Das Verschwinden des Dr. Mühe (eBook)

Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre
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2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24512-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Verschwinden des Dr. Mühe -  Oliver Hilmes
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Ein spektakulärer Cold Case aus dem Berlin der 30er Jahre - mitreißend erzählt von Bestsellerautor Oliver Hilmes
Ein angesehener Arzt verschwindet über Nacht. Sein Sportwagen wird verlassen am Ufer eines Sees bei Berlin gefunden. Die Mordkommission ermittelt und stößt hinter der sorgsam gepflegten Fassade des ehrenwerten Doktors auf die Spuren eines kriminellen Doppellebens, das von Berlin nach Barcelona führt. Oliver Hilmes hat die Akten dieses aufsehenerregenden Kriminalfalls aus der Spätzeit der Weimarer Republik im Berliner Landesarchiv entdeckt. Auf der Basis dieser Dokumente und angereichert mit fiktionalen Elementen, setzt er das mysteriöse Puzzle zusammen. Auf packende Weise und höchst raffiniert erzählt er von der Suche nach Wahrheit und von den Abgründen der bürgerlichen Existenz am Vorabend der Diktatur.
  • »Historiker Hilmes rekonstruierte einen realen Fall, verbindet Ermittlungsakten mit Fiktion. Düster, sachlich, mitreißend.« (HÖRZU)
  • »Oliver Hilmes ist ein rasanter Krimi gelungen, der zugleich ein Stück Zeitgeschichte aus der späten Weimarer Republik erzählt.« (stern Crime)


Oliver Hilmes, 1971 geboren, wurde in Zeitgeschichte promoviert und arbeitet als Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Seine Bücher über widersprüchliche und faszinierende Frauen 'Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel' (2004) und 'Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner' (2007) wurden zu großen Verkaufserfolgen. 2011 folgte 'Liszt. Biographie eines Superstars', danach 'Ludwig II. Der unzeitgemäße König' (2013) sowie 'Berlin 1936. Sechzehn Tage im August' (2016), das in viele Sprachen übersetzt und zum gefeierten Bestseller wurde. Zuletzt erschien 'Das Verschwinden des Dr. Mühe. Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre' (2019).

DR. MED. ERICH MÜHE,
PRAKTISCHER ARZT IN BERLIN-KREUZBERG


MONTAG, 13. JUNI 1932


»Öffnen Sie bitte den Mund, und sagen Sie ›Hiiiihh‹. Noch etwas weiter. Ja, so ist es gut. Und jetzt bitte: ›Hiiiihh.‹« Bertha Kornrumpf ist einundsiebzig Jahre alt und die Besitzerin eines Bandagen- und Trikotagengeschäfts. Sie trägt heute einen langen Faltenrock, eine weiße Bluse und eine leichte Strickjacke. Die grauen Haare sind zu einem Dutt gesteckt. Vor etwa fünf Jahren ist ihr Mann Paul gestorben. Diesen Schicksalsschlag hat Frau Kornrumpf nie überwunden. Sie denkt jeden Tag an ihn.

Ihr gegenüber sitzt Dr. med. Erich Mühe, praktischer Arzt im Berliner Bezirk Kreuzberg. Dr. Mühe hat Paul Kornrumpf nie kennengelernt. Er war noch gestorben, bevor Erich Mühe die Praxis von seinem Vorgänger übernommen hat. Und doch hat Mühe das Gefühl, alles über Paul Kornrumpf zu wissen. Über sein Leben, seine Ehe mit Frau Bertha, über sein Leiden und auch über seinen Tod. Dr. Mühe unterbricht die Prozedur und klappt den an seinem Kopf befestigten kreisrunden Spiegel nach unten. Der Spiegel hat in der Mitte ein Loch, das sich nun direkt vor sein rechtes Auge schiebt. »So geht es besser. Darf ich noch einmal bitten?« Während Frau Kornrumpf den Mund erneut öffnet und »Hiiiihh« sagt, drückt Dr. Mühe mit einem Holzstab die Zunge nach unten und schaut tief in den Rachen der Patientin. Durch das Loch im Spiegel erkennt er eine Pharyngitis wie aus dem Lehrbuch. Frau Kornrumpf blickt derweil in die wasserblauen Augen ihres Arztes.

