Der perfekte Frieden (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
480 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75369-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der perfekte Frieden -  AMOS OZ
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'»Amos Oz erzählt die Geschichte eines Kibbuz, eine Geschichte, die er kennt; denn er hat selbst über 30 Jahre lang in einer dieser Keimzellen des israelischen Staatswesens gelebt. Er kennt sie, diese Jonathans, Asarjas, Sruliks, Joleks, Chawas und Rimonas, er kennt sie in ihrem Bedürfnis, irgendwo zuhause zu sein. Das Gefühl, das sie alle umtreibt, heißt Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Staat, in dem sie frei und sicher leben können bei den Zionisten alten Schlages, Sehnsucht nach Abenteuer und einer weiten, einer grenzenlosen Welt bei der Jugend, die bereits in der Geborgenheit und der Zucht eines Kibbuz aufgewachsen ist, Sehnsucht nach dem ?perfekten Frieden? bei einem wie Jonathan Lifschitz, der eines Tages beschließt, seine Frau, seine Eltern und die Gemeinschaft der ändern Kibbuzniks zu verlassen, um jenen Ort auf der Welt zu suchen, an dem er wirklich ,zuhause und bei sich selbst wäre.« Klara Obermüller, Die Weltwoche'



<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>

2.


An ebendiesem Abend traf ein fremder junger Mann im Kibbuz ein. Er war allein zu Fuß die sechs Kilometer von der Hauptstraße gelaufen und hatte das Kibbuzgelände auf einem schlammbedeckten, sonst von Traktoren benutzten Nebenweg betreten, der an den Stallungen und Lagerhäusern vorbeiführt. Da es bereits Abend war und zu dieser Stunde kaum jemand zwischen den Wirtschaftsgebäuden herumlief, mußte er lange weiterwandern, ehe er auf eine menschliche Seele stieß. Nur penetrante Gerüche begrüßten ihn: säuerlicher Dunst aus den Hühnerställen, Schafsgestank, der modrige Geruch nassen Heus, stinkender Kuhmist in grünlichen Wasserpfützen um den verstopften Jaucheabfluß neben den Rinderställen, ätzender Gärduft von langsam vor sich hinschimmelnden Orangenschalen.

Der erste, dem der Gast begegnete, war Etan R. Er war gerade dabei, Grünfutter auf die Krippen der Kuhställe zu verteilen, als er im fahlen Licht der Dämmerung plötzlich ein schwerfälliges Rumoren wahrnahm, ein mühseliges Sichvorwärtsbahnen durch das dichte Gebüsch hinter dem Düngemittelschuppen. Schon wieder ist ein Kalb aus seinem Pferch ausgebrochen, dachte Etan wütend, weil der Riegel wieder kaputt ist und Stutschnik wieder vergessen hat, ihn zu reparieren, und ich vergessen habe, ihn mit Draht festzumachen. Aber diesmal denke ich nicht im Traum daran, mich damit abzugeben, sondern ich gehe jetzt augenblicklich und mit dem größten Vergnügen los und hole diesen Stutschnik aus dem Kulturraum, mitten aus dem Treffen seiner Studiengruppe über jüdische Philosophie, damit er sich in seiner Feierabendkleidung hierher begibt und selber die Suppe auslöffelt, die er sich da eingebrockt hat. Ist mir völlig schnuppe. Das ist das zweite Kalb, das uns diese Woche durchgebrannt ist, und ich gehe jetzt aus Prinzip und hole den lieben Stutschnik da raus, damit er nicht immer nur über die anderen redet, die alles falsch machen, und über die Jugend, die vor lauter Überfluß degeneriert. Aber das ist ja gar kein Kalb! Das ist irgendein Mensch, der mir da herumläuft, und ich sehe schon, daß es hier gleich Unannehmlichkeiten gibt.

