Die Sommer (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
288 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-26856-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sommer -  Ronya Othmann
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Leyla ist die Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden... Das ergreifende Debüt der Gewinnerin des Publikumspreises des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (2019) über das Dasein zwischen zwei Welten
Das Dorf liegt in Nordsyrien, nahe zur Türkei. Jeden Sommer verbringt Leyla dort. Sie riecht und schmeckt es. Sie kennt seine Geschichten. Sie weiß, wo die Koffer versteckt sind, wenn die Bewohner wieder fliehen müssen. Leyla ist Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden. Sie sitzt in ihrem Gymnasium bei München, und in allen Sommerferien auf dem Erdboden im jesidischen Dorf ihrer Großeltern. Im Internet sieht sie das von Assad vernichtete Aleppo, die Ermordung der Jesiden durch den IS, und gleich daneben die unbekümmerten Fotos ihrer deutschen Freunde. Leyla wird eine Entscheidung treffen müssen. Ronya Othmanns Debütroman ist voller Zärtlichkeit und Wut über eine zerrissene Welt.

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u.a. den MDR-Literaturpreis, den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik, den Lyrik-Preis des Open Mike, den Gertrud-Kolmar-Förderpreis und den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne 'OrientExpress' über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne 'Import Export'. Bei Hanser erschienen zuletzt ihr Debütroman Die Sommer (2020), für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde, und der Gedichtband die verbrechen (2021), für den sie den Orphil-Debütpreis und den Düsseldorfer PoesieDebütPreis erhielt.

AM SPÄTEN ABEND des 15. Februar 2011, Leyla musste das Datum nachlesen, sprühte eine Gruppe von Jungen in Daraa im Südwesten des Landes einen Spruch auf die Mauer ihres Schulhofs.

So nahm alles seinen Anfang, oder einen neuen Anfang, stellte Leyla sich vor. Als einer der Jungen auf den Knopf seiner Sprühdose drückte, die rote Farbe aus der Düse drang und auf die ockerfarbene Schulhofmauer traf, war es, als käme alles, was von nun an geschah, direkt aus der Dose geschossen. Keine Revolution begann nur mit einer Sprühdose. Ohne vierzig Jahre Unterdrückung hätte es diese Revolution nicht gegeben. Aber jede Revolution brauchte nun einmal eine Erzählung.

Der Hausmeister der Schule in Daraa war der Erste, der am Morgen das Graffiti las: Du bist dran, Doktor! Nieder mit Assad!

Der Hausmeister informierte den Schulleiter, las Leyla. Der Schulleiter informierte die Polizei. Die Polizei nahm die Schüler fest. Die Schüler wurden gefoltert. Die Schüler waren einen Monat im Gefängnis.

Die Eltern wussten nicht, ob ihre Kinder noch lebten, sie forderten ihre Freilassung. Atef Najeeb, der Chef der Sicherheitskräfte in Daraa und ein Cousin des Präsidenten, antwortete ihnen folgendermaßen: Vergesst, dass ihr diese Kinder hattet. Geht nach Hause. Macht neue Kinder. Und wenn ihr das nicht hinkriegt, bringt uns eure Frauen, und wir machen euch neue Kinder.

Die Eltern der Kinder gingen aber nicht nach Hause, sondern auf die Straße.

Mehr und mehr Menschen schlossen sich ihnen an. Auch in anderen Städten protestierten die Leute. In Damaskus, aber auch im kurdischen Qamishlo, forderten sie die Freilassung politischer Gefangener und Reformen.

Zwei Jahre später fanden Journalisten einen der Jungen vom 15. Februar 2011. Sie hielten ihn für den, der damals in der Februarnacht auf den Knopf der Sprühdose gedrückt hatte. Sie fragten ihn, ob er seine Tat bereue. Falsche Frage, dachte Leyla, bereuen, was für ein Wort, als sollte jemand einen Kinderstreich bedauern. Aber was wussten die Journalisten schon von diesem Jungen? Er hatte in Klassenzimmern gesessen, an deren Wänden die Bilder des Präsidenten und des Präsidentenvaters hingen, er hatte Fächer belegen müssen, die Nationale und Militärische Erziehung hießen. Er hatte auf Paraden zu Ehren des Präsidenten marschieren müssen, er hatte unzählige Male Parolen zu schreien gehabt. Vielleicht hatte er einen Cousin dritten Grades oder eine Tante oder einen Großonkel gehabt, der oder die verhaftet worden war und gebrochen aus dem Gefängnis zurückkam. Vielleicht hatte er auch nur die Erzählungen über die Shabiha gehört, die Gespenster, die immer nur nachts kamen, in die Häuser eindrangen und verhafteten, töteten und vergewaltigten. Die großen Militärgefängnisse waren abgesperrt, dreißig von ihnen gab es im ganzen Land verteilt. Menschen wurden dort ohne Haftbefehl eingeliefert, verschwanden für lange Zeit, wurden niemals wieder gesehen oder freigekauft, waren danach für immer gebrochen. Angst, die irgendwann zu Wut wurde, dachte Leyla. Vielleicht war sie wie zu viel Druck in einem geschlossenen Gefäß, der nach draußen drängte, nach draußen schoss, und es gab keinen Weg zurück.