»Na, darauf müssen Sie aber nicht stolz sein«, stellt der Arzt fest. »Alles rot und geschwollen. Sie haben eine akute Halsentzündung. Das ist bei dem feuchten und kühlen Wetter der vergangenen Tage aber auch kein Wunder. Sie haben sich wohl etwas eingefangen. Ich verschreibe Ihnen eine Lösung zum Gurgeln.« Er greift zu seinem Rezeptblock. »Doch mit der Medizin alleine ist es nicht getan. Sie gehören ins Bett und müssen sich schonen. Mindestens eine Woche. Haben Sie das verstanden, Frau Kornrumpf?«

Frau Kornrumpf nickt, doch was sie verstanden hat, bereitet ihr große Sorgen. »Wie soll das gehen, Herr Doktor? Das Geschäft läuft nicht mehr so gut, seitdem Wertheim Bandagen in das Sortiment aufgenommen hat. Bei den Preisen am Moritzplatz kann ich nicht mithalten. Und überhaupt: Ich kann doch nicht den Laden für eine Woche zusperren. Unmöglich! Ach herrje, es ist ein Jammer. Wenn doch nur der Paul noch leben würde!«

»Aber, aber. Nur nicht den Kopf hängen lassen, Gnädigste. Es wird sich schon fügen.« Erich Mühe erhebt sich von seinem Stuhl und reicht Frau Kornrumpf das Rezept. »Stellen Sie sich vor«, sagt er, während er sie zur Tür begleitet, »in den nächsten Tagen schließe ich die Praxis, meine Frau und ich wollen ein paar Urlaubstage an der Ostsee verbringen. Ich dachte immer, dass das nicht gehe, dass ich doch nicht mal eben die Praxis zumachen könne. Doch glauben Sie mir – es ist ganz einfach.« Erich Mühe lächelt. Dann bittet er den Nächsten in das Behandlungszimmer.

Es ist Montag, der 13. Juni 1932. Bertha Kornrumpf war heute seine erste Patientin.

*

Jeden Morgen beginnt Erich Mühe um acht mit der Arbeit. So steht es auf dem Emailleschild an der Fassade des Hauses Oranienstraße 185: »Dr. med. Erich Mühe, Sprechstunde täglich von 8 bis 10 Uhr und 16 bis 18 Uhr, außer mittwochnachmittags«. Der Weg zu seiner Praxis ist für den Arzt denkbar kurz, denn die Behandlungsräume befinden sich in seiner Wohnung. Das gibt es oft in Berlin, wo herrschaftliche Wohnungen mitunter eine gesamte Etage einnehmen. Von den neun Zimmern, die Erich Mühe mietet, nutzt er drei beruflich und die verbleibenden fünf privat. Ein Zimmer hat er an eine Freundin seiner Frau untervermietet.

Die Wohnung der Mühes liegt im ersten Stock eines Hauses aus dem Jahre 1850. Die Fassaden der meisten Gebäude in der Oranienstraße sind mit spätklassizistischen Formen dezent dekoriert: hier ein Spitzgiebel und ein Ornament, dort ein Erker, eine Rosette oder eine Säule. Im Vergleich zu der Gegend rund um den Kurfürstendamm, wo der üppige Stuck wie Zuckerguss an den Häusern zu kleben scheint, wirkt die Architektur in dieser Nachbarschaft bescheiden.

Das Haus, in dem das Ehepaar wohnt, gehört dem Architekten Paul Renner, der dank seiner prachtvollen Villen zu Berlins bekanntesten Baumeistern zählt. Wer über das nötige Kleingeld verfügt, lässt sein Eigenheim von Renner errichten.

Paul Renner und sein Mieter Erich Mühe sind sich bislang noch nicht begegnet. Der Architekt kommt selten nach Kreuzberg, residiert er doch selbst im noblen Westend. Um die Vermietungsangelegenheiten kümmert sich ein Hausverwalter. Der hat alle Hände voll zu tun, denn neben den Eheleuten sind zweiunddreißig weitere Parteien in der Oranienstraße 185 gemeldet. Man vermutet kaum, dass sich hinter der unscheinbaren Toreinfahrt nacheinander vier Gewerbehöfe erstrecken. Die Buchdruckerei Fraundorf & Zehnpfundt hat dort ebenso ihre Werkstatt wie Tischlermeister Siebert oder Metallhändler Wiedemann. In den vergangenen zwei Jahren gab es als Folge der schlechten Konjunktur eine gewisse Fluktuation: Handwerksbetriebe gaben auf, andere zogen neu hinzu. Wirtschaftliche Probleme hat neuerdings auch die Gamaschenfabrik Angerer, Koch & Co. AG, die erst vor zwei Jahren ihren Firmensitz aus dem rheinischen Mettmann in einen der Hinterhöfe verlegt hat. Doch Gamaschen sind irgendwie aus der Mode gekommen, und die Geschäfte laufen schlecht. Wenn kein Wunder geschieht, wird man in Kürze ein Vergleichsverfahren eröffnen müssen.

Im Seitenflügel wohnen die Damen Klimpel und Schade, beide früh verwitwet und beide Erich Mühes Patientinnen. Frau Klimpel, die gerne in die Oper geht und besonders die Musikdramen Richard Wagners schätzt, hat einen kleinen Hund namens Wotan, der allerdings weniger an eine germanische Gottheit, sondern eher an eine Mischung aus einem Hund und einem Reh erinnert. Wotan ist spindeldürr und kompensiert diese körperliche Unzulänglichkeit mit unentwegtem Bellen.

