Miss Marie (eBook)

Historischer Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
400 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2585-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Miss Marie -  Ellen Vahr
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Auf der Suche nach Glück und Gerechtigkeit. Europa im Jahr 1916. Marie Thoresen ist siebzehn und träumt vom großen Glück in Norwegen. Sie möchten heiraten und die Bäckerei ihres Vaters übernehmen. Doch die Geschäfte ihres Vaters laufen schlecht, so dass die Schließung der Bäckerei droht. Als ihre Tante, die vor Jahren ausgewandert ist, sie einlädt, lässt Marie sich auf das Abenteuer ein, nach Amerika zu gehen. Nach einer beschwerlichen Überfahrt kommt sie in New York an und wird Dienerin bei der reichsten Familie des Landes: den Vanderbilts. Bald muss sie aber erkennen, wie rechtlos die Frauen in den USA sind - und sie begehrt auf ... Die packende, auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte einer Auswanderin



Ellen Vahr hat in Kopenhagen Wirtschaftswissenschaften studiert, dann in den USA mehrere Ausbildungen für therapeutische Berufe absolviert, ehe sie nach Norwegen zurückkehrte. Im Aufbau Taschenbuch erschien von ihr bisher: 'Die Gabe', ein historischer Roman über ihre Urgroßmutter, die in Christiania - wie Oslo damals hieß - eine der ersten bekannten Heilerinnen und Kräuterfrauen war. Gabriel Haefs übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen, u. a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. Für ihre Vermittlungstätigkeit für norwegische Literatur wurde sie mit dem Königlich Norwegischen St. Olavs-Orden ausgezeichnet. Sie lebt in Hamburg.

1


Kristiania, März 1916

Die ersten weißen Morgenstrahlen wanderten an der Kellerwand in der Norderhovgate 18 hinunter und leuchteten den Tisch an, an dem Thea stand und Brotlaibe formte. Sie strich sich eine Haarsträhne von der Wange und beobachtete den Vater, der sich vorbeugte und die langen dünnen Backbretter in den glühendheißen Ofen schob. Mit einem raschen Ruck glitten die Brote vom Brett und lagen ordentlich nebeneinander auf den Steinplatten. Theas Vater war ein tüchtiger Bäcker, ja, vielleicht der tüchtigste in ganz Kristiania. Aber seit 1914 der Große Krieg ausgebrochen war, hatte sich so vieles verändert. Der Getreidemangel im Land setzte allem, was nicht unbedingt nötig war, ein Ende. Kuchen waren nicht mehr nötig, Brot wohl, denn wenn es Brot gab, mussten die Menschen nicht hungern.

Thea setzte eine neue Ladung zum Gehen an, jedes Brot auf sein Brett. Danach schob sie die Bretter in die hohen Eisengestelle, die mitten auf dem Steinboden standen, pinselte die Brote mit Wasser und schnitt mit einem scharfen Messer feine Schrägkerben hinein. Nach Amerika? Sie fuhr sich mit den Händen über die Schürze, es war unmöglich, nicht an den Brief zu denken, der am Vortag eingetroffen war.

»Augusta würde sich um sie kümmern.« Die Mutter hatte den Brief in den Händen gehalten. »Sie würde Arbeit und Lohn haben. In wenigen Wochen ist Astrid mit der Schule fertig. Wir können nicht zwei arbeitslose Mädchen hier in der Bäckerei beschäftigen.«

Astrid hatte geweint, und der Vater hatte die grünen Geldscheine aus dem Umschlag gezogen, hatte nacheinander Daumen und Zeigefinger angeleckt und die Dollars auf vier gleich große Haufen verteilt.

»Das sind vierzig Dollar«, kommentierte er laut, während er sich einige Mehlstreifen aus den schwarzen Haaren bürstete. »Deine Schwester hat vierzig Dollar. Warum gibt sie uns die nicht einfach?«

Die Mutter schwieg zuerst, dann sagte sie: »Das sind Augustas Ersparnisse. Die braucht sie selbst.«

»Aber wenn das bedeutet, dass Thea nicht nach Amerika muss?«

»Wir können nicht einfach das Geld meiner Schwester behalten, Martin.«

»Aber um Gottes willen, Anna, das würde unsere gesamten Schulden decken, und dann würden wir zurechtkommen. Kannst du ihr nicht schreiben und sagen, dass wir das Geld nur als Leihgabe nehmen, bis der Krieg zu Ende ist?«

