Grenzgänge (eBook)
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-25821-4 (ISBN)
Pajtim Statovci, geboren 1990, ist ein finnisch-kosovarischer Schriftsteller. Mit zwei Jahren zog er mit den albanischen Eltern aus dem Kosovo nach Finnland. Er lebt in Helsinki und hat Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Statovci wird als Shootingstar und großer europäischer Autor von der internationalen Kritik euphorisch gefeiert, sein Werk ist vielfach ausgezeichnet. Für den Roman »Meine Katze Jugoslawien« erhielt er gemeinsam mit seinem Übersetzer Stefan Moster den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Helsinki.
Die Rippe Gottes
Rom 1998
Wenn ich über meinen Tod nachdenke, ist der Moment, in dem ich sterbe, immer gleich. Ich trage ein einfarbiges Hemd mit Knöpfen und eine dazu passende Hose aus dünnem Stoff, und das Sterben vollzieht sich so leicht, als ginge ich einen sanft abfallenden Hang hinab. Es passiert an einem frühen Morgen, und ich bin glücklich, ich empfinde die gleiche Zufriedenheit und Ruhe wie während der ersten Bissen meines Lieblingsgerichts. Bestimmte Menschen stehen um mich herum, ich kenne sie noch nicht, aber eines Tages werde ich sie kennen, und ich befinde mich an einem bestimmten Ort, ich liege in einem Einzelzimmer in einem Krankenhausbett, niemand stirbt neben mir, und draußen kommt der Tag langsam auf die Beine wie ein von Rheuma geplagter Greis. Meine Lieben sagen bestimmte Sätze zu mir, eine bestimmte Berührung auf meiner Hand und ein Kuss auf meiner Wange fühlen sich nach dem Zuhause an, das ich um mich herum errichtet habe wie ein Heiligtum.
Dann geben meine Organe auf, eines nach dem anderen, und meine Körperfunktionen setzen aus: Mein Gehirn sendet keine Befehle mehr an meinen Körper, der Fluss meines Blutes ist unterbrochen, mein Herz bleibt für immer stehen, und es gibt mich einfach nicht mehr. Wo einmal mein Körper war, sind jetzt nur Haut und Gewebe, unter dem Gewebe sind Flüssigkeiten und Knochen und bedeutungslose Organe.
Ich bin ein zweiundzwanzig Jahre alter Mann, der sich manchmal benimmt wie meine Vorstellung von einem Mann: Mein Name ist Anton oder Adam oder Gideon, je nachdem, was mein Ohr gerade lieber mag. Ich bin Franzose oder Deutscher oder Grieche, aber niemals Albaner, und ich gehe auf eine ganz bestimmte Weise, so wie mein Vater mich zu gehen gelehrt hat, nach seinem Vorbild, gleichmäßig und breitbeinig ausschreitend, mir der Haltung meines Brustkorbs und meiner Schultern bewusst, meine Kiefer sind angespannt, als würde ich mich versichern, dass niemand mein Revier betritt. Und dann brennt die Frau in mir auf dem Scheiterhaufen. Wenn mir der Kellner im Café oder im Restaurant die Rechnung bringt und mich nicht fragt, warum ich allein esse, schwelt die Frau in mir. Wenn ich etwas an meinem Essen auszusetzen habe und es in die Küche zurückgehen lasse, oder wenn ich in irgendein Geschäft gehe und die Verkäuferinnen sofort hilfsbereit auf mich zukommen, bricht die Frau in mir erneut in Flammen aus und wird Teil des Kontinuums, das seit dem Moment besteht, in dem man uns erzählte, wie die Frau aus der Rippe des Mannes entstand, nicht als Mann, sondern neben dem Mann, an dessen linker Seite.
