Heimatlose Älplerfamilie (eBook)
152 Seiten
Mosaicstones (Verlag)
978-3-906959-34-4 (ISBN)
Kapitel 1
Kinder und Jugendzeit
Meine frühesten Kindheitserinnerungen gehen zurück in ein einfaches Bauernhaus. Mein Vater stand am Bett meiner kranken Mutter. Er schob mich einfach zur Seite, was ich gar nicht verstehen konnte. Ich wollte doch nur zu meiner Mutti. Ich konnte mit meinen vier Jahren nicht verstehen, dass sie einen Hirnschlag erlitten hatte. Mamma war erst 39 Jahre alt und starb von zehn Kindern weg. Alle hatte sie innerhalb von 13 Jahren geboren. Und dann ist da in meiner Erinnerung auch noch das schlimme Erlebnis bei der Beerdigung, das ich erst recht nicht verstehen konnte. Jemand gab mir Blumen, um sie ins Grab zu legen, doch ich sagte bloss: «Nein, die Blumen bringe ich meiner Mutti nach Hause.» Am Abend weinte ich und wollte solange nicht ins Bett, bis Mama wieder da sei. Einer meiner Brüder, der sicherlich auch sehr litt, sagte ziemlich grob zu mir: «Mama kommt nie mehr nach Hause.» Ganz entsetzt starrte ich ihn an, denn das konnte ich nicht glauben. Da sah ich den traurig verzweifelten Blick meiner älteren Schwester, die mich ins Bett bringen wollte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass es Wirklichkeit war, was mein Bruder da sagte. Nun ergriff mich eine bodenlose Verlorenheit. Wo war denn Mama? Warum liess sie uns einfach allein? Ich konnte das alles überhaupt nicht verstehen. Verlassen und in verzweifelter Trauer weinte ich mich in den Schlaf.
Meine älteste Schwester war 14 Jahre alt und besuchte die Schule von nun an nicht mehr. Sie übernahm in ihrem jugendlichen Alter den gesamten grossen Bauernhaushalt. Das war eine gewaltige Aufgabe für sie – und gewiss auch eine unbewusste seelische und körperliche Überforderung. Auch für mich war es nun sehr schwer. Alles hatte sich verändert, ich fühlte mich trotz der vielen Geschwister einsam und alleingelassen. Mein Vater nahm sich meiner an, aber er war in seiner Trauer wie eingeschlossen. Er redete fast nichts und war sehr still. Je mehr sich Vater um mich, die Kleinste von allen, kümmerte, umso mehr fühlte ich mich von den Geschwistern ausgeschlossen. Für mich fühlte sich das an, als ob da ein Riss mittendurch ginge, und ich fühlte mich noch verlorener.
Mit keinem Problem konnte ich zu meinem stillen, wortkargen Vater – denn meistens bekam ich keine Antwort, die mir eine Hilfe gewesen wäre. Dennoch liebte ich ihn sehr.
Ich wurde mehrheitlich von meinen Geschwistern erzogen. Von einigen meiner Brüder bekam ich ein paar Mal ziemlich Schläge, wenn wir irgendwie in Streit gerieten. Sie waren viel älter als ich und wussten wahrscheinlich nicht, wie hart sie zuschlugen. Es war ja niemand da, der sie in die Schranken gewiesen hätte. Deshalb bekam ich einige Male zu spüren, wie schmerzhaft solche Schläge sind. So vermisste ich die Liebe. Vater war still, die Mutter gestorben und die Geschwister waren selber noch Kinder, die ein Gefühl von Wärme und Vertrautheit genauso nötig gehabt hätten wie ich. Auch meine Grosseltern lernte ich nie wirklich kennen. Eine Grosmutter habe ich ein einziges Mal in meinem Leben gesehen. Ansonsten kann ich mich an nichts erinnern. Mit Onkeln und Tanten hatten wir sehr wenig Kontakt; wie auch, da war kein Auto, sehr lange Zeit auch kein Telefon – und Vater bemühte sich auch sonst nicht, dass wir Kinder unsere Verwandten kennen lernen konnten. So kam auch von dieser Seite keine Liebe.
