Der Mondscheinmann (eBook)

Psychothriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-25837-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mondscheinmann -  Max Bentow
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Lilienblüten auf dem Boden, Kerzen brennen und erhellen die Umrisse einer toten Frau, geschminkt und frisiert. Das Einzige, was die perfekte Inszenierung stört, sind die vielen Schnecken, die leise über das morbide Stillleben gleiten. Dies ist das Bild, das sich Kommissar Nils Trojan und seinem Team bietet, als sie in einer Berliner Wohnung eintreffen. Wenig später wird ein zweites Opfer im Wald aufgefunden, und wieder ist der Tatort inszeniert wie ein Andachtsraum. Trojan stürzt sich in die Ermittlungen und merkt zu spät, dass sein Gegner ein Spiel mit ihm spielt - ein Spiel, das so sanft wie eine Klaviersonate beginnt und mit dem sicheren Tod endet ...

Max Bentow wurde in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seit seinem Debütroman »Der Federmann« hat sich Max Bentow als einer der erfolgreichsten deutschen Thrillerautoren etabliert, alle seine Bücher waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.

EINS


DIENSTAG, 11. JUNI, WEIT NACH MITTERNACHT


Ihre Lippen näherten sich dem Mikrofon. Sie sprach leise, leicht verhaucht. Sie wusste, ihre Stimme hatte so ein angenehmes Raspeln, das an den Genuss von filterlosen Zigaretten und reichlich gutem Single Malt Whisky erinnerte. Dabei trank sie wenig Alkohol und war überzeugte Nichtraucherin. Ihre Hörer liebten diese Stimme, und Nora Sand gab ihnen, was sie von ihr erwarteten, wochentags von null bis zwei Uhr früh. Das war ihr Job, und den machte sie gut.

Ihre Gesprächssendung empfing man im Internet, sie hatte den unverblümten Titel Schlaflos mit Nora. Auch zu dieser nächtlichen Stunde war sie mit ihrem Aufnahmeleiter im Studio, spielte Smooth Jazz ein und gab ihren Anrufern gut gemeinte Ratschläge für alle Lebenslagen. Ihre Hauptaufgabe aber bestand darin, einfach zuzuhören, denn das schienen die meisten Menschen verlernt zu haben.

Es war erstaunlich, wie viele einsame Seelen es in dieser Stadt gab. Sie lagen nachts wach, lauschten ihrer Sendung, griffen irgendwann zum Telefon, wählten die Hotline und erzählten ihr von ihren intimsten Problemen. Nora Sand wusste, dass sie der Ersatz für wahre menschliche Beziehungen war. Die Mehrzahl der Hörer sah in ihr eine Art beste Freundin, die es in Wahrheit nicht gab. Für Wildfremde schlüpfte sie in diese Rolle und war selbst überrascht von den guten Einschaltquoten.

Nora bildete sich wenig darauf ein, sie war bloß eine junge Frau mit einem abgebrochenen Psychologiestudium, die mehr oder minder durch Zufall über eine frühere Mitbewohnerin zum Internetradio gefunden hatte.

»Hi, ihr da draußen«, raunte sie ins Mikro, »es ist ein Uhr zweiunddreißig, und ein Blick aus dem Studiofenster verrät mir, dass es noch immer in Strömen regnet. Werdet ihr auch so melancholisch wie ich in einer Juninacht wie dieser? Für die Jahreszeit zu kühl, der Regen trommelt aufs Fensterbrett und verwischt das Licht der Straßenlaternen. Habt ihr es wenigstens schön warm, wo immer ihr gerade seid? Eingekuschelt unter eurer Lieblingsdecke auf dem Sofa? Seid ihr schon im Bett, habt die Nachttischlampe ausgeknipst, aber lauscht noch diesem Programm? Oder seid ihr draußen unterwegs und empfangt mich auf dem Smartphone, die Ohrhörer eingestöpselt? Vielleicht wartet ihr auf die letzte U-Bahn, seid im Nachtbus oder im Auto. Wo auch immer, ruft mich an, wenn euch irgendetwas auf dem Herzen liegt. Was raubt euch zurzeit den Schlaf? Habt ihr Stress in der Arbeit? Plagt euch Liebeskummer? Gibt es Ärger in eurer Beziehung, oder sind es Probleme mit Drogen? Sorgt ihr euch um eure Gesundheit? Denkt ihr an jemanden, der erst kürzlich verstorben ist? Braucht ihr Trost? Ganz egal, worum es geht, das ist die Sendung für alle, die in dieser Nacht bedrückt sind. Aber auch für diejenigen unter euch, denen es gut geht, die mir einfach mal sagen wollen, was sie heute gefreut hat. Ihr erreicht mich unter 015339966, vom Festnetz oder übers Handy. Ich bin Nora Sand, und hier kommt Till Brönner mit ›Nightfall‹. Ich liebe diesen Track.«

