Leben verboten! (eBook)
380 Seiten
DVB Verlag
978-3-9504158-3-4 (ISBN)
Maria Lazar (1895-1948) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Wiener Familie. Sie absolvierte das berühmte Mädchengymnasium der Eugenia Schwarzwald, in deren Salon Oskar Kokoschka sie 1916 porträtierte und in dem sie mit zahlreichen prominenten Figuren der damaligen Wiener Kulturszene zusammentraf, darunter Adolf Loos, Hermann Broch und Egon Friedell. Seit den frühen 20er Jahren war sie als Übersetzerin tätig und schrieb für renommierte österreichische, skandinavische und Schweizer Zeitungen. Erst als sie 1930 zum nordischen Pseudonym Esther Grenen greift, stellt sich quasi über Nacht ihr verdienter literarischer Ruhm ein; ein Erfolg, der allerdings durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten ein jähes Ende findet. Aufgrund des repressiven Klimas verlässt sie schon 1933 mit ihrer Tochter Österreich und geht zuerst, gemeinsam mit Bertolt Brecht und Helene Weigel, ins Exil nach Dänemark. 1939 flüchtet sie nach Schweden und scheidet 1948 nach einer langwierigen, unheilbaren Krankheit freiwillig aus dem Leben. Ihr breitgefächertes und wagemutiges literarisches Oeuvre geriet schon vor 1945 völlig in Vergessenheit.
„Der in den Wirren des Exils verloren gegangene […] Roman ist eine Entdeckung. Ob man ihn als spannende Kolportage liest, als zeitgeschichtliches Dokument oder als Ausdruck der literarischen Moderne der 1930er Jahre: Er kann auf allen Ebenen zufrieden stellen.“
„Seit einigen Jahren bemüht sich der kleine Wiener Verlag Das vergessene Buch, das Werk der jüdischen Autorin Maria Lazar wieder zugänglich zu machen. Mit ihrem erstmals auf Deutsch veröffentlichten Hauptwerk, dem Thriller 'Leben verboten!', ist ein Coup gelungen.“
Hingeweht wie ein Blatt im Wind
Auf, auf und aus dem Bett heraus! Es muß doch gleich halb sieben sein. Keine Zeit mehr, in das Badezimmer zu stürzen, wo sind die Strümpfe, wo ist die Mappe mit den Schulbüchern, der Tee ist zu heiß, verbrennt die Lippen, nein, der Kakao, es klingelt schon, das Flugzeug steigt auf, schöner, schimmernder Aeroplan, es klingelt und die Klassenzimmertür schließt sich, nun hilft nichts mehr, es ist zu spät, nun ist man wieder einmal zu spät gekommen –
Ein Knabe Ernst fährt aus der Decke, starrt um sich. Die Radiumzeiger der Weckuhr strahlen auf dem Nachttisch: halb drei. Über dem Stuhl hängt eine entsetzlich lange erwachsene Männerhose, deutlich zu sehen, man muß sich nur an das Dunkel gewöhnen.
Ein Herr von Ufermann, Chef der Firma E. Ufermann & Co, streckt sich wieder aus und zieht die Decke über den Kopf so wie Kinder, die des nachts sich fürchten. Und dabei hat er noch so viel Zeit, darf stundenlang weiterschlafen. Diese ewige Nervosität vor jeder Abreise, ganz wie vor aufregenden Schultagen. Warum sollte er auch zu spät kommen. Katinka wird ihn wecken, sie ist ein sehr verläßliches Mädchen, und Gierke hält zur Minute mit dem Auto vor dem Haus. Es wäre also selbst dann noch Zeit, gesetzt den Fall, daß Katinka verschliefe. Was gar nicht zu erwarten ist. Abfahrt sieben Uhr fünfundvierzig. Tempelhofer Flugplatz. Mit Watte in den Ohren. Nicht zu vergessen. Watte in den Ohren ist nicht angenehm.