Ich wäre gerne in die Sonntagsschule gegangen. Zuhause erzählte niemand biblische Geschichten, und die hätten mich schon damals interessiert. Ganz unbewusst spürte ich, dass ich da die Liebe finden würde, die mir so sehr fehlte. Denn während ein paar Wochen war eine junge Frau als Aushilfe bei uns. Sie erzählte uns Geschichten aus der Bibel und betete am Abend mit uns Kleinsten. Das fand ich wunderschön, so dass ich es nie mehr vergessen konnte. Vater machte zwischendurch auch so Andeutungen von Gott – und mich nahm wunder, wie Gott denn sei. Deshalb suchte ich dann doch die Sonntagsschule auf, manchmal auch ganz allein. Da gab es ein schmales Weglein, von unserem Haus durch den Wald hinauf. Oben in einem Bauernhaus war die Sonntagsschule, die ich sehr gerne besuchte.
An einem Weihnachtsfestli – ich war schon etwas älter – wollte niemand mit mir dorthin gehen. So war ich ganz allein unterwegs. Es war finster und kalt. Gefürchtet habe ich mich nicht so sehr, aber das Weglein fand ich beim nach Hause gehen fast nicht mehr. Ich musste mich den Sträuchern entlangtasten. Fast wäre ich zu weit hinausgelaufen – dort, wo es steil die Böschung in den Bach hinunterging. Das hatte mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt – und ich war heilfroh, als ich endlich aus dem Wald hinauskam und von Neuem sehen konnte, wo der Weg durchging. Als ich zuhause ankam, war auch hier alles dunkel. Nirgends war ein Licht zu sehen, alle waren bereits schlafen gegangen. Hatte denn niemand auf mich gewartet? Vielleicht hatte ja auch niemand wahrgenommen, dass ich allein weggegangen war. Die Sonntagsschule war wichtig für mich, denn der Glaube war in meinem weiteren Leben manchmal die einzige Hilfe und Stütze, die weiterhalf und mich wieder aufrichtete. Diese Hilfe fühlte ich schon damals als Kind. In der Weihnachtszeit bekam ich von Gotte und Götti ein Geschenk. Das war aber nicht selbstverständlich. Einige meiner Geschwister wurden nicht beschenkt von ihren Taufpaten. Sie kannten sie teilweise nicht einmal richtig. Wir hatten nicht wirklich Kontakt zu ihnen. Zuhause gab es an Weihnachten auch keine Geschenke, da war nur ein Weihnachtsbaum mit Kerzen. Es wurde nicht gesungen, es wurden keine Geschichten erzählt und auch sonst wurde nichts Besonderes gemacht. Ich erinnere mich an eine Weihnacht, da sass ich ganz allein beim Baum. Da war ich aber schon älter. Vater schlief auf dem Sofa, ein Bruder verzog sich ins Bett, die Geschwister waren weg. Das machte mich traurig und mir war zum Weinen zumute, doch auch hier kam irgendwie Trost. Jemand war da und tröstete mich. Ich spürte, dass Gott selbst auf so einsame Kinder Acht gibt. So musste ich manches verarbeiten und irgendwie meinen Weg finden.
In mir erwachte in den Kinderjahren auch eine grosse Liebe zur Natur und zu den Tieren. Den kleinen Bach, der direkt vor unserem Haus unter der Heubühneneinfahrt durchfloss, mochte ich sehr gerne. Ich liebte es, als Kind dort zu spielen. Den ganzen Weg entlang bis zur Strasse hinab gluckserte er über die Steine, da konnte ich lange verweilen und mit dem Wasser spielen. Ich sah die glänzenden Sonnenstrahlen im sprudelnden Wasser glitzern – und überall die vielen Wassertropfen an den Pflanzen. Das fand ich alles sehr schön. Auch wenn es regnete, bot sich da für mich ein faszinierendes Schauspiel.
