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Anna der Indianer -  Livia Anne Richard

Anna der Indianer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
144 Seiten
Cosmos Verlag
978-3-305-00489-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
23,00 inkl. MwSt
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Anna ist vier Jahre alt, als ihr auf einen Schlag klar wird, warum sie beim Cowboy- und Indianerspiel immer die Squaw spielen muss, wo sie doch viel lieber der Chefindianer wäre. Weil sie ein Mädchen ist. Anna beschliesst, fortan als Winnetou durch die Welt zu gehen. Bis sie im Austauschjahr in Kalifornien Namid kennenlernt. Mit ihm würde sie gern schlafen, doch der Indianer in ihr meldet sich zu Wort und ist dagegen. Um den Indianer loszuwerden, spielt Anna eine Frau. Was nicht leicht ist, denn als Indianer hast du den Reflex, jedem eins über die Rübe zu ziehen, der dir an die Rothaut will. Erst als Anna sich Hals über Kopf in den viel älteren Nico verliebt, hat sie das, was sie so sehr gesucht hat: keine Angst mehr vor körperlicher Nähe. Ein Gefühl für ihr Frau-Sein. Doch was ist mit diesem Nico? Was stimmt da nicht?

Livia Anne Richard, 1969 in Bern geboren, arbeitete zuerst als Schauspielerin, dann begann sie Stücke zu inszenieren und auch selbst zu schreiben. Mit ihren Produktionen auf dem Gurten und auf dem Riffelberg oberhalb Zermatt hat sie sich weithin einen Namen geschaffen, mit 'Dällebach Kari' etwa oder mit 'The Matterhorn Story'. 'Anna der Indianer' ist ihr erster Roman.

Marc natürlich ist der Erste, der erkennt, dass hier nun, warum auch immer, zwei Stühle nebeneinandergestellt werden müssen. Anna setzt und bedankt sich bei Ander, der ihr aufmerksam den Stuhl unter ihren leicht runder gewordenen Hintern schiebt. An ihrem fünfzigsten Geburtstag hat Anna beschlossen, dass es das Privileg des älter werdenden Indianers sei, nun gemütlich zu werden. Seither hat sie sämtlichen Foltermethoden der Sportindustrie den Rücken zugedreht. Das Geld, das sie nun nicht mehr für den Kraftraum ausgibt, spendet sie jedes Jahr an Médecins sans frontières. Anna findet alles Grenzenlose grundsätzlich unterstützungswürdig. Die einzige Folterung, die sie zu speziellen Anlässen – zunehmend: Beerdigungen, abnehmend: alles andere – noch freiwillig über sich ergehen lässt, ist diejenige der Schuhmodeindustrie. Sie spricht in diesem Zusammenhang von seniler Resteitelkeit.

Marc begrüsst Ander höflich, indem er mit der Hand ins Leere schüttelt. Anna und Marc kennen sich von Kindesbeinen an, aus dem Indianer- und Cowboyspiel, aus der Bauecke im Kindergarten und aus vielen gemeinsamen Abenteuern.

Möchte Ander auch etwas essen?, erkundigt Marc sich nun bei Anna.

Frag ihn selber, er ist gross genug, erwidert Anna.

Sie dreht sich zu Ander um. Der zieht beide Brauen hoch. Jetzt weiss es Anna auch wieder.

Ach so, ja, nein. Wir teilen uns einen Teller.

Ihr teilt euch einen Teller, schön, Anna, wunderbar.

Marc streicht Anna mit beiden Händen langsam über ihre Schultern.

Der Saal ist noch immer gespenstisch still, so als wären gar keine Gäste da. Man beobachtet das sonderbare Treiben, und jeder versucht, sich wenigstens halbwegs einen Reim zu machen. Sicher ist nur, dass man hier einer plötzlich eingetretenen Form von Irrsinn oder Demenz beiwohnt. Vermutlich einer Kombination von beidem. Nico hat sich letzten Sonntag schliesslich auch auf ungeheuerliche Weise von dieser Welt verabschiedet.