»Augusta gibt Thea eine Chance«, sagte die Mutter entschieden. »Und wir haben wirklich Glück. Schon am nächsten Freitag geht ein Schiff.«

»Über den Atlantik reist man nur, wenn es sich wirklich nicht verhindern lässt.« Der Vater richtete sich auf. »Sie ist doch erst sechzehn.«

»Aber du weißt so gut wie ich, Martin, dass es so nicht mehr geht. Der Hausbesitzer hat uns ein halbes Jahr gegeben, um die Miete zu bezahlen, sonst verlieren wir die Bäckerei. Du sagst ja selbst, dass die Silos in Bjølsen so gut wie leer sind.«

»Das stimmt. Aber Gerüchte behaupten, dass die Mühle in Nedre Foss Mehl bekommen hat und dass die Preise bald wieder normal sein werden.«

»Wir können ja immer noch beten«, sagte die Mutter und goss ihm die letzten Tropfen Zichorienkaffee in die Tasse. »Denn diese Gerüchte höre ich schon seit Langem.«

So viele Verwandte der Mutter waren ausgewandert. Onkel und Tanten, Schwestern und Brüder, Vettern und Cousinen. In dem kleinen Dorf in Schweden, aus dem die Mutter stammte, gab es kaum Arbeit, und deshalb hatte nicht nur die Familie der Mutter Haus und Hof verlassen müssen. Die Glasfabrik Eda Glasbruk und Tiedemanns Tabaksfabrik hatten vielen Arbeit geboten, aber als die großen Eisenwerke in Eda stillgelegt wurden, eins nach dem anderen, führte das Höfesterben, wie die Mutter das nannte, dazu, dass die Menschen nach Amerika flohen. Sicher konnte sich die Mutter deshalb leichter mit dem Gedanken an diese Reise aussöhnen als der Vater, denn niemand aus seiner norwegischen Verwandtschaft, jedenfalls nicht, so viel er wusste oder zugeben mochte, war ausgewandert.

Ein schlaffer Mehlsack lag hinten beim Backtisch. Der war vor mehr als einer Woche von den Mühlengäulen aus Kampen gebracht worden. Thea schüttete missmutig die letzten Mehlreste in den Backtrog und streute ein wenig Mehl aus dem Trog auf die Tischplatte, wo sie den nächsten Teig kneten würde. Sie hatte sich immer darauf gefreut, dass die Bäckerei öffnete, aber seit der Mehlpreis dermaßen gestiegen war und es so schwer war, Mehl zu bekommen, fand sie, dass die Kundschaft wirklich nur noch klagte. Jede Woche fuhr der Vater zur Walzmühle von Bjølsen, um zu sehen, ob Getreide gekommen war, und immer sagte er bei seiner Rückkehr dasselbe: »Es hilft nichts, dass sie die Mühlsteine durch Metallwalzen ersetzt haben, solange sie kein Getreide zum Mahlen bekommen können.«

Ihre Mutter, die über der Buchführung saß, sagte, sie müssten die Preise für ihre Waren noch weiter hochsetzen, wie die Mühlen es den Bäckern gegenüber machten und die anderen Bäcker gegenüber ihrer Kundschaft. Aber der Vater brachte das einfach nicht über sich. Die Preise blieben unverändert, genauso, wie er am Tag vor dem Heiligen Abend dem Armenhaus Weihnachtsplätzchen schenkte, und er sagte, anderen gehe es noch viel schlechter als ihnen.

Was die Sache mit dem Armenhaus betraf, hatte Thea nie begriffen, wie er damit immer weitermachen konnte. Thea und Margit hatten die Weihnachtslieder Stille Nacht und Schön ist’s auf Erden gesungen, und danach hatten sie Schmalzkringel, Pfeffernüsse und Muzemandeln aus ihren Körben verteilt, versehen mit aus einem abgelegten Kleid gefertigten Schleifen, und sie hatten gelacht und alle angelächelt, die Alten und die Jungen, die Frischgekämmten und die feierlich Gestimmten. Das war ihre Tradition gewesen, bis der Krieg gekommen war und Margit sie verlassen hatte.

