Nietzsche (eBook)

Biographie seines Denkens
eBook Download: EPUB
2020
416 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26836-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nietzsche - Rüdiger Safranski
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Wie kaum ein Zweiter hat Friedrich Nietzsche das Denken der Moderne geprägt. Er sei Dynamit, behauptete er von sich selbst. Man kann sich sein Denken als ein Laboratorium vorstellen, in dem mit provozierenden, bisweilen riskanten Argumenten experimentiert wird. Seine Philosophie ergibt kein System, sondern lebt vielmehr von ihrer inneren Dynamik. Eine 'Biografie seines Denkens' nannte Rüdiger Safranski sein bedeutendes, höchst erfolgreiches Nietzsche-Buch, das zum 100. Todestag erschien und in viele Sprachen übersetzt wurde.
Zum 175. Geburtstag am 15. Oktober 2019 erscheint eine Neuausgabe dieses Standardwerks, erweitert um ein Nachwort, das die ungebrochene Aktualität von Nietzsches Denken herausstellt.

Rüdiger Safranski, geboren 1945, ist Philosoph und wurde vor allem durch seine in viele Sprachen übersetzten Biographien über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche, Schiller, Goethe und die Freundschaft von Goethe und Schiller bekannt. Seine großen philosophischen Essays handeln von der Wahrheit, vom Bösen, von der Romantik, der Globalisierung sowie von der Zeit. Zuletzt wurde er mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2014), mit dem Thomas-Mann-Preis (2014), mit dem Ludwig-Börne-Preis (2017) und mit dem Deutschen Nationalpreis (2018) ausgezeichnet.

Erstes Kapitel


Zwei Leidenschaften: Das Ungeheure und die Musik. Wie leben, wenn die Musik vorbei ist? Postsirenische Traurigkeit. Ernüchterung. Versuch und Versuchung.

Die wahre Welt ist Musik. Musik ist das Ungeheure. Hört man sie, gehört man zum Sein. So hat Nietzsche sie erlebt. Sie war ihm ein und alles. Sie sollte niemals aufhören. Doch sie hört auf, und deshalb hat man das Problem, wie man weiterleben kann, wenn die Musik vorbei ist. Am 18. Dezember 1871 reist Nietzsche von Basel nach Mannheim, um dort Wagner-Musik, vom Komponisten dirigiert, zu hören. Nach Basel zurückgekehrt, schreibt er am 21. Dezember an seinen Freund Erwin Rohde: Alles was (…) sich gar nicht mit Musikrelationen erfassen lassen will, erzeugt bei mir (…) geradezu Ekel und Abscheu. Und wie ich vom Mannheimer Concert zurückkam, hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch. (B 3,257)

Der Wiedereintritt in die musikferne Lebensatmosphäre ist ein Problem, über das Nietzsche unablässig nachgedacht hat. Es gibt ein Leben nach der Musik, aber hält man es aus? Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (6,64), schreibt er einmal.

Die Musik schenkt Augenblicke der richtigen Empfindung (1,456; wb), und man könnte sagen, Nietzsches ganze Philosophie ist der Versuch, sich am Leben zu halten, auch wenn die Musik vorbei ist. Nietzsche will, so gut es geht, mit Sprache, Gedanken und Begriffen musizieren. Aber natürlich bleibt ein Ungenügen. Sie hätte  s i n g e n  sollen, diese ›neue Seele‹ — und nicht reden! (1,15; gt), schreibt Nietzsche in der später verfassten selbstkritischen Vorrede zum Tragödienbuch von 1872. Und es bleibt auch eine Traurigkeit. In den nachgelassenen Fragmenten aus dem Frühjahr 1888 findet sich folgende Notiz: Die Thatsache ist ›daß ich so traurig bin‹; das Problem ›ich weiß nicht was das zu bedeuten hat‹ … ›Das Märchen aus alten Zeiten‹ (13,457). Er ist auf den Spuren Heines, und es kommt ihm die Lorelei in den Sinn. Nietzsche hat den Gesang der Sirenen gehört und empfindet nun Unbehagen in einer Kultur, wo die Sirenen verstummt sind und die Lorelei nur noch als Märchen aus alter Zeit herumspukt. Nietzsches Philosophie entspringt der postsirenischen Traurigkeit und möchte wenigstens den Geist der Musik hinüberretten ins Wort, ein Echo des Abschieds und eine Einstimmung auf die mögliche Wiederkehr der Musik, damit der Bogen des Lebens nicht breche (1,453; wb).

Lange Zeit war es bekanntlich die Musik Wagners, woran Nietzsche die Fülle des Glücks beim Kunstgenuss ermaß. Nachdem er zum ersten Mal, noch vor der persönlichen Begegnung mit Wagner, die Ouvertüre zu den »Meistersingern« gehört hatte, schrieb er am 27. Oktober 1868 an Rohde: jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt (B 2,332). Das Gefühl der Entrücktheit ist allerdings noch stärker beim eigenen Improvisieren am Klavier, dem er sich stundenlang hingeben konnte, selbstvergessen, weltvergessen. Eine berühmte und berüchtigte Szene, die der Jugendfreund Paul Deussen berichtet, hat mit solcher Entrückung zu tun. »Nietzsche«, so Deussen, »war eines Tages, im Februar 1865, allein nach Köln gefahren, hatte sich dort von einem Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen und forderte diesen zuletzt auf, ihn in ein Restaurant zu führen. Der aber bringt ihn in ein übelberüchtigtes Haus. ›Ich sah mich‹, so erzählt mir Nietzsche am anderen Tage, ›plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier als auf das einzig seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie‹.« (Janz 1, 137)

