Hinterm Weyerberg schaut der Mond hervor: Roman (eBook)
160 Seiten
Atelier im Bauernhaus (Verlag)
978-3-96045-101-3 (ISBN)
Im Schlafzimmer, vor dem Spiegel. Was Monika dort sieht, ist eine Szene in Worpswede. Ihre bis dahin harmonische Ehe beginnt zu bröckeln, denn ihr Mann Reinhard fühlt sich nicht mehr als der, als welcher er geboren wurde.
Seinem Verlangen, Monika möge seiner neuen Menschwerdung zustimmen, kann sie nicht nachkommen und so verwickelt sie sich immer mehr in Wut und Verzweiflung.
Erlay beschreibt in einer eigenen, faszinierenden Sprache eine hochaktuelle Ehegeschichte, die in Worpswede und im Tessin angesiedelt ist und sowohl gegenwärtiges als auch kunstgeschichtliches Kolorit des Künstlerdorfes enthält. Kein Text, der in einem Atemzug, sondern in Stufen entstand und durch seinen kriminalistischen Rahmen eine besondere Spannung vermittelt.
Kapitel 4
Dann auf einmal rückte Bremen in den Fokus. Schon lange hatte Reinhard mit der dortigen Uni geliebäugelt, bis sich, man kann sagen: rechtzeitig zu unserer Heirat, der Bereich Naturwissenschaften I als Sechser im Lotto anbot. Ich dagegen war im Zwiespalt. Bremen war schon Norden, mithin, so empfand ich es, von Nebel und Nieseln eingehüllt. Erst recht würde das für Rilkes EinschneiParadies Worpswede gelten. Reinhard indes hatte nur diesen einen Ort auf der Zunge und im Herzen: Worpswede halt. Ich, mit leisem Spott: Du willst dich also einreihen. Er wusste sofort, was ich damit meinte. Er male ja nicht, und ein Dichter sei er erst recht nicht, gab er zur Antwort, aber etwas verhalten. Hatte er doch Ambitionen? Möglicherweise Richtung Lebenskunst, der ja so sehr gefeierten. Darin kann er sich versuchen, dachte ich, da schon halb mit Worpswede versöhnt.
Die erste Besichtigung nahm Reinhard freilich alleine vor. Ergebnis: Begeisterung pur. Früher Herbsttag, ein silberner wie goldener. Nahezu traumwandlerisch durchstreifte er das Dorf (das sogenannte), das an diesem Tag, da kein Wochenende, zwar keineswegs frei von Besuchern, aber frei von Rummel war, man konnte es quasi für sich alleine haben. Mein Zukünftiger, er schlenderte, blieb stehen, schaute, roch, ließ sich von vorzeitig herabtaumelnden Blättern begrüßen (ja, so drückte er sich hinterher aus). Das früher in der Tat rein Dörfliche schimmert ja immer noch durch, nach wie vor gibt es sehr schöne Ecken, Hässlichkeiten der Neuzeit allerdings auch, reichlich, sie glotzen einen an, das ist hier nicht anders als etwa in Ascona, zeitweise ja eine Art Ableger von Worpswede. Einer, der nach ersten Erfahrungen am Weyerberg im Fischerort am Lago Maggiore das südliche Pendant erhoffte und auch fand, war zum Beispiel Carl, dann Carlo Weidemeyer. Der gebürtige Bremer fing im Tessin das mediterrane Licht ein, in seinen filigranen Bildern und in seinen aufsehenerregenden FlachdachHäusern. Maler und Architekt also. Lange so gut wie vergessen, rückt er allmählich wieder ins Bewusstsein. Und wenn es einer verdient hat, dann er.
Den Weyerberg, ihm bis dahin nur von Beschreibungen her bekannt, nahm Reinhard natürlich ebenfalls in Augenschein. Anstrengen musste er sich dabei nicht, denn von Berg konnte nicht die Rede sein, nur von einem niedrigen Höhenzug. Freie und befreiende Ausblicke (inzwischen leider nicht mehr mit der sagenhaften, vom Sturm zu Boden geworfenen Kugeleiche. Gehört aber der Sturm nicht zu Worpswede?) Den langgestreckten Kamm habe ich immer nur im Zusammenhang mit einem bestimmten Lied sehen können: „Hinterm Weyerberg schaut der Mond hervor“, so eine Art „Der Mond ist aufgegangen“. Das tut er zwar hier auch, doch besungen wird das nackte Elend derer von ganz unten. Trotz des poetischen Anfangs also ein proletarisches Kampflied aus Worpswedes roter Zeit, gedichtet von einem Helmut Schinkel. Auch der frühe Kommunismus hatte seinen Matthias Claudius.