Der Vater saß immerzu auf dem Sofa, der Fernseher vor ihm eingeschaltet. Die Bilder der Nachrichten warfen fahles Licht auf die Wohnzimmerwände und sein Gesicht. Bei keiner von Leylas Schulfreundinnen lief der Fernseher so oft und so lange wie bei ihnen zu Hause. KurdSat, Kurdistan TV, Roj TV, Rudaw, al-Jazeera, Al Arabiya. Der Vater saß vor dem Fernseher und aß Sonnenblumenkerne und das Obst, das immer auf dem Wohnzimmertisch stand. Manchmal schaute er die Tagesschau, wenn die Mutter sie sehen wollte, aber danach wechselte er gleich wieder zu seinen arabischen und kurdischen Sendern.

Es war, als explodiere etwas hinter dem Bildschirm. Als zerbreche die Oberfläche und strömten der Lärm und die Bilder in den Raum hinein und über Leylas Familie auf dem Sofa davor hinweg. Ab 2011 wurde der Fernseher nicht mehr ausgeschaltet.

Der Vater beugte sich vor, stützte seine Arme auf den Knien ab. Er sah aufgeregt aus. Leyla, sieh dir das an. Im Fernsehen war eine große Menschenmenge zu erkennen, ein öffentlicher Platz, abends, es wurde schon dunkel, ringsum Gebäude. Die Menschenmenge, man konnte keine einzelnen Personen ausmachen, das Bild war unscharf, wackelte, tanzte, jubelte, hüpfte auf und ab. Hau ab, Baschar, jemand sang. Die Menge wiederholte: Hau ab, Baschar! Die Stimme des Sängers wurde von einem Megafon verstärkt, hallte über den ganzen Platz. Die Menge klatschte rhythmisch. Hau ab, Baschar!

Sieh dir das an, sagte der Vater. Sieh dir das nur an, Leyla.

Baschar, du bist ein Lügner. Die Freiheit steht vor der Tür. Es ist Zeit abzuhauen. Hau ab, Baschar!

Der Vater stand auf. Er reckte seine Fäuste in die Luft und jubelte vor dem Fernseher. Er lief zwischen dem Sofa und dem Schrank hin und her. Hau ab, Baschar, sang er und lachte.

Onkel Memo schickte eine E-Mail mit Anhang, ein Foto von Zozan und Mîran. Sie hatten beide Kurdistan-Flaggen umgebunden, standen Arm in Arm, um sie herum viele andere Menschen. Die beiden lachten glücklich in die Kamera. Qamishlo, sagte der Vater, sie sind alle zusammen nach Qamishlo gefahren, zur Demonstration.

In allen Städten, sagte der Vater, gehen sie auf die Straße. Sie rufen: Das Volk will den Sturz des Regimes. Araber, Kurden, Armenier, Aramäer, Drusen, sagte der Vater. Christen, Alawiten, Sunniten, Schiiten, Êzîden. Sie rufen alle: Das Volk will den Sturz des Regimes.

Es ist nur eine Frage der Zeit, sagte der Vater. Ein, zwei Monate noch, dann fahren wir drei in ein freies Syrien.

Wie dieses freie Syrien aussehen würde, darüber sprach der Vater bei den Abendessen in der Küche oder vor dem Fernseher wieder und wieder. Ein demokratisch gewähltes Parlament wird es geben, und natürlich Pressefreiheit, sagte er. Die Kurden werden nicht mehr Bürger zweiter Klasse sein, sondern Staatsbürger. Eins, sagte er, auf den Straßen rufen sie, eins, eins, das syrische Volk ist eins. Kannst du dir das vorstellen, Leyla? Sie rufen, Kurden, Araber, Christen, Alawiten, Sunniten, Syrien ist eins.