Musik, diesmal sind es nur einige improvisierte Akkorde, triumphiert über die Wollust. Dazu passt eine Notiz von 1877, wo Nietzsche ein Register der Dinge nach dem Grade der Lust aufstellt. Ganz oben rangiert das musikalische Improvisieren, gefolgt von Wagnerscher Musik, zwei Stufen darunter erst die Wollust (8,423). Im Kölner Bordell genügen einige Akkorde, um ihn in ein Anderswo entweichen zu lassen. Mit Akkorden beginnt, was am besten nie mehr endet, der Improvisationsfluss, in dem man sich treiben lassen kann. Darum auch schätzt Nietzsche die Wagnersche unendliche Melodie, die sich fortspinnt wie eine Improvisation, die beginnt, als hätte sie schon längst begonnen, und wenn sie aufhört, ist sie doch nicht mit sich zu Ende. Die unendliche Melodie — man verliert das Ufer, überlässt sich den Wogen (8,379). Die Woge, die unaufhörlich ans Ufer spült, die einen trägt und mitzieht, vielleicht auch herunterzieht und untergehen lässt — sie ist für Nietzsche auch ein Bild des Weltgrundes. So leben die Wellen, — so leben wir, die Wollenden! — mehr sag ich nicht… wie werde ich euch verrathen! Denn — hört es wohl! — ich kenne euch und euer Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht! Ihr und ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht! — Ihr und Ich, wir haben ja ein Geheimniss! (3,546; fw) Eines dieser Geheimnisse ist die innere Verwandtschaft zwischen Welle, Musik und dem großen Weltspiel aus Stirb und Werde, Wachsen und Vergehen, Walten und Überwältigt-Werden. Musik führt ins Herz der Welt — aber so, dass man nicht darin umkommt. Solches ekstatisches Musikerleben nennt Nietzsche im Tragödienbuch die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins (1,56; gt). Während die Verzückung andauert, ist die gewöhnliche Welt entrückt; tritt sie wieder ins Bewusstsein, so wird sie mit Ekel empfunden. Der ernüchterte Ekstatiker gerät in eine willenverneinende Stimmung (1,56), und er hat, so Nietzsche, Ähnlichkeit mit einem Hamlet, den es auch ekelt vor der Welt und der sich nicht mehr zum Handeln aufraffen kann.

Bisweilen ist das Musikerlebnis so stark, dass man um sein armes Ich fürchtet, das vor lauter Verzückung in der Musik, im Musikorgiasmus (1,134), unterzugehen droht. Deshalb ist es notwendig, dass zwischen die Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein distanzierendes Medium eingeschoben wird: ein Mythos aus Wort, Bild und szenischer Handlung. Der so verstandene Mythos schützt uns vor der Musik (1,134; gt), die in den Hintergrund gedrängt wird, von wo aus sie nun umgekehrt den Handlungen, Worten und Bildern im Vordergrund eine solche Intensität und Bedeutsamkeit verleiht, dass der Zuschauer das Ganze hört, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche (1,135). Man kann sich nur schwer einen Menschen vorstellen, sagt Nietzsche, der beispielsweise den dritten Akt von Wagners »Tristan und Isolde« ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen (1,135). Wer diese Musik hört, der hat sein Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt, und nur das plastische Geschehen im Vordergrund bewahrt ihn davor, das Bewusstsein seiner Individualexistenz gänzlich zu verlieren.

Aber ist hier nicht zuviel Pathos im Spiel? Gewiss, doch Nietzsche erlaubt der Kunst, pathetisch zu sein. Die Kunst gibt in ihren gelungenen Augenblicken immer ein Ganzes, ein Weltganzes sogar, das sich in Schönheit erleiden lässt. Wer sich dem Kunsteindruck überlässt, kann zu einem Pathetiker der universalen Resonanz werden. Wir vertragen das Pathetische nur in der Kunst; der lebende Mensch soll schlicht und nicht zu laut sein (8,441; 1877). Ein solcher schlichter Mensch betreibt zum Beispiel Wissenschaft, ganz ohne Pathos, und vermag zu zeigen, wie grundlos man sich in diese Höhe der Empfindung hineingearbeitet hat (8,428; 1877). Plötzlich sieht die Pathos-Welt ganz anders aus. Die großen Affekte und Leidenschaften enthüllen ihre unansehnlichen, manchmal auch lächerlichen Ursprünge. Das gilt auch für die Hochgefühle der Musik, die sich psychologisch und physiologisch entzaubern lassen. Musik als Organ inniger Seinsverbundenheit erscheint aus dieser Perspektive als bloße Funktion organischer Vorgänge. So rückt Nietzsche mit entpathetisierenden Argumenten seinem Pathos zu Leibe und experimentiert mit einem Denken, das die eigenen Leidenschaften verhöhnt. Der Mensch, erklärt Nietzsche, ist ein Wesen, das die thierische Schranke einer Brunstzeit (8,432) übersprungen hat, und...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • Biografie • Denken • Deutschland • Elisabeth Förster-Nietzsche • Erkenntnistheorie • Franz Overbeck • Heinrich Köselitz • Kulturkritik • Lou von Salomé • Macht • Moralkritik • Moralphilosophie • Paul Rée • Peter Gast • Philologie • Philosophie • Religionskritik • Religionsphilosophie • Richard Wagner • Schopenhauer
ISBN-10 3-446-26836-7 / 3446268367
ISBN-13 978-3-446-26836-4 / 9783446268364
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