Wir bleiben noch (eBook)
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-26134-4 (ISBN)
Die Welt um Victor Jarno hat sich verändert - und wie immer hat er es zu spät bemerkt. Victor ist Mitte vierzig, kinderlos und der letzte Sozialdemokrat in einer Wiener Familie mit sozialistischen Wurzeln bis in die Kaiserzeit. Nur scheint sich niemand daran zu erinnern, selbst seine Mutter und seine Tante hat der politische Rechtsruck erfasst. Mit der Rückkehr von Victors Cousine Karoline aus dem Ausland, flammt eine dreißig Jahre alte heimliche Liebe wieder auf: Beide verachten e-Scooter, Stand-up-Paddling und die regierenden Rechtsparteien. Doch als aus ihnen ein Paar wird, droht die Familie an dem Skandal zu zerbrechen. Noch dazu vererbt ihnen die Großmutter vor ihrem Tod ihr Haus auf dem Land, in das Cousine und Cousin nun zum Missfallen ihrer Eltern, die das Haus gerne geerbt hätten, einziehen. Was aber lässt sich in einer Welt, in der ihre Ideale im Niedergang begriffen sind und ihre Familie zerbricht, noch retten?
DANIEL WISSER, 1971 in Klagenfurt geboren, schreibt Prosa, Gedichte, Songtexte. 1994 Mitbegründer des Ersten Wiener Heimorgelorchesters. 2018 für den Roman »Königin der Berge« mit dem Österreichischen Buchpreis und dem Johann-Beer-Preis ausgezeichnet. 2021 mit seinem Roman »Wir bleiben noch« sowohl auf der SWR-Bestenliste wie auch auf der ORF-Bestenliste. Zuletzt erschien der Roman »0 1 2«, der ebenfalls auf der ORF-Bestenliste landete. Daniel Wisser lebt in Wien.
Zombies in Trainingshosen
»Xaver gefällt dir doch auch, oder?«
Iris saß am Küchentisch und hatte den schwarzen Ordner aufgeschlagen. Langsam wanderte ihr Zeigefinger auf dem Blatt nach unten.
»Hier! Schau! Hier steht es.«
Victor stand hinter Iris. Er überlegte, ob seine Eltern ein derartiges Gespräch geführt hatten, bevor sie sich für den Namen Victor entschieden. Ziemlich sicher nicht. Sie hatten ihn Victor genannt, nach Victor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Und fertig.
»Eigentlich ist es ganz einfach: Wird es ein Junge, heißt er Xaver. Dann gibt man ihm auch nicht irgendeinen dummen Spitznamen.«
»Mein Vater hat erzählt, dass man seinem Cousin den Namen Bruno gab, weil die Eltern dachten, er würde dann keinen Spitznamen bekommen. Das führte dazu, dass man Bruno …«
»Das hast du mir schon hundertmal erzählt!«, unterbrach Iris Victor mitten im Satz. Iris hatte keine Geduld für Victors Geschichten. Victor setzte sich an den Tisch.
»Bei den Mädchen bleiben Johanna und Caroline. Ich weiß, ich weiß: Deine Cousine heißt Karoline. Karoline mit K. Ich habe mir gedacht: Wir könnten Caroline mit C nehmen. Findest du nicht?«
Deshalb hatte Victor also an Karoline gedacht, weil der Name Caroline auf dem Blatt stand, das Iris ihm gerade gezeigt hatte. Victor antwortete nicht. Er blickte an die Wand, merkte sich dort einen bestimmten Punkt, drehte den Kopf zur Seite und versuchte dann, denselben Punkt wiederzufinden.
»Stimmt es, dass Karoline wieder nach Wien zieht?«
»Angeblich.«
»Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen: beim fünfundneunzigsten Geburtstag deiner Großmutter. Sie ist sehr hübsch.«
»Ist sie das?«
»Das hast du selbst gesagt.«
Iris stand auf, um Kaffee zu machen, und setzte sich wieder.
»Trotzdem ist es okay, wenn wir unser Kind Caroline mit C nennen, oder? Oder?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann nennen wir sie Caroline.«
Iris stand auf und kam wenig später mit zwei Kaffeetassen wieder. Sie brachte beide Tassen zum Küchentisch. Dann nahm sie ein Blatt aus dem schwarzen Ordner. Victor trank einen Schluck Kaffee.