Aus dem Gebüsch tauchte nun fuchtelnd und springend der fremde Jüngling auf, erst sein staunendes Gesicht, dann Schultern und Hände, die das feuchte Laub zur Seite drückten, und schließlich keuchend und prustend der ganze Körper, gekleidet in Kordhosen und eine helle Jacke. Er rannte schnell – oder versuchte womöglich im Gegenteil, den Schwung seiner Sprünge aus dem dichten Gebüsch heraus zu bremsen –, so daß Etan R. für einen winzigen Augenblick versucht war, ihm ein Bein zu stellen und über ihn herzufallen. Aber schon stand der Gast sehr naß und bebend vor ihm. Offenbar hatte er einen weiten Fußweg hinter sich gehabt, bevor er sich in dieses Dickicht verirrt hatte. Wegen des Wassers, das ihm aus den unbedeckten Haaren über beide Wangen floß, machte er eine äußerst armselige Figur. Über einer Schulter sah Etan eine dünne, schlaffe Militärtasche hängen, und in der Hand trug der junge Mann einen großen Gitarrenkasten.

Etan musterte den Gast mißtrauisch: ein mageres Bürschchen mit schmalen, stark abfallenden Schultern und so unsicher auf den Beinen, daß man ihn mit einem mittelprächtigen Stoß ohne weiteres hätte umwerfen können. Die anfängliche Besorgnis verschwand also und machte einer leichten Ungeduld Platz. Etan R. war ein breitgebauter, stark behaarter Mann mit blondem Schopf, einer kindlich wirkenden Stupsnase und markigem Kinn. Er nahm seine in schweren Arbeitsstiefeln steckenden Füße etwas auseinander, um einen besseren Stand zu haben, und blickte weiter prüfend geradeaus, bis er schließlich sagte: »Guten Abend?«

Diese Worte betonte Etan fragend und nicht grüßend, denn der fremde Jüngling erschien ihm höchst befremdlich.

Der Gast lächelte plötzlich übertrieben breit, hörte genauso plötzlich wieder damit auf, erwiderte einen erschrockenen Gutenabendgruß, der einen leichten Akzent erkennen ließ, und fragte, wo er jetzt wohl den Leiter des Kibbuz finden könne.

Etan R. beeilte sich nicht mit der Antwort, sondern erwog sie erst ein bißchen, wobei er immer noch mit dem verlockenden Gedanken spielte, im Kulturraum zu erscheinen, um Stutschnik vor aller Augen aus seiner Philosophiestunde herauszuholen. Aber er widerstand dieser Versuchung und stellte in seinem behäbigen Tonfall ruhig fest: »Du meinst den Sekretär. Unser Sekretär ist krank.«

»Selbstverständlich«, erwiderte der Gast mit gebührendem Nachdruck, als hätte er von vornherein wissen müssen, was doch jedem Kind hinreichend bekannt ist: daß sämtliche Kibbuzsekretäre von Natur aus eindeutig kranke Leute sind. Es tat ihm in der Seele weh, eine derart beschämende Frage gestellt zu haben, aber trotzdem, vielleicht blieb ihm doch noch ein klein wenig Raum, um auf seinem Anliegen zu beharren: »Sicher«, wiederholte er, »ich verstehe sehr wohl und wünsche natürlich völlige Genesung, aber im Kibbuz herrscht doch Kollektivverantwortung; gibt es bei euch vielleicht einen Stellvertreter oder einen turnusmäßig Verantwortlichen?«

Belustigt schaute Etan erneut auf den Gast und schüttelte sein schweres Haupt einige Male. Beinahe hätte er sogar gutmütig gelächelt, wenn er nicht für einen Augenblick im Schein der blassen Lampe unter dem Blechdach den Blick des Neuankömmlings aufgeschnappt hätte; es war ein scharfer grüner Blick, der gleichermaßen an Fröhlichkeit wie an Verzweiflung grenzte, und um die Lider herum spielte ein nervöses Zucken. Die ganze Haltung des jungen Mannes hatte etwas Unruhiges, ängstlich Angespanntes, sich Anbiederndes an sich, eine Art verschlagener Unterwürfigkeit.

