Wo konnte sie sich verstecken? Solange noch alle mit dem qualmenden Lastwagen beschäftigt waren, solange niemand sie bemerkt hatte, war sie in Sicherheit, aber sie brauchte einen Plan. Was sollte sie tun, sobald der Rauch verflogen war und sich die Aufregung im Dorf gelegt hatte? Zu oft hatte sie, seit sie Schirwindt im Spätsommer vor zwei Jahren verlassen hatte, gespürt, dass es für ein Mädchen wie sie keinen sicheren Ort gab. Zu viele Dörfer und Städte hatte sie schon kennengelernt, in denen man als Flüchtling aus Ostpreußen nicht willkommen war. Sie hatte sich antreiben, vertreiben lassen. Die Stimme ihrer Mutter im Rücken, als liefe sie noch immer hinter ihr: Nach Westen! Nur nach Westen!
Den letzten Winter hatte sie in den Trümmern einer halb zerstörten Volksschule vor Hannover verbracht. Sie hatte aufgeschnappt, dass die Schulen wieder öffnen sollten, um die Kinder von der Straße zu bekommen. Aber ihr Unterschlupf blieb zum Unterrichten unbrauchbar, und man hatte noch nicht mit der Instandsetzung begonnen. Gegen die Kälte hatte sie sich aus Filzdecken ein Nest gebaut. Wenn es nicht mehr auszuhalten war, hatte sie kleine Feuer aus den Schulbänken unter dem zerstörten Dach entfacht. Aber das war riskant gewesen. Wäre sie entdeckt worden, hätte sie ihren sicheren Unterschlupf und auch die Vorräte an eingeweckten Pflaumen im Keller der Lehrerwohnung verloren.
Auf der Karte des Deutschen Reiches, die trotzig im Kartenständer hing und im Windzug hin und her baumelte, hatte Leonore ihre Route immer und immer wieder mit dem Finger nachgezeichnet und die weiteren Stationen geplant. Nach Westen! Nur nach Westen!
Im Schutz einer Häuserecke besah sie sich nun ihre unfreiwillige Zwischenstation. Ihr Blick war geschult, und so erkannte sie schnell, in welchem der schmalen Häuschen noch Leben war und wo der Krieg seine Bewohner vertrieben hatte. Beschädigte Dächer, zersprungene Fensterscheiben – unreparierte Kriegsschäden – waren eindeutige Zeichen, aber auch Unkraut zwischen den Treppenstufen zur Haustür oder eine vertrocknete Pflanze auf der Fensterbank ließen vermuten, dass die entsprechenden Häuser schon seit längerer Zeit nicht mehr betreten worden waren. Im Laufe ihrer Flucht durch das Land war dieser Anblick seltener geworden. Zu viele Menschen drängten gemeinsam mit ihr von Osten her in das Land und wurden in den leer stehenden Gebäuden untergebracht. Doch hier entdeckte Leonore sofort ein verlassenes Haus. Als Versteck war es dennoch kaum geeignet, lag es doch Wand an Wand mit offensichtlich bewohnten Gebäuden direkt an der Hauptstraße des Dorfes. Hier einzudringen würde nicht leicht werden. Wenn überhaupt müsste sie den Weg über eine der Seitenstraßen nehmen und sich von hinten Zugang verschaffen.
Die letzten Atemzüge des verreckten Motors hatten sich mittlerweile als tief hängende Wolke über das Dorf gelegt. Alles war eingehüllt in Qualm und einen Gestank, der sofort in den Kopf stieg. Leonore spürte das Knurren ihres Magens. Sie hatte, seit sie sich gestern Abend in der Stadt einen Teller Suppe erbettelt hatte, nichts mehr gegessen. Und durstig war sie auch. Aus einer nach Norden abgehenden Straße sah sie eine Gestalt auf die Hauptstraße einbiegen. In seiner schneeweißen Kleidung stach der Mann selbst durch die alles vernebelnden Schwaden hervor. Leonore bemerkte die merkwürdige Stellung seines rechten Armes. Er schien wie ein Fremdkörper von seiner Schulter herabzuhängen. Sein Gang wirkte abgehackt. Leonore fragte sich, ob dies an dem Handkarren lag, den er hinter sich herzog, oder ob auch seine Beine versehrt waren. Er bewegte sich langsam auf sie zu, hatte dabei aber den Blick nach hinten gerichtet. Immer weiter ging er seinen offensichtlich gewohnten Weg entlang, schien sich aber nicht entgehen lassen zu wollen, was dort auf der Hauptstraße geschah. Ein paar seiner kantigen Schritte noch, dann würde er gegen sie stoßen. Sie war zu erschöpft, um es nicht darauf ankommen zu lassen. Vielleicht hatte sie sogar Glück, und er würde mit einem Stück Brot, einer Zigarette zum Tauschen oder zumindest einem freundlichen Lächeln um Entschuldigung bitten.