Rote Zeit ist hier aber vor allem gleichbedeutend mit Vogeler, Heinrich. Der rief nach dem Ersten Weltkrieg die legendäre „BarkenhoffKommune“ ins Leben. Kraut und Rüben, wo vorher kunstvolles Domizil. Fiebernde Köpfe und Herzen, die nun das ehemalige DesignerAreal bevölkerten und bewirtschafteten, es mit irgendeiner revolutionären Idee begossen. Der allgemeine Mantel: Kommunismus, seinerzeit ein ebenso junger wie zerfledderter Begriff. Vogeler, vorher der Herr mit schöner Frau, Kutsche und Erfolg, der musste jetzt nach Geld graben wie in Alaska die Abenteurer nach Gold. Wie sonst das KommuneDasein bezahlen? Wunderbare Brotvermehrung, sie blieb in der neuen Glaubensgemeinde leider aus. Obwohl: Jesus, noch mehr Gott waren große Größen auf dem Barkenhoff, religiöse Samenspender des jungen Kommunismus. Da jedoch der brodelnde Aufbruch zu gesellschaftlichem Neuland in behördlichen Späheraugen zunehmend den Charakter eines gefährlichen Aufbruchs nach russischer Gangart annahm, schlugen bei den staatlichen Stellen die Alarmglocken. Bei den meisten Dorfbewohnern, die in der Regel erdige Menschen, ebenfalls. Freilich loderte bei denen nicht nur der heimische Torf, sondern auch scheinheilige Neugier: Was da auf Vogelers gewesenem Edelgelände doch alles an sittlich Verdorbenen sich abspielte! Ein regelrechter Liebeszoo, konnte man sagen, ein Drunter und Drüber zum Weggucken. Letzteres nun taten die Leute vom Moor ganz sicher nicht, mussten sich aber ins Gedächtnis rufen, dass schon zu Vogelers goldenen Zeiten rund um die Teiche so einiges an Bloßgestelltem sich bot. Damals jedoch geschah alles unter dem Baldachin der Kunst, irgendwie. War der Liebhaber von Vogelers Ehefrau nicht auch Dichter? Jetzt aber: eine Brutstätte schändlicher Erotik, der berühmte „Barkenhoff“, sozusagen ein IPunkt auf all dem revoluzzerhaften Treiben. Gut, es wurde dort auch gearbeitet, Land und Garten bestellt, aus Werkstätten klang das Lied der Sägen und Hämmer. In der Nussschale, die der „Barkenhoff“ jener Jahre bildete, flackerte auf engstem Raum, was in der ganzen damaligen Welt brannte – politisch, gesellschaftlich, privat.
Von alledem hatten wir Kenntnis, im Groben. An besagtem Septembertag war diese Vergangenheit so etwas wie ein Teppich, über den Reinhard in die Gegenwart schritt, eine aber, die nicht allein von der Vergangenheit zehrte, sondern mehr noch von dem Mysterium, welches diesen Ort weit, weit über andere erhob. Ein Mysterium, das auch nicht erlöschen würde, sollte der Torf einmal nur noch auf den alten Bildern existieren. Beinah wie auf Glas wandelte Reinhard umher, staunend, erregt. Das Laub leuchtete und prangte zwar noch nicht wie beinah im Indian Summer, doch Spinnweben umgarnten ihn, als wollten sie ihn nie mehr loslassen in eine banalere Umgebung. Die Menschen, Reinhard nahm sie bloß verschwommen wahr, beinah als schemenhaft gemalte Gestalten, nicht wie Störenfriede. Er ging an Galerien, reetgedeckten Häusern vorbei, hin und wieder kurvten und bretterten Trecker, das Bäuerliche behauptete sich noch, tut es auch heute. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne? Hier war dem so.