Etan R. war nun gar nicht mehr belustigt: Der vor ihm Stehende sah unaufrichtig aus. Statt eines Lächelns wählte Etan einen militärisch knappen Ton: »Gut, womit kann ich behilflich sein.« Und diesmal endete der Satz nicht mit einem Fragezeichen.

Der fremde Bursche antwortete nicht sofort. Es schien, als habe er mit einem Schlag Etans Überlegenheitstaktik durchschaut und sie sich selbst zu eigen gemacht: nämlich die Antwort für einige Sekunden aufzuschieben.

Er zögerte, ließ den Gitarrenkasten von der rechten in die linke Hand wandern und streckte dann mit einer entschiedenen Bewegung seine frei gewordene Rechte aus: »Schalom. Sehr angenehm. Mein Name ist Asarja Gitlin. Ich … ich bin daran interessiert hierzubleiben, das heißt, bei euch zu wohnen. Nur im Kibbuz gibt's noch Gerechtigkeit. Nirgendwo sonst findet man sie heute. Ich möchte gern hier leben.«

Etan war also gezwungen, seinen Arm auszustrecken und die angebotene Hand mit den Fingerspitzen zu ergreifen. Es erschien ihm sonderbar, hier zwischen den Büschen hinter dem Düngemittelschuppen einen Händedruck mit dieser merkwürdigen Gestalt auszutauschen.

Asarja Gitlin ließ nicht ab von seinen eindringlichen Erläuterungen: »Schau, Genosse, damit du mich nicht schon von Anfang an falsch verstehst. Ich bin keineswegs einer von denen, die aus allen möglichen persönlichen Gründen in den Kibbuz kommen und dort wer weiß was suchen. Im Kibbuz sind die Menschen einander doch noch verbunden, während man jetzt in der ganzen Welt nur Haß, Neid und Roheit sieht. Deshalb bin ich hergekommen, mich euch anzuschließen und meinem Leben eine bessere Wendung zu geben. Eine innere Verbindung zum Nächsten aufzubauen bedeutet meines Erachtens, eine Verbindung zur eigenen Seele zu schaffen. Nun möchte ich bitte mit dem verantwortlichen Menschen sprechen.«

Ein fremder Akzent. Etan gelang es nicht, diesen Akzent einzuordnen, was ihn ungeduldig machte. Die Stelle, an der die beiden am sanft abfallenden Rand der Siedlung standen, war verlassen. Dreißig Meter weiter verlief der Sicherheitszaun, zwischen dessen rostigen Stacheldrahtwindungen eine schwache Glühlampe leuchtete. Der Betonpfad zu ihren Füßen lag unter einer dicken Schlammschicht. Jeder Schritt in diesem klebrigen Morast war von einem platschenden Gurgeln begleitet, das an das faulige Blubbern fermentierenden Düngers erinnerte. Etan R. fiel ein, daß Stutschnik einmal etwas von einem Studenten erzählt hatte, der vor dreißig Jahren im Kibbuz gelebt hatte, in wildem Amoklauf hierhergerannt war und mit der Pistole auf jeden geschossen hatte, der sich ihm zu nähern versuchte. Es wehte ein Wind. Auch die Luft war feucht. Oben auf der Anhöhe hatten sich die von Kälte heimgesuchten Wiesenflächen noch nicht völlig in Dunkelheit gehüllt. Die winterlichen Laubbäume trauerten um ihre Blätter. Im letzten Dämmerlicht erschienen die nahegelegenen Häuser weit voneinander entfernt. Dünne Nebelschwaden zogen zwischen den Gebäuden hindurch. Von unten, aus den Rinnsalen, stieg Dunst auf. In der Ferne lachte ein Mädchen. Dann wurde es wieder still.

Der Gast ließ den Gitarrenkasten von der linken in...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Übersetzer Ruth Achlama
Sprache deutsch
Original-Titel Menuhah nekhonah
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Israel • Kibbuz • Romane • ST 1747 • ST1747 • suhrkamp taschenbuch 1747
ISBN-10 3-518-75369-X / 351875369X
ISBN-13 978-3-518-75369-9 / 9783518753699
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