Am Morgen steht er auf wie immer, zieht sich den Bademantel über das Pyjama, kommt vor sich hin pfeifend in die Küche, küsst Anna auf die Stirn, schnappt sich seine schwarze Tasse mit der gelben Aufschrift Das Gesicht ist das Protokoll des Charakters (ein Geschenk Annas) und braut einen doppelten Espresso mit viel Milch.

Er setzt sich an seinen Platz am Küchentisch, in der einen Hand die Tasse, in der anderen die Zeitung. Anna liest in Urs Widmers «Die Amsel im Regen im Garten», raucht dazu, trinkt den dritten Kaffee, ist gerade beim Satz Karl steht im Spagat über der Gletscherspalte. Ich sehe …, als Nico sie beim Lesen unterbricht und fragt: Hast du gut geschlafen?, einen kräftigen Schluck Kaffee nimmt und stirbt.

Ja, danke, du auch?, sagt Anna, ohne aufzublicken.

Sie hat auf ihre Gegenfrage keine Wortmeldung von Nico erwartet. Sie weiss, dass es Nico überhaupt nicht interessiert, wie sie geschlafen hat. Ebenso wenig hat er den Drang, über seinen eigenen Schlaf zu berichten. Floskeln sind bei Nico inexistent. Ausser, wenn er sie manipulativ einsetzt. Sonst sagt er immer nur dann etwas, wenn er zum Schluss kommt, dass das Nichtmitteilen seiner Gedanken für irgendjemanden existentiell gefährlich werden könnte.

Wenn also eine Floskel kommt wie Hast du gut geschlafen?, kann Anna sicher sein, dass Nico nur ihre Gemütsverfassung zu vermessen versucht im Hinblick auf eine total andere Angelegenheit. Und sie kennt die andere Angelegenheit: Die Tonlage ihrer Stimme und die Anzahl der Worte in ihrer Antwort hätten Nico dann je nachdem dazu bewogen zu fragen, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er heute den ganzen Tag im nahegelegenen Zoo verschwinde, um Affen zu malen. Im Subtext von Annas Ja, danke, du auch?, war nichts à la Eigentlich habe ich nicht gut geschlafen, aber es interessiert dich ja sowieso nicht, und auch sonst geht es mir nicht besonders gut.

Nein, es war ein authentisches Ja, danke, du auch? Also würde er gleich kommen mit seinem Affen-Anliegen.

Nico liebt das Malen, und er liebt die Affen. Seine Lieblinge sind die Orang-Utans. Er hat eine riesige Sammlung an Affenaquarellen und Skizzen. Sein Leben lang hat er abstrakt gemalt und gut davon gelebt, heute mit etwas über siebzig arbeitet er nicht mehr, um zu verkaufen, sondern einfach, um zu malen. Nico findet, Kunst machen zum Selbstzweck sei der grösste Luxus überhaupt. Seine Werke stapeln sich im sonnendurchfluteten Atelier im ersten Stock. Er malt also Affen und findet, dass deren Intelligenz evolutionstechnisch betrachtet auf einem viel unbedenklicheren Niveau stecken geblieben sei als die der Menschen. Er kann den Affen stundenlang zuschauen und bewundert sie für ihre Unschuld. Mit ihnen muss man auch nicht reden. Dass die Affen nicht reden können, hindert sie daran zu lügen. Nico hasst Lügen. Besonders hasst er lügende Politiker. Die ihre Unwahrheiten in der Welt herumproleten mit dem einzigen Ziel, ihre persönliche Macht auszubauen. Und wenn dann einer von ihnen optisch gar noch seinen Lieblingsaffen gleicht, ist das unerträglich. Eine Schande für die Tiere.

Da Anna also keine Antwort von Nico erwartet, blickt sie gar nicht erst auf, sondern liest einfach weiter: … in den blauen Abgrund, als Karl mich mit einem Ruck auf die andere Seite holt.

Da kracht Nicos Kaffeetasse zu Boden. Sie zerschellt in drei Stücke, der Kaffee ergiesst sich auf dem hellen Parkettboden, sucht den Weg in Ritzen und Fugen. Anna schaut zuerst, dem Lärm folgend, auf den Boden, dann zu Nico hoch.