Dann ein Bereich, der besonders tief auf ihn einwirkte. Bewohnte Ländlichkeit, die erneut von einem Trecker unterstrichen wurde. Sand unter den Füßen, Wildgänse am Himmel, die allerdings nur herbeigedacht. Ein Schild hatte ihn auf ein „Haus im Schluh“ aufmerksam gemacht. Schon der Name lockte ihn: „Haus im Schluh“? Da erwartete ihn etwas.
Mit diesem Gefühl weiter, dem Geheimnis entgegen. Das „Haus im Schluh“, es war dann nicht nur eines, sondern was er erblickte, war eine Anlage aus zwei mit reethgedeckten Gebäuden in niederdeutschem Stil, lang und groß das eine, etwas gedrungener das andere. An dieser Stelle könnte es sein, unser Zuhause, zumindest das erste.
Eine halbe Stunde später hatte sich das Gefühl zur Wirklichkeit verfestigt: War in dem größeren, gegenüberliegenden Haus eine Handweberei untergebracht, so hieß das vordere, kleinere, den Fremden als Pension willkommen, dazu mit einer Inhaberin, für die eine mehrmonatige Vermietung absolut denkbar war. Herz, was willst du mehr. Während sie sprachen und alles besprachen (die Kosten erschwinglich), behielt Reinhard das stimmungsstarke Gemälde im Blick, das den Raum beherrschte: Vogelers großes Frühlingsbild, allerschönster Jugendstil (wir sind es nie leid geworden). Nehmen Sie sich Zeit, sagte die Pensionsinhaberin und meinte die von Reinhard vorgetragene Absicht, von hier aus im Ort nach einer dauerhaften Bleibe Ausschau zu halten. Beinah das Wohligste: Während der ganzen Unterhaltung strich ein höchst fotogener Kater mit dem edlen Namen Romeo um seine Beine, eine Begegnung mit Folgen. Erfahren habe ich das alles durch Reinhards Anruf, es war die Schilderung eines hinreißenden Tages mit krönendem Abschluss in diesem muldenhaft gelegenen „Haus im Schluh“. Unmöglich konnte ich Nein sagen, war ja ohnehin schon dabei gewesen, den Mantel der Bedenken fallen zu lassen.
Dabei ganz und gar nicht in Laune, als das Telefon sich endlich bei mir meldete, weil: Hinter mir lag der Besuch beim Friseur, und wieder mal war das Ergebnis nicht so ausgefallen wie gedacht. Hätte ja lieber bis zu unserer Hochzeit gewartet, konnte es aber unmöglich bei dem damaligen Zustand belassen. Ich weiß, Haare und Frauen, aber diesmal hielt ich meinen Ärger für berechtigt. Dann aber Reinhards Hymnen, mit ihnen war jedem Verdruss das Bleiberecht entzogen.
Nicht erwähnt worden war von Reinhard bei seinem Gespräch in dem PensionsHaus, dass wir am Abend unseres Hochzeitstages eintreffen würden. Hochzeitstag – angeblich ja der schönste überhaupt. Ist er das? Bei uns fiel er als äußeres Ereignis recht spartanisch aus, zumindest was die Dorfkirche betraf. Ein Bau, wie von einer Lagerhalle abgeguckt. Das einzig Feierliche war im Grunde Händels (durch den Massengebrauch auch schon etwas mehliges) Largo auf der tatsächlich stattlichen Orgel. Attraktiv natürlich mein Hochzeitskleid (war auch stolz, weil aus Haiti). Fröstelte trotzdem. Draußen indes trotz der schon winterlichen Jahreszeit eine beinah milde Temperatur. Milchige Sonne. Wenn’s die Kargheit der Romanik gewesen wäre, hätte ich mir die Kirche (unteres Sauerland) gefallen lassen, aber diese stillose Feierlichkeit … Zur Leere der ganzen Umgebung allerdings passte es, Wald zeigte sich erst als dunkler Strich weit außerhalb des Ortes, beinah, als habe er sich davonmachen wollen.
Dass wir ausgerechnet in diesem trostlosen Kaff uns das berühmte Jawort gaben, dass wir es uns überhaupt in sakralen Rahmen gaben, lag an Reinhards Mutter, die stark in der katholischen Kirche verwurzelt war und deren Neffe hier als Geistlicher wirkte. Reinhard und ich hätten uns damals mit der...
Erscheint lt. Verlag | 5.3.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-96045-101-6 / 3960451016 |
ISBN-13 | 978-3-96045-101-3 / 9783960451013 |
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