Es dauerte nicht lange, die letzte Ladung vorzubereiten, denn der Rest an Mehl reichte nicht weit. Thea stellte die Brote zum Aufgehen weg, danach stieg sie mit schweren Schritten die fünf Stufen zum Laden an der Vorderseite des Hauses hoch. Vor dem Krieg hatte sie davon geträumt, den Laden durch den Raum nebenan zu erweitern, wo die Witwe Christoffersen mit ihren beiden erwachsenen Töchtern wohnte, zwei unverheirateten Strickerinnen. Es war nur gut, dass es nicht so weit gekommen war, jetzt, wo es kaum Waren gab.

Sie zog ihr Umschlagtuch vom Haken, schloss die Tür auf und trug das Schild hinaus auf die Straße. Dasselbe Schild, das sie seit zwei Jahren an jedem einzelnen Verkaufstag hinausgebracht hatte:

Aufgrund ausgebliebener Mehllieferungen wird heute nur Brot verkauft.

Für März war es ungewöhnlich kalt. Boden, Zweige und die schadhaften Hauswände waren weiß bereift. Thea lief wieder hinein und drehte den Schlüssel gerade in dem Moment um, als sie Pferdehufe und scheppernde Karrenräder hörte. Doch, sie hatte richtig vermutet. Im oberen Teil der Türöffnung, über dem Schild mit der Aufschrift »geschlossen«, sah sie den Milchmann. Der kam von der Kristiania Melkeforsyning in der Schweigaards gate und fuhr jeden zweiten Montag mit vollen Milcheimern an ihrem Haus vorbei, in Richtung Kampen-Schule. Und immer, wenn er die steile Straße hochkam, schlug er mit der Peitsche und riss am Zaumzeug des armen Zugpferdes. Thea konnte das kaum mit ansehen.

Sie trat von der Tür zurück, hängte ihr Tuch wieder an den Haken, nahm die beiden leeren Kästen, einen in jede Hand, und ging hinunter in den Keller.

Der Vater empfing sie mit einem tröstenden Lächeln und einem frischen Brotknust, den er in zwei Teile brach. Die braune Kruste lag warm in ihrer Hand. Sie roch daran, hielt sie sich dicht an die Nase, saugte den wunderbaren Duft ein. Dann schob sie das Brot in den Mund, schloss die Augen und kaute. Es war nicht nur der Geschmack. Nein, es war der schönste Augenblick des Tages. Etwas, das nur sie beide anging. Vor dem Krieg hatten sie den Knust mit Butter bestrichen, wenn sie ihn teilten, einem kleinen Klumpen salziger Meiereibutter, die in das warme Brot hineinschmolz.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Vater sie mit seinen großen braunen Augen forschend musterte.

»Was ist denn aus meinem Mädchen geworden?«, fragte er und legte den Kopf ein wenig schräg. »Aus der mit den vielen Träumen? Auch wenn du nach Amerika fährst, ist die Bäckerei hier und wartet auf dich. Wenn der Krieg erst zu Ende ist, werde ich dich brauchen, denn dann musst du die besten Theakuchen und Kringel der ganzen Stadt backen. Die Leute werden hierher pilgern. Du kannst das Schaufenster dekorieren, wie du so gern möchtest, und eines Tages wird dein Name über der Tür stehen: Theas Bäckerei.«

Sie hörte sein leises Lachen. Aber als er geglaubt hatte, dass Thea schlief, hatte er zur Mutter doch etwas ganz anderes gesagt. »Es ist die Rede davon, dass die Behörden vom nächsten Jahr an Rationierung einführen werden«, hatte er geflüstert. »Ich weiß nicht, ob wir noch lange durchhalten können.« Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Außerdem würde es noch lange dauern, bis die Leute die Art von Kuchen verlangten, von denen Thea in Büchern gelesen und die sie in den Schaufenstern der feinen Konditoreien auf Karl Johan gesehen hatte.

Sie war flink und füllte die Kästen mit Brot. Sortieren war nicht mehr nötig, wiegen auch nicht, es gab jetzt nur eine Sorte. Dann trug sie die Kästen nach oben, einen nach dem anderen, und stellte sie ins Regal hinter dem Tisch, der eine Art Theke darstellte, ehe sie eilig ein Brot an...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2021
Übersetzer Gabriele Haefs
Sprache deutsch
Original-Titel Miss Marie
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Anfang 20.Jh • Auswanderung • Ellis Island • Frauenrechte • Gabriele Haefs • New York • Norwegen • Suffragetten • Tuberkulose
ISBN-10 3-8412-2585-3 / 3841225853
ISBN-13 978-3-8412-2585-6 / 9783841225856
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99