»Oh«, hörte sie die Stimme des weiß gekleideten Mannes, als er sie anrempelte. Hastig drehte er den Kopf, wobei seine ebenfalls weiße Schiffchenmütze und seine kreisrunde Brille verrutschten. Er schob beides umständlich mit dem linken Arm wieder zurecht, nachdem er den Griff des Handkarrens abgelegt hatte. Der rechte Arm blieb unbeweglich hängen.
»Verzeihung«, sagte der Mann und blickte sie an, wie man eine Katze ansieht, die abgemagert und mit stumpfem Fell vor einem steht und um Milch bettelt. Auch Leonore musterte ihn. Er war groß und dünn – niemand war dick dieser Tage. Seine Jacke und Hose schienen wie mit Mehl gepudert. Sein schwarzes Haar trug er, der Mode der Zeit entsprechend, kurz und mit Pomade nach hinten gelegt. Sie musste mit ihren strähnigen dunkelblonden Haaren, ihrem fleckigen schwarzen Mantel und der löchrigen und viel zu großen Soldatenhose wie das komplette Gegenteil wirken. Ein Duft stieg in Leonores Nase. Verlockend und so stark, dass er sogar durch die beißende Rauchwolke hindurchdrang. Während sie ihre Erinnerung nach einer Idee absuchte, um welche Art von Duft es sich handelte, fragte ihr Gegenüber:
»Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig«, antwortete sie.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Ich bin einundzwanzig«, wiederholte sie, so wie sie es seit beinahe zwei Jahren jedem trotzig mitteilte, der eine Antwort verlangte. Es war ihr egal, dass es noch lange nicht stimmte.
»Du siehst aber jünger aus.«
»Ich bin noch nicht lange einundzwanzig.«
Der Mann sah sie fragend an.
»Heute ist mein Geburtstag.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie das sagte. Vielleicht, so schoss es ihr durch den Kopf, war heute wirklich ihr Geburtstag. Nein, das konnte nicht sein, der war im März, und jetzt ging es schwer auf den Herbst zu. Der fremde Mann hob die Augenbrauen und ließ sie über dem Rand seiner Brille tänzeln. Leonore spürte, dass er ihr nicht glaubte, so wie schon viele Menschen zuvor ihr diese Lüge nicht abgekauft hatten. Aber bis zum tatsächlichen Eintreten ihrer Volljährigkeit war es die einzige Chance, sich durchschlagen zu können. Der Mann wandte sich seinem Wagen zu. Er lüftete das...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aachen • Aktivismus • Braunkohle • Bürgewald • Dorf • Familiengeschichten • Familiengeschichten Romane • Familienroman • Flucht • Flucht und Vertreibung • Fridays For Future • Generationenroman • Gesellschaftsromane • Hambacher Forst • Heimat • Heimatverlust • Klimaaktivismus • Köln • Leonore Klimkeit • Mensch und Natur • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegsjahre • Nachkriegszeit • Nachkriegszeit Romane • Nachrkiegsgeschichte • Nachrkiegsroman • Natur Roman • Nordrhein-Westfalen • Ostpreußen • Paul Klimkeit • Protestbewegung • roman Heimat • Sarah Klimkeit • Tagebau • Umsiedelung • Umweltschutz • Vertreibung • Wald • Wald Roman • Zeitgeschichte Roman |
ISBN-10 | 3-426-45972-8 / 3426459728 |
ISBN-13 | 978-3-426-45972-0 / 9783426459720 |
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