Freddy, ihr Aufnahmeleiter, nickte ihr hinter der Trennscheibe im Studio zu, bediente die Regler und spielte das Stück ein. Nora vernahm über Kopfhörer die sanften Klänge der Jazztrompete, ein Hauch von Schwermut, dunkel, verträumt, begleitet vom Kontrabass.

Sie wiegte sich leicht im Takt der Musik und schloss die Augen. Sie ahnte, dass Freddy sie dabei beobachtete. Er hatte sie in letzter Zeit insgesamt dreimal gefragt, ob sie nach der Sendung mit ihm was trinken gehen wollte, und da sie jedes Mal Müdigkeit vorgeschützt hatte, war er nun offenbar beleidigt.

Er verhielt sich ihr gegenüber zwar professionell freundlich, doch gelegentlich fing sie hinter der Glasscheibe einen verstohlenen Blick von ihm auf, der sie frösteln ließ. Sein Lächeln war in diesen Momenten schmal und irgendwie auch unheimlich, als habe sie ihn in tiefster Seele verletzt.

Sie öffnete die Augen. Vor ihr am Pult leuchtete ein grünes Lämpchen auf. Das hieß, sie hatte einen Anrufer in der Leitung. Nora wartete ab, bis die Jazznummer beendet war, und schon war das Mikro wieder offen.

»Hi, ihr hört Schlaflos mit Nora, und mich ruft gerade jemand an. Wie ist dein Name?«

»Tom.«

»Hi, Tom.«

»Hallo, Nora.«

»Was hast du auf dem Herzen?«

»Zuerst mal möchte ich sagen, dass ich deine Sendung echt klasse finde.«

Sie lächelte. »Das freut mich aufrichtig. Ich danke dir.«

»Ja, und dann rufe ich an, weil … Na ja, ich bin seit Wochen ziemlich durcheinander.«

»Was bedrückt dich denn?«

»Es geht um meine Freundin. Genauer um meine Ex. Sie hat plötzlich Schluss gemacht.«

»Was war der Grund dafür?«

Der Hörer, junge Stimme, vielleicht Mitte, Ende zwanzig, kam unumwunden zur Sache. »Es ging um Sex. Das Problem war Sex. Anfangs hat sie gemacht, was mir gefällt, dann sagte sie mir, dass sie es abstoßend findet.«

Nora war um einen sachlichen Tonfall bemüht. Sie war nicht prüde, aber unter den männlichen Anrufern, die mit ihr sexuelle Themen besprechen wollten, gab es so einige, denen sie insgeheim einen gewissen verbalen Exhibitionismus unterstellte. Dieser Tom gehörte eindeutig dazu. Er hatte schon öfter bei ihr angerufen. Offenbar lauerte er nur darauf, dass sie nachhakte: »Kannst du das ein bisschen näher erläutern?«

Sie bemerkte Freddys Grinsen hinter der Scheibe.

»Ich hab sie gern gefesselt. Auch aufs Knebeln stehe ich irgendwie. Dominanz und Demut, das volle Programm.«

»Deutlich voneinander abgesetzte Rollen also. Hast du das mit deiner Freundin vorher auch besprochen?«

»Ja. Sie hat gesagt, wir probieren es mal aus.«

»Aber dann hat es ihr nicht gefallen, oder?«

»Schätze schon. Ich gebe dir mal ein Beispiel …«

Tom setzte zu einer ausführlichen Schilderung seiner Fesselspiele an.

Nora unterbrach ihn: »Entschuldige, wenn ich hier nachfragen muss. Ganz ehrlich, Tom, bist du eigentlich bereit, auch auf die Wünsche deiner Partnerin einzugehen?«

Seine Erwiderung war mürrisch. »Dafür ist es ja jetzt zu spät.«

»Na ja, aber wenn du mal an die Zukunft denkst. Bei einer anderen Partnerin, meine ich.«

Er atmete in den Hörer. Dieser Einwand schien ihm nicht zu gefallen.

