Anorexia nervosa - Verzehrende Suche nach Sicherheit (eBook)

Wege zur Veränderung im Kontext naher Beziehungen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
352 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8210-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anorexia nervosa - Verzehrende Suche nach Sicherheit -  Jürg Liechti,  Monique Liechti-Darbellay
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Bei der Behandlung von Magersucht steht und fällt der Therapieerfolg mit der Motivation des Patienten. In der Arbeit mit jungen Menschen lässt sie sich signifikant steigern, wenn die Eltern geschickt in die Therapie mit einbezogen werden. Das Buch liefert eine praktische Anleitung zur ambulanten Therapie der Anorexia nervosa, die den Aspekt der Motivation besonders berücksichtigt. Detailreich und anhand von wörtlichen Transkripten konkreter Therapiesitzungen beschreiben die Autoren, wie bindungsrelevante Bezugspersonen in den Therapieprozess einbezogen werden können. Das dargestellte Therapiekonzept ist systemisch ausgelegt und von der Bindungstheorie inspiriert; es orientiert sich konsequent an wissenschaftlichen Kriterien.

1Einführung


Denken Sie im Umgang mit den Kranken immer daran, dass es jemanden oder sogar viele gibt, für die Ihr Patient das Wertvollste auf der Welt ist und Gegenstand feinfühligster Zuneigung; deshalb ist es Ihre Pflicht, dass Sie sich nicht nur darum bemühen, sein Leben zu erhalten, sondern es auch vermeiden, die Empfindsamkeit eines mitfühlenden Elternteils, einer verzweifelten Ehefrau oder eines liebenden Kindes zu verletzen. Lassen Sie Ihr Verhalten menschlich und aufmerksam sein, seien Sie an seinem Wohlergehen interessiert, und zeigen Sie Verständnis für seine gefahrvolle Situation.

Samuel Bard, 1769 (zit. n. Kandel 2006a, S. 313)

1.1Was will dieses Buch?


Das Mantra der Therapie bei Magersucht (Anorexia nervosa) sind Behandlungsresistenz und Therapieabbrüche (Drop-out). Sie sind die meistgenannten Gründe für das Risiko von leidvollen, lang dauernden und kostenreichen Verläufen und werden als Folgen unzureichender oder fehlender Therapiemotivation gesehen.

Motivation ist zwar bei allen Anorexie-Patientinnen vorhanden, meistens sogar in erheblichem Ausmaß, aber sie weist in eine der gesunden Entwicklung entgegengesetzte Richtung. Statt auf eine Normalisierung des Gewichts, des Essverhaltens und der Körperwahrnehmung hinzuzielen, ist anorektisches Verhalten darauf ausgelegt, genau das zu vermeiden. Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, diese Vermeidung sei das Problem und müsse bekämpft werden – Motto: die AN2 ist ein Hungerstreik und die Patientin verweigert das Essen, weil sie nicht essen will – führt nicht nur in eine falsche Richtung, es richtet auch Schaden an, indem ein Machtkampf um die Interpretationshoheit über das Hungersyndrom vom Zaun gebrochen wird. Die AN ist kein Hungerstreik (auch wenn es mitunter danach aussieht), sondern eine Krankheit. Die AN-Patientin muss hungern, sie kann nicht anders, weil jede reale oder auch nur antizipierte Nahrungsaufnahme eine für Gesunde nicht nachvollziehbare, irrationale Angstreaktion (Gewichtsphobie) auslöst. Aus der Sicht der Patientin bedeutet die Essensvermeidung deshalb nicht das Problem, sondern eine willkommene Lösung, um die krankheitswertige Panik unter Kontrolle zu bringen. Aus medizinischer Sicht wird damit allerdings der Teufel durch den Beelzebub ausgetrieben. Denn der fortdauernde Hungerzustand geht mit dem Risiko einher, dass nicht nur die seelische Entwicklung der Betroffenen behindert wird, sondern dass mit schwerwiegenden körperlichen Schäden gerechnet werden muss, die im Tod enden können.

Die zentrale Frage lautet daher: Welche Umgebung muss Psychotherapie schaffen, in der die Betroffenen lernen, gesunde Ziele anzustreben, statt sie zu vermeiden?

Gelingt es nämlich, Patientinnen möglichst bald nach Erkennen der Krankheit in eine Therapie einzubeziehen, bei der die Gewichtsrehabilitation sowie Verbesserung der Körperwahrnehmung und des Essverhaltens vorgesehen ist, ist Genesung möglich. Das gilt besonders im akuten Stadium der Krankheitsentwicklung (bis drei Jahre nach einem initialen, markanten Gewichtsverlust) sowie auch noch für das mittlere, subakute Stadium (voll ausgeprägtes Krankheitsbild bis ca. sechs Jahre nach Krankheitsbeginn), während bei länger dauernden Verläufen Heilung immer unwahrscheinlicher wird. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass sich Therapieszenarien vermehrt auf die Überwindung der krankhaften Ängste konzentrieren und auf die Motivationsprobleme gerichtet sind, die einen frühzeitigen Therapiebeginn verhindern oder zum Abbruch von begonnenen Therapien führen.