Manchmal bin ich eine zweiundzwanzig Jahre alte Frau, die sich benimmt, wie es ihr gefällt. Ich bin Amina oder Anastasia, der Name hat keine Bedeutung, und ich bewege mich so, wie ich meine Mutter sich bewegen sah, meine Fersen berühren beim Gehen kaum den Boden. Ich widerspreche den Männern nicht, ich lege im ganzen Gesicht Foundation auf, pudere es, nehme mir dann die Augen vor, mit Eyeliner und Kajalstift, mit Lidschatten und Wimperntusche. Ich setze die blauen Kontaktlinsen ein, um wie neugeboren zu sein, und in diesem Moment brennt der Mann in mir nicht, ganz und gar nicht, sondern er begleitet mich auf meinem Weg durch die Stadt. Wenn ich in dasselbe Restaurant gehe und dasselbe Gericht bestelle, über das ich mich aus demselben Grund beschwere, bringt der Kellner das Essen nicht in die Küche zurück, sondern erklärt mir, das Fleisch sei genau so gebraten, wie ich es bestellt habe, und wenn er mir die Rechnung bringt, beobachtet er mich, als wäre ich ein Kind, wie ich das Portemonnaie aus meiner Handtasche wühle, um das Geld herauszuholen, und verschwindet dann mit einem flüchtigen Dank in die Küche. Der Mann in mir will ihm nachgehen, aber wenn ich an mir hinunterschaue und sehe, was ich anhabe, mein schwarzes Sommerkleid und meine dunkelbraunen Pumps, weiß ich, dass sich so etwas für eine Frau nicht gehört. Also verlasse ich das Restaurant, gehe auf die Straße hinaus, wo mir die italienischen Männer hinterherrufen oder -pfeifen, manchmal so laut, dass sie den Mann in mir dazu bringen, mit gesenkter Stimme über sie zu fluchen. Dann verstummen sie und heben die Hände, als stünden sie einem Herausforderer auf Augenhöhe gegenüber.
Ich bin ein Mann, der keine Frau sein kann, der aber manchmal aussehen kann wie eine Frau, wenn ich es will. Das ist meine beste Eigenschaft, eine Maskerade, die ich an- und ablegen kann, wann es mir passt. Manchmal geht das Spiel damit los, dass ich etwas Androgynes anziehe, etwas wie einen formlosen Umhang, und hinausgehe, und dann stellen die Menschen Vermutungen an, es stört sie, dass sie keine Klarheit darüber haben, ob es nun so oder so ist, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants, in Cafés, es irritiert sie wie ein Splitter unter dem Fingernagel, und dann tuscheln sie entweder miteinander oder fragen mich direkt: Bist du ein Mann oder eine Frau? Manchmal sage ich, ein Mann, manchmal, eine Frau. Manchmal antworte ich ihnen gar nicht, manchmal frage ich sie, was sie selbst meinen, und sie antworten gern, als wäre es auch für sie ein Spiel, sie konstruieren mich so gern, und wenn ich ihnen endlich eine Antwort gegeben habe, herrscht wieder Ordnung auf der Welt. Ich kann wählen, was ich bin, ich kann mir mein Geschlecht aussuchen, ich kann mir meine Nationalität und meinen Namen und die Stadt meiner Geburt aussuchen, indem ich einfach nur den Mund aufmache. Niemand ist gezwungen, der Mensch zu sein, als der er geboren wurde, stattdessen kann man sich zusammensetzen wie ein Puzzle.
Allerdings muss man sich vorsehen: Um so zahllose Leben zu leben, muss man die Lügen, die man erzählt, durch immer neue Lügen decken, um sich dem Sog zu entziehen, der entsteht, wenn all die Lügen auffliegen. Ich glaube, dass die Menschen in meinem Land genau wegen dieser Lügen so frühzeitig altern und so jung sterben. Sie schützen ihr Gesicht wie eine Mutter ihr Neugeborenes und hüten sich beinahe wie Kriegstaktiker davor, in falschem Licht gesehen zu werden: Es gibt keine Lüge, keine falsche Geschichte, die sie nicht von sich erzählen würden, um die Fassade aufrechtzuerhalten, ihre Würde zu wahren und ihre Ehre zu verteidigen bis ins Grab. Meine ganze Kindheit über hasste ich das an meinen Eltern, ich hasste es wie die Schmerzen verbrannter Haut oder das Gefühl lähmender Angst, und ich schwor, niemals so zu werden wie sie, mir nichts daraus zu machen, was andere Menschen über mich denken, keine Nachbarn zum Abendessen einzuladen, um sie durchzufüttern, obwohl ich mir nicht einmal selbst etwas zu essen leisten kann. Ich wäre kein Albaner, keine Albanerin, kein bisschen, sondern jemand anders, irgendjemand ganz anders.