Freddy lächelte breit, als der Typ zu weiteren intimen Beichten ansetzte.

Nora konnte ihn nur mühsam bremsen. Schließlich empfahl sie ihm spezielle Internetforen für S/M-Anhänger. Ob sich Tom nicht dort einmal umtun wolle? Er blieb hartnäckig. Ungeniert ließ er die nächsten deftigen Details seiner Vorlieben einfließen. Sie fiel ihm freundlich ins Wort und versuchte es mit einem möglichst eleganten Schlusssatz.

Endlich nahm Freddy den Anrufer aus der Leitung, und sie konnte den folgenden Titel ansagen. »Where Can I Go Without You« von Keith Jarrett und Charlie Haden. Kaum lief das Stück, atmete sie durch.

Sie vermied Blickkontakt mit Freddy, spürte Zorn in sich aufwallen. Wie oft hatte sie ihm gesagt, er solle die Anrufer vorher besser checken. Der hier zählte zur untersten Kategorie. Sein einziges Ziel war, sich Geltung zu verschaffen und die Moderatorin bloßzustellen.

Zum Glück näherte sich die Sendung ihrem Ende. Doch dann gab es noch eine Anruferin namens Britta, die sich mit ihr über ihre Waschzwänge unterhalten wollte. Auch zwanghaftes Putzen gehörte dazu.

»Selbst nachts stehe ich manchmal auf, um staubzusaugen.«

»Geht es vielleicht um den Wunsch, in deinem Leben mehr Kontrolle zu haben?«

»Ich weiß nicht. Es kommt mir alles immer so schmutzig vor.«

Die Frau war den Tränen nahe. Sie hatte eine brüchige Stimme, Nora schätzte sie auf Ende dreißig.

Freddy tippte ungeduldig auf eine imaginäre Uhr an seinem Handgelenk. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Anruferin möglichst behutsam mit einem freundlichen Ratschlag zu vertrösten.

»Denk doch mal darüber nach, ob du dich von etwas ablenken willst, wenn du putzt. Den Staub kannst du beherrschen, das erscheint dir eventuell leichter, als sich dem eigentlichen Problem zu stellen. Etwas, das an dir nagt. Was du womöglich verdrängt hast.«

Die Hörerin wirkte verblüfft. »Klingt ziemlich einleuchtend, Nora. Von dieser Seite habe ich das noch nie betrachtet.«

»Bleib einfach in der Leitung. Mein Kollege hat eine Liste mit Telefonnummern parat. Nur für den Fall, dass du dir weitere Hilfe suchen willst.«

»Okay, vielen Dank.«

»Nicht dafür, Britta.«

Es war kurz vor zwei. Sie leitete zum nächsten Titel über, dem letzten für heute. »Naima«, ein Klassiker von John Coltrane, ein Saxofonsolo voller Melancholie und Sehnsucht, passend zu einer verregneten Sommernacht, eingebettet in ein Pianospiel, schwebend und zart.

Als der letzte Akkord verklungen war, verabschiedete sich Nora von ihren sorgenvollen Zuhörern.

Mehr konnte sie derzeit nicht tun. Sie war bloß ein Trostpflaster für die Nacht.

Freddy trat im Vorraum dicht auf sie zu, nach ihrem Ermessen einen halben Meter zu nah. »Gute Sendung, Nora.«

»Findest du?«

»Ja, war doch in Ordnung.«

»Ich weiß nicht, ich war mit der letzten halben Stunde nicht so zufrieden.«

»Wieso, was war denn los?«

»Ganz im Gegensatz zu dem Typen mit den Fesselspielen hätte ich mich mit der Frau, die unter ihren Zwängen leidet, gerne länger unterhalten.«

»Dann hätte sie früher anrufen müssen.«

»Mir wäre es...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2020
Reihe/Serie Ein Fall für Nils Trojan
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Berlin • Berlinkrimi • Beschäftigung Erwachsene • eBooks • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Nils Trojan • Psychothriller • Psychothriller bücher • Romane Bestseller 2020 • Spiegel-Bestseller-Autor • Thriller • Thriller Neuerscheinungen 2020
ISBN-10 3-641-25837-5 / 3641258375
ISBN-13 978-3-641-25837-5 / 9783641258375
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