In solch ein Syrien, sagte der Vater, werde ich zurückkehren.

Warten wir erst mal ab, wie sich alles entwickelt, sagte die Mutter. Aber der Vater hörte ihr nicht einmal richtig zu. Er wechselte von al-Jazeera zu Al Arabiya, von Al Arabiya zu Rudaw, zu KurdSat, zu BBC arabiya und wieder zu al-Jazeera. Er saß am Küchentisch vor seinem Laptop, hatte mehrere Nachrichtenseiten gleichzeitig geöffnet und guckte auf Youtube immer noch mehr Videos der Demonstrationen.

Neben dem Laptop stand wie immer seine Schüssel mit Sonnenblumenkernen, die Schalen spuckte er auf Papierservietten, die die Mutter beim Aufräumen in den Müll warf. Er saß noch vor dem Laptop, wenn Leyla und die Mutter längst schlafen gegangen waren, und guckte am nächsten Morgen schon wieder die Nachrichten und trank seinen Kaffee, bevor er zur Arbeit fuhr. Müde schien er nie zu werden.

Wenn Leyla freitagabends das Haus verließ, fragte er neuerdings nicht einmal, wohin sie ging. Leyla saß bei Boris mit Bernadette auf dem Sofa, und bei Boris war einfach nach wie vor alles wie immer. Er hockte vor dem Computer und kämpfte wie seit Jahren gegen feindselige Armeen. Bernadette hatte Musik angemacht, die Musik übertönte die Schüsse aus den Computerlautsprechern. Bernadette reichte Leyla den Joint und Leyla zog daran. Leyla strich mit ihrem Finger über die Brandlöcher in Boris’ Sofa. Bernadette baute einen zweiten Joint, Boris holte eine Tüte Chips und setzte sich zu ihnen.

Leyla taumelte nach Hause, sie war ganz zugekifft. Im Wohnzimmer brannte immer noch Licht. Leyla zog die Schuhe aus, ging barfuß in die Küche, trank Wasser aus dem Wasserhahn. Sie hörte, wie der Vater den Fernseher im Wohnzimmer ausschaltete. Er kam zu ihr in die Küche. Du bist ja immer noch wach, sagte Leyla mühsam. Ihre Zunge war schwer. Vielleicht war Sprechen keine kluge Idee, dachte sie.

Der Vater fragte aber auch jetzt nicht, wo sie gewesen war.

Sie haben seine Leiche im Fluss gefunden, sagte er nur.

Wessen Leiche, fragte Leyla.

Die Leiche von Ibrahim Qashoush, sagte der Vater.

Von wem, fragte Leyla.

Er hat auf der Demonstration in Hama gesungen, du hast es im Fernsehen gesehen. Sie haben ihm die Kehle durchgeschnitten und ihm dann die Stimmbänder herausgerissen, sagte der Vater. Dann ging er sofort wieder in das Wohnzimmer.

Im Mai kam das Abitur. Leyla saß drei Tage lang in der großen Turnhalle an einem der ...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 10er Jahre • 2011 • 2014 • 2020 • akin • Aleppo • Alptraum • Arabischer Frühling • Armenier • Armenisch • Assad • Aydemir • Beirut • charim • Coming of Age • Demo • Deutsch • Deutschland • dokumentarisch • Dorf • Erdogan • Facebook • Genozid • Graue Wölfe • Grenze • Grjasnowa • Großmutter • Großvater • Grüne • Hass • Heimat • Hengameh • Holocaust • Integration • Islam • Jeside • Jesiden • jesidisch • Kelek • Kempowski • Khider • Kolumne • Krieg • Kurdisch • Kurdistan • Kurzeck • Leipzig • Lesbisch • Liebe • Linke • Miliz • Mine • Mossul • München • Musa Dagh • Nachrichten • #ohnefolie • ohnefolie • Opfer • Opma • Orient • Political Correctness • Politik • Pubertät • Putsch • Queer • Rojava • Sahin • Salzmann • Sarrazin • Schön • Sonnenblumenkerne • Syrien • Syrisch • Taxi • Terror • Terrorismus • Trauer • Türkei • Türkisch • Vertreibung • Völkermord • Weltpolitik • Werfel • Yaghoobifarah • Zadie Smith • Zaimoglu • zehner Jahre
ISBN-10 3-446-26856-1 / 3446268561
ISBN-13 978-3-446-26856-2 / 9783446268562
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