So eine Decke, in die man sich verkriecht, ganz allein in der Nacht, wird zu einem Riesenbeutel. Warm und stickig ist es in diesem Beutel. Herrgott, wenn man doch schlafen könnte. Vor spannenden Unterredungen sollte man wenigstens eine vernünftige Nachtruhe hinter sich haben. Schlafmittel? Die verdummen ja nur. Und morgen heißt es helle sein, morgen gilt es, den Herrschaften in Frankfurt zu beweisen, daß ihr eigenes, jawohl, ihr eigenes Schicksal daran hängt, wenn die Firma Ufermann ins Wackeln gerät, ach gar nicht nur ins Wackeln, ins Rutschen, und zwar in die Katastrophe hinein. Dann rutscht ihr alle mit, verstanden! Wir brauchen kein Mitleid, keine Güte, keine Wohltätigkeit, sondern einzig und allein ein bißchen Solidarität. Die Anleihe ist lächerlich gering, ihr denkt doch nicht ernstlich, daß –Ja, wenn der Alte ihn nur verstehen wird. Mit den jungen Leuten ließe sich eher reden. Aber der würdige Hebenberth stammt noch aus den achtziger Jahren, der weiß überhaupt nicht, worum es heute geht, in der Wirtschaft, der gesamten Wirtschaft, der Weltwirtschaft nämlich. Stockungen, Krisen hat es schon immer gegeben, meint er. Aber daß die Wirtschaft sich inzwischen entwickelt hat, ins Kolossale, und mit ihr die Krisen, davon ahnt er nichts. Mein Herr, muß man ihm sagen, Sie leben nicht mehr 1887 oder 1888, Sie leben im Jahr 1931, falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten. Aber er hört nie zu. Nur Mut, lieber Freund, sagt er und schickt einen nachhause und sieht ganz ruhig zu, wie man in einen Sumpf hineingeht, nur Mut, lieber Freund und ersauf. Sein Bart ist weiß und weich wie der des Rektors, der einem vor dem Examen auf die Schulter zu klopfen pflegte. Nur Mut.
Es wird schon gehen, es wird auch dann noch weiter gehen mit der Firma, wenn alles schiefgeht. Paul sagt es auch, denn Paul ist fest davon überzeugt, daß nie etwas ganz schiefgehen kann, wo er dabei ist, und insofern ist es nicht schlecht, ihn zum Teilhaber zu haben, er hat ein sicheres Auftreten, auch gegenüber dem Personal. Und wenn es trotzdem schiefgehen sollte, muß man eben aus der Villa fort, in eine Etagenwohnung, heutzutage ist das keine Schande mehr, wie viele müssen das, obwohl es für Mama ganz furchtbar sein wird, alt wie sie ist, und Irmgard sollte im Winter nach Davos. Den Wagen müßte man aufgeben und eines von den Mädchen entlassen, vielleicht sogar beide, schad um Katinka, und wer weiß, ob man nicht in ein Hinterhaus muß, Irmgard im Hinterhaus, seine Frau, Frau von Ufermann –
Vor solchen Gedanken schützt auch der warme Riesenbeutel der Decke nichts, obwohl genau genommen nichts passieren kann, solange Herr von Ufermann, Chef der Firma Ufermann & Co, in ihm steckt mit beiden Fäusten vor den Augen und den Rücken gekrümmt. Heute Nacht darf er sich jedenfalls noch sicher fühlen. Das Haus schläft tief und fest. Irmgard wohl auch. Sie hatte wieder ihre 37, 4 am Nachmittag. Wenn er doch auch nur 37, 4 haben könnte, oder 38, 4, 39, 4. Kein Mensch könnte dann von ihm verlangen, nach Frankfurt zu fliegen, um eine unlösbare Aufgabe zu lösen, die Firma zu retten, die Ehre des Hauses, des Namens oder wie es sonst noch heißt. Einen kranken Jungen schickt man auch nicht zur Schule. Aspirin, kalte Wickel, Ärzte, immer mehr Ärzte, Lebensgefahr. Nun spricht niemand mehr von Geschäften, Irmgard weint und vergißt sogar ihre eigenen 37, 4, und wenn er stirbt, so trägt sie einen
schwarzen Schleier, steht gut zu blond, und außerdem, du lieber Himmel, daß ihm das jetzt erst einfällt, außerdem bekommt sie dann auch noch seine verrückte Lebensversicherung, sie wird reich, die Firma gerettet, das Auto, die Villa, die Mädchen. Ist das nicht einfach, unverschämt einfach?
Die Radiumzeiger der Weckuhr haben etwas Mahnendes an sich. Gegen Morgen werden sie langsam verblassen.
***
Verfluchtes Biest, reißt einen aus dem besten Schlaf heraus!
Katinka greift nach dem blauen Küchenwecker und steckt ihn unter das Kopfkissen, damit Grete nicht aufwacht, sie hat ihr ja so fest versprochen, alles allein zu machen, auch den Tee für den Herrn. Grete liegt mit offenem Mund, es ist zum Ersticken heiß in der Mansarde, das Fenster geschlossen, Grete tut es nicht anders, weil sie eben eine Bauerntochter ist und gewohnt, den ganzen Tag in der Küche zu stehen. Keine Spur von Kultur. Die gnädige Frau schläft überhaupt nur bei offenen Fenstern Tag und Nacht, bei der duftet es ordentlich nach frischer Luft. Während es auch hier duftet, aber nach Hühneraugen und zerlassener Butter, da kann man noch so viel Maiglöckchenparfum in die Bettwäsche spritzen. Ein Leben ist das!