»Wir probieren es mal mit dieser Klinik: Child in Time. Klingt schön. Das ist doch ein Song, oder?«
»Deep Purple.«
»Abgemacht: Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir sie Caroline. Und wir sagen niemals Caro zu ihr, sondern immer nur Caroline. Weil der Name so schön ist.«
Der Ruck, mit dem Victor aufstand, brachte beinahe seinen Stuhl zum Umfallen. Mit einem Schritt stand er vor Iris, packte den Kragen ihrer Bluse mit beiden Händen und zog sie aus dem Stuhl hoch. Für eine halbe Sekunde blickte er in ihre aufgerissenen Augen.
»Hör auf! Hör jetzt endlich auf damit! Du wirst nicht mehr schwanger. Wir haben alles probiert. Alles. Es geht eben nicht. Begreif das endlich!«
Victor ließ Iris los, nahm den Ordner vom Tisch, öffnete das Kästchen unter der Spüle und warf ihn in den Müll. In diesem Ordner befanden sich Adressen und Ansprechpartner von Befruchtungskliniken, Informationsblätter zur In-vitro-Fertilisation, Aufzeichnungen über die Einnahme von Hormonpräparaten, Testberichte über verschiedene Kinderwagen im Vergleich, Kostenvoranschläge für Kinderzimmereinrichtung und seitenweise Vornamenslisten. Iris riss sich los und drängte sich an Victor vorbei. Sie öffnete die Lade, nahm den schwarzen Ordner wieder aus dem Müllbehälter und begann ihn mit der Hand abzuwischen. Es sah fast aus, als ob sie ihn streichelte.
»Geht es dir jetzt besser? Ich hatte kurz Angst vor dir. Richtige Angst.«
Victor ging ins Schlafzimmer, zog hektisch ein paar Unterhosen, Socken, T-Shirts, Hosen und eine Jacke aus dem Schrank und stopfte alles in eine Sporttasche. Dann holte er die Zahnbürste aus dem Badezimmer. Iris stand vor der Eingangstür.
»Du läufst jetzt nicht davon!«
Victor zippte die Sporttasche zu und ging zur Tür. Sein Schlüssel steckte im Schloss. Iris sperrte zwei Mal ab, zog den Schlüssel ab und verschloss ihn in der Faust.
»Iris, gib mir meinen Schlüssel!«
»Nein!«
»Gib her!«
»Nein!«
So ging es mehrere Male hin und her. Victor öffnete ihre Faust gewaltsam und riss den Schlüssel aus ihrer Hand. Iris griff mit beiden Händen nach Victors Arm, doch er drehte sich schnell zur Seite, und sie verfehlte ihn. Sie konnte den Sturz nicht mehr rechtzeitig mit den Händen auffangen und landete mit dem Gesicht auf dem Fußboden. Blut rann ihr aus der Nase.
Iris und Victor mussten lange warten. Sie saßen auf hässlichen Plastikstühlen, die wohl einmal orangefarben gewesen waren vor dreißig oder vierzig Jahren. Die anderen Patienten waren armselige Gestalten in schmutziger Sportkleidung und zerschlissenen Jacken, meist übergewichtig, die ganze Zeit mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt. Lautstark spielten sie Videos ab – meist mehrmals hintereinander – und lachten darüber. Oder sie brüllten laut in den Videochat. Von ihren Telefonen baumelten Plüschtiere. Man hörte das Klacken der falschen Fingernägel auf den Displays.
»Lauter Zombies in Trainingshosen!«, sagte Victor.
»Eher Nazis in Trainingshosen«, sagte Iris.
»Auch die Arbeiterklasse hat ihr Zeremoniell.«
»Die Arbeiterklasse! Du bist kein Arbeiter! Eines Tages wirst du als Einziger am ersten Mai mit einer Fahne auf der Straße herumlaufen. Und alle werden dich für wahnsinnig halten.«
»Du bist wahnsinnig! Sonst säßen wir jetzt nicht hier.«
»Schrei nicht so!«
»Ich habe nur gesagt: Auch die Arbeiterklasse hat ihr Zeremoniell.«
Iris mochte Victors Geschichten nicht, Geschichten von seinem Vater, seinem Großvater, aus den 70er- oder 80er-Jahren, die sie schon Hunderte Male gehört hatte.