In meinen schwächsten Momenten bin ich wahnsinnig traurig, weil ich weiß, dass ich anderen Menschen nichts bedeute, ich bin niemand, und das fühlt sich an wie der Tod. Wäre der Tod ein Gefühl, wäre es dieses: Unsichtbarkeit, ein Leben in schlecht sitzenden Kleidern, in drückenden Schuhen gehen.
Abends strecke ich manchmal die Hände aus, falte sie und bete, denn jeder hier in Rom betet und bittet Gott um Hilfe in schwierigen Situationen. So etwas steckt an, also bete ich dafür, am nächsten Morgen in einem anderen Leben aufzuwachen, obwohl ich nicht einmal an Gott glaube. Woran ich glaube, ist, dass sich das Verlangen eines Menschen nach einem bestimmten Aussehen und danach, sich auf eine bestimmte Weise verhalten zu können, unmittelbar auf die Breite seiner Schultern, die Dichte der Körperbehaarung, die Schuhgröße, seine Talente oder Berufswahl auswirkt. Alles andere kann man lernen –, eine neue Art zu gehen, eine andere Körpersprache, man kann üben, höher zu sprechen oder sich anders zu kleiden oder Lügen zu erzählen, die gar keine Lügen sind, sondern eher eine Art der Existenz. Darum ist es am besten, wenn du dich darauf konzentrierst, Dinge zu wollen, und nie darauf, was passiert, wenn du sie bekommst.
Als ich in Italien ankam, war ich mir sicher, dass ich hier einen guten Job finden würde, eine Person, die mich liebt, mit der ich eine Familie gründen könnte, für die ich mit meinem Leben einstehen würde. Ich war mir ganz sicher, dass mich hier jemand finden und mein Potenzial entdecken und all das schätzen würde, was ich der Welt zu geben hatte. Ich wartete und wartete, ein Jahr, ein zweites und ein drittes, ich wartete, dass all diese Dinge endlich passieren würden, dass endlich jemand meine Besonderheit erkennen würde, aber den Behörden und Sozialarbeitern waren meine Pläne und Wünsche völlig egal, sie lachten über meinen Traum, an der Universität Rom Psychologie zu studieren, obwohl ich ihnen erklärte, dass ich alle Standardwerke mehrmals gelesen hatte. Solltest du nicht lieber einen Beruf lernen?, fragten sie. Du hast nicht mal einen Schulabschluss, in deinem Alter haben die Leute hier längst einen, manche sogar schon einen Uniabschluss, sagten sie und schickten mich nach Hause, um mir über meine begrenzten Möglichkeiten klar zu werden: eine Laufbahn im Bau- oder Dienstleistungsgewerbe, ein Leben, das nicht nennenswert besser wäre als das, das ich hinter mir gelassen hatte.
Je mehr Zeit verging, desto deutlicher merkte ich, dass ich mich nicht mehr besonders oder einzigartig fand, und ich habe das Gefühl, dass dies das Schlimmste ist, was einem Menschen passieren kann, denn wenn es etwas gibt, was einen leidenschaftslos macht, wenn es etwas gibt, was jemanden dazu bringt, an Gott zu glauben, dann das. Man klammert sich nur an die Äste, die man erreichen kann, und gibt sich mit seinem Schicksal zufrieden. Nur dann sieht man das Licht, erkennt die Tatsache, wie selten der Mangel an Rechten und Chancen dazu führt, um sie zu kämpfen.
Jeder...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2021 |
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Übersetzer | Stefan Moster |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tiranan sydän |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Albanien • eBooks • Europa • Freiheit • Identität • Roman • Romane • sally rooney • Sasa Stanisic • Shootingstar internationale Literatur |
ISBN-10 | 3-641-25821-9 / 3641258219 |
ISBN-13 | 978-3-641-25821-4 / 9783641258214 |
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