Im vorliegenden Buch befassen wir uns mit diesen Themen. Es geht dabei hauptsächlich um die AN, eine der gefährlichsten entwicklungspsychiatrischen Störungen des Jugendalters, um deren Erscheinungsbild, die Diagnostik, Epidemiologie, Psychologie und um die zahlreichen Erklärungs- und Therapiemodelle. Damit beschäftigen wir uns in unserer psychiatrischen Praxis in der Tat seit vielen Jahren (Liechti 2006, 2007). Es geht aber auch um die Darstellung eines systemisch-bindungsbasierten Therapiemodells, das sich losgelöst von einer spezifischen Störung eignet, die im Jugendalter so häufigen Motivationsprobleme zu lösen. Insofern stellt die Therapie mit Menschen mit AN und ihren Bezugspersonen geradezu den »Modellfall« dar. Er vereint praktisch sämtliche Probleme, die sich im Umgang mit anderweitig psychisch belasteten Jugendlichen nur in der einen oder anderen Form ergeben, etwa:

•Fehlende Therapiemotivation, Drop-out, Rückfälle

•Unsichere (im Falle der AN meist vermeidende) und desorganisierte Bindungsmuster

•Symptomatisches Verhalten als Erfahrung von Wirksamkeit und Kontrolle

•»Behaviorale« Probleme, die nur durch die sinnlich-korrektive Erfahrung (Exposition mit dem Unlust auslösenden Reiz) und nicht allein kognitiv (mittels Einsicht) gelöst werden können

•Musterbeispiel eines Problemsystems (problemdeterminiertes Sozialsystem)

•Notwendigkeit einer komplexitätsgerechten, adaptiven (statt selektiven) Indikation

Das explizierte Therapiemodell nutzt familientherapeutische, systemische und bindungsorientierte Einsichten und Erfahrungen und versteht nahe Beziehungen, Bindungen und die Beziehungsdynamik, die sich um ein beklagtes Problem herum entfaltet, als Therapiekontext und Ressource für die Problemlösung.

Obwohl zahlreiche und hervorragende Bücher zum Thema der AN vorliegen und auch das Problem der sogenannten Behandlungsresistenz als Ursache dramatischer Therapieverschleppung erkannt und benannt wird, werden entsprechende Behandlungsoptionen eher stiefmütterlich und meist auf der Ebene der Dyade Fachperson – Patientin behandelt. Das kontrastiert zur klinischen Erfahrung, dass bei psychisch belasteten Jugendlichen Probleme mit der Therapiemotivation allgegenwärtig sind und darin resultieren, dass professionelle Hilfe gar nicht erst in Anspruch genommen wird.

Summa summarum: was die motivationale Praxis bei psychisch belasteten Jugendlichen im Allgemeinen und bei AN-Patientinnen im Speziellen betrifft, liegt einiges noch im Argen. Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, die Chancen für eine möglichst frühzeitige und nachhaltige Therapie der AN zu verbessern. Dabei orientieren wir uns nicht primär an der Pathologie der AN oder an irgendwie gearteten »Defekten«, sondern an den davon betroffenen Menschen, diesen kognitiv oft weit entwickelten, affektiv aber hoch vulnerablen und meist einsamen Menschen, die an reich gedeckten Tischen nicht essen können – sowie an ihren engagierten, oft verzweifelten und ohnmächtigen Eltern, Geschwistern oder Partnern. Dass Therapeutinnen und Therapeuten ihre Optik nicht allein auf die Störung richten sollten, hat der britische Neurologe, Neuropsychologe und Verfasser einfühlsamer Krankheitsgeschichten Oliver Sacks (1933–2015) in aller Deutlichkeit festgehalten; nämlich …

»… dass Krankheit nie lediglich ein Überschuss oder eine Einbuße ist, sondern dass es immer eine Reaktion des betroffenen Organismus oder des Individuums gibt, die darauf abzielt, etwas wiederherzustellen, zu ersetzen, auszugleichen und die eigene Identität zu bewahren, ganz gleich, wie seltsam die Mittel zu diesem Zweck auch sein mögen« (Sacks 2009, S. 21).

Beispiel 1: Charlotte H. – Eine Sehnsucht nach Beziehung

Charlotte H., 32-jährig, leidet unter Anorexia nervosa vom bulimischen Typ seit ihrem 16. Lebensjahr; zwei stationäre Behandlungen (insgesamt über anderthalb Jahre), fünf Jahre ambulante Therapie, heute Normalgewicht und seit über einem Jahr ohne Erbrechen, kurz vor Abschluss einer von der Invalidenversicherung unterstützten Lehre als Kosmetikerin. Im Folgenden ein Ausschnitt aus der Abschlusssitzung:

THERAPEUT Sie meinen, es wäre besser, wenn Ihre Mutter die Sorge um Sie abgeben könnte?

CHARLOTTE Also, meine Mutter kann das nicht. Sie wird die Sorgen nie abgeben können. Aber heute verstehe ich sie auch besser. Sie hat immer an mich geglaubt.

THERAPEUT Ist das wichtig gewesen für Ihre Gesundung?

CHARLOTTE Ja. Ich glaube, das Allerwichtigste. Ich denke, die Tatsache, dass meine Mutter so … so unerschütterlich an mich geglaubt hat, das hat mir gezeigt, dass ich … Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, vielleicht dass ich kein Recht habe aufzugeben, obwohl ich ja auch einmal fast gestorben bin … Da habe ich mich irgendwie verpflichtet gefühlt … Oder nein, es ist eher so gewesen, dass es nicht mehr funktioniert hat, ich meine, die Magersucht … Auf einmal hat sie nicht mehr funktioniert … Früher ist der Fressanfall und die ganze Sache drum herum das Wichtigste gewesen … Alles hat sich um das gedreht, um Punkt fünf … Am Morgen das Telefon mit der Mutter, dann zwei Stunden Laufen mit der Mutter, dann...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2020
Verlagsort Heidelberg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Bindungstheorie • Bulimie • Essstörung • Magersucht • Mobilisierung familiärer Ressourcen • Systemische Therapie • Therapiemotivation • Verhaltensstörungen im Jugendalter
ISBN-10 3-8497-8210-7 / 3849782107
ISBN-13 978-3-8497-8210-8 / 9783849782108
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