»Ich sage, dass es ein Unfall war. Keine Angst!«
»Es war ja auch ein Unfall. Und es ist allein deine Schuld. Du bist wahnsinnig. Wenn du hier in der Notaufnahme fertig bist, kannst du gleich weiter in die Psychiatrie.«
»Halt den Mund!«
»Mein Vater hat mir immer erzählt, dass Kaiser Franz Joseph eines Tages sehr zum Ärger seiner Berater gesagt haben soll …«
»Hau ab, Arschloch!«
Victor blieb sitzen und nahm das Mobiltelefon aus der Jackentasche. Nun war er von den Zombies nicht mehr zu unterscheiden. Dabei hasste er Mobiltelefone. Er war der Meinung, dass die Verrohung der Gesellschaft vom Smartphone ausging. Früher hatten die Menschen wenigstens noch irgendetwas gelesen, das sie mit einer anderen Wirklichkeit konfrontierte. Heute gab es nur noch das Chatten, das sinnlose Privatgeschnatter und Stammtischgrölen, das die weltweiten Datenleitungen und die Gehirne der Menschen verstopfte.
Nachricht von einer unbekannten Nummer.
21. September 2018 / 11:14
Karoline: hi, victor! hier karo. bist du nicht auf whatsapp?
Victor: Hey, Karoline! Nein. Ich hasse WhatsApp.
Karoline: ich wollte dich unserer gruppe hinzufügen
Victor: Ich verweigere Facebook und WhatsApp.
Karoline: verstehe. hanna hat mir deine nummer gegeben. hoffe, das ist ok
Victor: Und Instagram.
Karoline: oh, falscher smiley!
Noch am Morgen, als Iris ihre Vornamenslisten durchgegangen war, hatte Victor an seine Cousine gedacht. An den Sommer 1988, in dem sie viele Tage gemeinsam an einem Stausee verbracht hatten. Und daran, wie er mit Karoline ausgegangen war, zu der Zeit, als sie noch in Wien Medizin studiert hatte. Oft hatten sie bis zur Sperrstunde in Bierlokalen gesessen und waren dann noch ein Stück des Wegs zusammen nach Hause gewankt. Bis heute musste Victor, wenn er an einem bestimmten Geldautomaten in der Innenstadt vorbeiging, denken: Das ist der Geldautomat, an den Karoline und ich am 1. November 1995 beim Nachhausegehen gekotzt haben. Später trafen sie sich seltener. Karoline arbeitete in einem Krankenhaus, und Victor hatte seine damalige Freundin Barbara kennengelernt. Sie verloren sich ein wenig aus den Augen und sahen einander fast nur noch bei Familienfesten. Und dann plötzlich hieß es: Karoline geht nach Oslo. Victor hatte es von ihrer Schwester Hanna erfahren. Oder von Tante Margarete. Jedenfalls nicht von Karoline selbst.
21. September 2018 / 11:16
Karoline: bin wieder in wien. komme nöchste woche zu urlis geburtstag
Karoline: nächste
Karoline: freu mich, dich zu sehen
Victor: Ich freue mich auch.
Karoline: hast du zeit zum chatten?
Victor: Ja.
»Hey, Victor! Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
»Ja.«
Victor hatte keine Ahnung, wovon Iris gesprochen hatte. Es war ihm auch egal. Bis sie aufgerufen wurde, konnte es noch Stunden dauern. Sie hatte sich in ihren Stuhl gekauert, sah Victor beim Chatten zu und seufzte.
»Klar, das Smartphone ist der Untergang der Menschheit. Aber selbst bist du 24/7 damit beschäftigt.«
21. September 2018 / 11:22
Karoline: victor? bist du eingeschlafen?
Victor: Du, ich melde mich später. Ist gerade ungünstig.
Karoline: dein JA war also ein NEIN. du hast gerade keine zeit
»Du kannst wirklich gehen. Was nützt es mir, wenn du hier die ganze Zeit auf dein Handy schaust. Wahrscheinlich chattest du mit dieser Sanja.«
Victor steckte sein Mobiltelefon in die Tasche....
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Die Letten werden die Esten sein • eBooks • Erstes Wiener Heimorgelorchester • Johann-Beer-Preis • Königin der Berge • Österreich • Österreichische Gegenwartsliteratur • Österreichischer Buchpreis • Roman • Romane • Sozialdemokratie • Weihnachtsgeschenk • Wien |
ISBN-10 | 3-641-26134-1 / 3641261341 |
ISBN-13 | 978-3-641-26134-4 / 9783641261344 |
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