Zu Mühes Patienten gehört auch der Kaufmann Cäsar Frahm, der im dritten Stock wohnt. Herr Frahm ist in seinen Dreißigern und stets sehr modisch gekleidet. Und er ist alleinstehend, was die beiden Damen merkwürdig finden. Trifft man sich im Treppenhaus oder im Hof, grüßen Frau Klimpel und Frau Schade ihren Nachbarn, doch hinter vorgehaltener Hand tratschen sie darüber, ob er vielleicht ein »175er« sei. Ihre juristischen Kenntnisse sind im Allgemeinen nicht sonderlich ausgeprägt, doch der Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuchs, der die »widernatürliche Unzucht« zwischen Männern unter Strafe stellt, ist ihnen durchaus ein Begriff.

Wenn Herr Frahm zu Dr. Mühe in die Sprechstunde kommt, macht der Arzt immer kleine Späße. Welche Schlacht er zuletzt gewonnen habe, frotzelt er dann. Und ob er mit »dem anderen Cäsar« verwandt sei. Frahm lächelt verlegen. Doch von den Kontakten in der Praxis abgesehen, pflegt Erich Mühe keinen Umgang mit seinen Nachbarn. Gerade weil er ständig von Patienten umgeben ist, bedeutet ihm Geselligkeit nicht viel. Am liebsten ist er alleine – zum Leidwesen seiner Frau.

*

Während der Arzt an diesem Vormittag die Rachen seiner Patienten inspiziert, ihnen den Puls misst, sie abtastet und so manches Rezept ausstellt, sitzt Charlotte Mühe im Wohnzimmer und blättert in einer Illustrierten. Nur wenige Meter trennen sie von ihrem Gatten, doch in Wirklichkeit ist es ein ganzes Leben. Hier die Hinfälligen und Kranken, dort die Prominenten und Reichen. Zwar hilft sie gelegentlich in der Praxis, aber Erichs Beruf ist ihr im Grunde zuwider. Manchmal fragt sie sich, warum sie einen Arzt geheiratet hat. Ja, warum eigentlich? Sie hat keine Antwort. Ihr Leben dreht sich jedenfalls nicht um die Gebrechen und Leiden der anderen. Charlotte Mühe liebt das Schöne und Gesunde. Ganz besonders haben es ihr Schauspielerinnen angetan. So veröffentlicht die Boulevardzeitung Tempo gerade eine Porträtserie mit dem Titel »Ist das Ihr Film-Typ?«, die sie atemlos verschlingt. In die kurzen Artikel kann sie sich versenken wie in einen Roman. Da dreht sich alles um Berühmtheiten wie Gitta Alpár, Lilian Harvey, Marta Eggerth oder Charlotte Ander. Heute hat Camilla Horn ihren Auftritt. »Ihre Entdeckung klingt wie ein Filmmärchen«, beginnt der Text. »Es war einmal ein großer Regisseur namens Murnau, der suchte für seinen Faust-Film ein Gretchen.« Ein paar Zeilen genügen, und Charlotte Mühe träumt sich in eine andere Welt. Sie wäre für ihr Leben gern eine gefeierte Sängerin. Eine zweite Lilli Lehmann! Wie ihr Vorbild würde sie dann die großen Rollen singen: Gluck und Mozart, Bizet, Verdi und Wagner. Sie wäre zu Gast an allen bedeutenden Opernhäusern von New York bis Berlin, sie würde um die Welt reisen und in eleganten Hotels residieren. Man würde ihr nach jeder Aufführung Blumen auf die Bühne werfen und sie feiern. Und dann würden die Journale und Zeitschriften über sie berichten – über das wunderbare, aufregende und mondäne Leben der Charlotte Mühe. Zwar nimmt sie seit zwei Jahren sogar Unterricht, wobei sie eine schöne Stimme habe, wie ihr Lehrer sagt, doch einstweilen bleibt das alles wohl nur ein Traum. Ach, wenn sie doch nur jemand entdeckte!

*

Mittlerweile ist es zwölf Uhr, und Erich Mühe verlässt das Behandlungszimmer. Nach der Vormittagssprechstunde hat er noch einige Briefe und Berichte geschrieben, seine Abrechnungen erledigt und Telefonate geführt. Zeit für eine kurze Pause. Aus dem Wohnzimmer erklingt Musik, Charlotte nimmt ihre Gesangsstunde wie jeden Montag....

Erscheint lt. Verlag 31.8.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Babylon Berlin • eBooks • Erich Mühe • Geschichte • Historischer Kriminalroman • True Crime • Volker Kutscher • Wahre Verbrechen • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-641-24512-5 / 3641245125
ISBN-13 978-3-641-24512-2 / 9783641245122
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