Wenn ich traurig war, so suchte ich auch Trost am Bächlein. Denn da blühten den ganzen Sommer über viele wunderschöne Blumen. Das tröstete mich jeweils. Denn ich spürte, dass eine grosse Liebe über allem waltete, was mich wieder froh werden liess.
Öfters wurde aber mit mir geschimpft, weil ich mich zu lange am Bächlein versäumte, wenn ich von der Schule nach Hause kam.
Auch die Tiere waren mir ein grosser Trost – besonders die Katzen mit ihren Jungen, sie waren wie kleine Spielkameraden. Meinem Vater half ich viel im Stall, die Arbeit mit den Kühen gefiel mir. Als ich noch ziemlich klein war, packte mich einst eine Kuh an der Schürze und zerrte mich in die Futterkrippe hinein. Sie hob mich einfach hoch wie ein Federbälleli. Zum Glück war eine meiner Schwestern dabei und kam mir zu Hilfe, so dass ich unbeschadet wieder auf die Beine kam. Im Herbst mussten wir Kälber und Rinder auf der Weide hüten, damit sie das restliche Gras abweiden konnten. Wenn es jeweils anfing zu dunkeln, hörten wir, wie der Uhu anfing zu rufen. Einmal dachte ich, das sei meine Schwester, die den Uhu nachahmt. Ich rief abermals ein «Uhu, Uhu» zurück. Nach einer Weile tönte es aber direkt hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen echten Uhu, den ich mit meinem Rufen angelockt hatte. Weil es schon sehr dunkelte, fürchtete ich mich vor seinen Rufen und warf vor Schreck meinen Stecken gegen den Haselstrauch. Doch gleich darauf war ich traurig, dass der Vogel davonflog und ich ihn nicht mehr sehen konnte. Die Tiere und auch die Pflanzenwelt gaben mir sehr viel, denn wir wohnten abgelegen. Mit Menschen kamen wir wenig in Kontakt, solange wir noch nicht zur Schule gingen.
Das erste Mal, als ich richtig mit fremden Menschen in Kontakt kam, war in den ersten Schuljahren, als eine meiner Schwestern eine Stelle als Haushaltshilfe auf einem anderen Bauernhof annahm und ich dort eine Woche lang in die Ferien durfte. Leider waren das nicht so schöne Ferien für mich, denn da wurden viele Hühner geschlachtet. Ich konnte nicht zusehen, wie die armen Tiere getötet wurden. Deshalb weigerte ich mich, bei der Arbeit mitzuhelfen. Bei der Kartoffelernte musste ich den Traktor steuern, damit der Samro in der richtigen Spur blieb. Auch hier hatte ich Probleme. Ich hatte zuvor noch nie einen Traktor gesehen und wusste auch nach der Erklärung des Bauern nicht, wie ich mit dem Ding umzugehen hatte. Die Arbeit, die ich da tun sollte, war nicht gefährlich, aber ich hatte Angst vor der grossen Maschine. Dennoch getraute ich mich nicht, etwas zu sagen. Auf diesem Hof war noch ein anderes Mädchen, das sich öfters dort aufhielt. Wie mir gesagt wurde, liess es manchmal Sachen mitgehen. Deswegen wurde vor der Heimreise auch in meinen Koffer hineingeschaut, ob da eventuell auch etwas drin sei, was nicht hineingehörte. Doch da war nichts. Irgendwie war ich beleidigt. Ich wusste bis dahin nicht einmal, was das ist, etwas stehlen. Gerne hätte ich gefragt, aber ich war viel zu schüchtern dazu. So musste ich mit allem Erlebten allein fertigwerden, denn auch daheim hörte mir niemand...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2020 |
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Zusatzinfo | Ca. 25 verschiedene Abbildungen |
Verlagsort | Deutschland |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Älpler • Heimatlos • Hoffnung |
ISBN-10 | 3-906959-34-1 / 3906959341 |
ISBN-13 | 978-3-906959-34-4 / 9783906959344 |
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