Katinka spuckt sich vor dem Toilettespiegel auf die Fingerspitzen und streicht die Brauen glatt. Mit dem Taschenkamm noch rasch durch das Haar, etwas Puder auf die Nase, Häubchen, Schürzchen, fertig, Schluß, schön genug für diese Tageszeit. Der Herr sieht einen ohnehin kaum an. Was der wohl immer in seinem Kopf hat. Gierke meint, bei dem klappt auch nicht alles. Heutzutage haben eben auch die feinen Leute ihre Sorgen.
Und Ufermanns sind feine Leute, da gibt es wirklich nichts zu klagen. Tadelloses Zimmer, eingebaute Schränke sogar für die Mädchen, anständiger Gehalt, höfliche Behandlung und die freien Nachmittage ordentlich geregelt. Hin und wieder noch ein Abendkleid von der Frau oder ein Handtäschchen und mit dem Chauffeur gibt es auch manchmal Spaß. Was kann man mehr verlangen, wo andere auf dem Pflaster liegen.
***
Was fällt Ihnen denn ein, Katinka? Was bringen Sie mir da für eine Henkersmahlzeit.
– Es ist doch bitte nur das gewöhnliche Frühstück.
– Schon gut. Den Speck da nehmen Sie gleich wieder fort. Ich kann den Geruch nicht vertragen. Und wozu noch der heiße Toast. Der Tee ist zu schwach.
– Soll ich vielleicht –
– Nein, nein, lassen Sie nur. Ist Gierke schon da?
– Gierke frühstückt in der Küche.
Was hat denn das Mädchen? Was sieht sie ihn so neugierig an? Und hat sich dabei nicht einmal gekämmt, die Haare nur so unter das Häubchen gestopft. Wie blond sie ist. Beinahe wie Irmgard.
– Meine Frau noch nicht auf?
Katinka streicht sich die Schürze glatt. Bei ihrem Herrn rappelt es wohl. – Soll ich die gnädige Frau wecken?
– Was fällt Ihnen ein. Sorgen Sie, daß mein Gepäck ins Auto kommt. Es ist nicht schwer. Sie können es selbst holen.
Katinka läuft die Treppe in sein Schlafzimmer hinauf. Wie komisch er sie angesehen hat. Sollte er gemerkt haben, daß sie nicht mal gewaschen ist. Peinlich. Denn er ist wirklich kein so übler Mensch. Immer tiptop, wenn auch nicht eben schön, Nase zu lang, Mund verkniffen. Und die gnädige Frau – ja freilich, die wird aufstehen. Männer sind doch wirklich zu naiv. Die Handtasche wiegt so gut wie nichts, da wird er wohl kaum lange fortbleiben. Gierke hupt ungeduldig. Es ist Zeit. Herr von Ufermann tritt auf die weiße nebelnasse Straße. Die Ranken am Gartengitter sind dunkelrot, eigentlich hübsche Ranken, beinahe hätte er nach ihnen gegriffen. In der Villa schläft noch alles hinter den glatten verhangenen Fenstern, lohnt nicht, sich umzuwenden. Es winkt einem ja doch niemand nach.
***
Aus den Alleen ist das Herbstlaub weggefegt, nicht ein Papierschnitzel verunreinigt den Asphalt. Der ganze Villenvorort gleicht einer großen und bequemen Wohnung, frühmorgens aufgeräumt von einer wohlgeschulten Dienerschaft. Gierke schießt um Haaresbreite an einem Milchwagen vorbei, das tut er gerne, und schielt nachher auf seinen Herrn. Der aber merkt gar nichts, der merkt nicht mal, daß ihm die Zigarettenasche gleich auf die Hose fallen wird. Was ist mit ihm? Schläft er noch immer?
– Verdammt und zugenäht! Keine Augen im Kopf, alter Esel!
Gierke reißt den Wagen herum. Da hätte er beinahe jemand überfahren. Und der alte Mann, weißhaarig, ohne Hut, taumelt zurück, lehnt an einem Baumstamm, starrt dem langen blauen Auto nach. Also nicht mal um diese Tageszeit kann einer ruhig über die Straße gehen, auch der friedliche Gottesmorgen wird schon gefährlich. Wohin so eilig? Der Herr kommt sicher von seiner Puppe oder er fährt an die Bahn, um dann im Speisewagen zu sitzen und an der Riviera spazieren zu gehen. Die Leute habens ja. Da kann das...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2020 |
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Nachwort | Johann Sonnleitner |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 1930er Jahre • Berlin • Kriminalroman • Nationalsozialismus • Thriller • Weltwirtschaftskrise • Wien |
ISBN-10 | 3-9504158-3-1 / 3950415831 |
ISBN-13 | 978-3-9504158-3-4 / 9783950415834 |
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