Was machst du denn da?

Nico sitzt auf untypische Weise nach hinten zusammengesackt auf seinem Stuhl, die Arme hängen schlaff am Oberkörper herunter, das Kinn tief auf der Brust, der Mund leicht geöffnet, ein kleines Rinnsal Kaffee fliesst aus seinem Mundwinkel. Die Augen sind geschlossen. Anna sieht es sofort. Sie tut nichts. Es gibt nichts zu tun. Dann meint sie:

Weiss ich. Ich weiss, dass du heute zu den Affen gehen möchtest. Kein Problem.

Anna bleibt eine Minute, vielleicht zehn, neben Nico sitzen. Dann erhebt sie sich. Sehr langsam. Streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Geht zu der Rolle Haushaltpapier, links vom Spülbecken. Rollt sechs Blatt Haushaltpapier ab. Trennt jedes Blatt vom anderen. Geht zurück zum Tisch. Wischt mit dem Papier den Boden auf. Fährt um Nicos nackte Füsse herum. Hebt die drei Scherben vorsichtig auf.

Sie weint tonlos. Sie wischt die Tränen nicht weg.

Sie rückt ihren Stuhl und setzt sich zu Nico hin, so nahe es geht. Schaut ihn an. Sieht den grossen Schädel. Sieht die geschlossenen Augenlider. Sieht die leicht abstehenden Denkerohren. Sieht das Muttermal über seinem Mund. Sie nimmt seine Hand. So sitzen sie, Hand in Hand, bis die eine kalt ist.

Anna erhebt sich, öffnet alle Fenster und schickt Marc eine SMS. Nico ist tot. Bitte komm. Marc kommt sofort.

Natürlich teile ich mir keinen Teller mit jemandem, der gar nicht da ist, ruft Anna all den Perplexen im Saal zu. Jetzt habe ich euch aber erwischt.

Auf Nico, ruft Marc. Auf alle unsere Verstorbenen, auf Anna, auf uns, auf das Leben!

Die Erleichterung der Trauergäste ist dergestalt, dass dem Wirt am Ende der Wein ausgeht.

Komm, wir spielen Milchmann, fordert Anna. Ich bin der Milchmann und du bist die Kassiererin und alle Leute, die einkaufen kommen.

Nein, ich bin der Milchmann und du bist alle Leute, die einkaufen kommen, kontert Ander.

Ich will aber der Milchmann sein. Ich bin immer der Milchmann!, schreit Anna.

Psssst – was ist denn los, Anna, was willst du? Mama steckt den Kopf durch die Tür.

Ich will der Milchmann sein.

Na, dann sei ihn doch und mach nicht so einen Krach.

Geht nicht, weil Ander will auch der Milchmann sein.

Wer ist denn dieser Ander, Liebes?

So bist du nicht mehr mein Freund. ICH WILL DER MILCHMANN SEIN!

Anna, schrei nicht so rum!

Will, will, will. Du führst dich auf wie ein kleines Mädchen. So helfe ich nicht mehr baden.

Ander ist im Begriff, aus der Wanne zu steigen.

Ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin gross. Ich komme im nächsten Jahr in den Kindergarten.

Merkt man nicht.

Bleib da! Also gut, du kannst ein bisschen der Milchmann sein.

Ander hat jetzt eine blöde Siegermiene.

He, du brauchst viel zu viel Platz, schnauzt Anna.

Mit wem sprichst du, mein Schatz?

So, Herr Milchmann, geben Sie mir bitte acht Liter von der weissen Milch und nichts verschütten.

Es gibt einen Grund, warum Anna mitten am Tag in der heissen Badewanne sitzt. Sie hat vorher nämlich schon im eisigen Bach gelegen. Beim Indianerspielen hat sie wie immer die Squaw spielen müssen. Wenn die Männer in den Kampf ziehen, muss sie im Zelt warten. Das nervt gewaltig...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-305-00489-4 / 3305004894
ISBN-13 978-3-305-00489-8 / 9783305004898
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