Das Schweigen der Mitte (eBook)

Intellektuelle in der Polarisierungsfalle
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2020 | 1. Auflage
208 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-4067-2 (ISBN)
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Wenn die Demokratie in der Krise steckt und der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, geht es ans Kerngeschäft der Intellektuellen. Doch die hitzigen Debatten münden in fatale Polarisierungen. Ulrike Ackermann plädiert für eine Rückbesinnung auf antitotalitäre und liberale Traditionen, um die politische Mitte intellektuell neu zu besetzen. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre Gruppeninteressen kämpfen. Wichtige Kontroversen werden nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich von den Rändern her. Deutschlands Intellektuelle wie Joachim Gauck, Uwe Tellkamp, Harald Welzer oder Thea Dorn streiten um die Meinungsführerschaft. Gelingt es ihnen, die ideologische und moralische Polarisierung aufzubrechen? Ackermann fordert eine antitotalitäre Selbstaufklärung, um dem Furor des Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird, entgegenzutreten.

Prof. Dr. Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. 2009 gründete sie das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung, das sie seitdem leitet. 2008 wurde sie als Professorin berufen und lehrte bis 2014 Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt »Freiheitsforschung und Freiheitslehre« in Heidelberg. 2002 gründete und leitete sie das Europäische Forum an der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus arbeitet sie seit vielen Jahren als freie Autorin für Funk und Print.

Prof. Dr. Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. 2009 gründete sie das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung, das sie seitdem leitet. 2008 wurde sie als Professorin berufen und lehrte bis 2014 Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt »Freiheitsforschung und Freiheitslehre« in Heidelberg. 2002 gründete und leitete sie das Europäische Forum an der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus arbeitet sie seit vielen Jahren als freie Autorin für Funk und Print.

INHALT
7 Einleitung
14 Intellektuelle im politischen Kräftespiel
14 Ihre Präsenz in Deutschland und Frankreich
18 Verortungen von rechts bis links
21 Altes Blockdenken und Versuche der Überwindung
31 Öffentlichkeit und Meinung
31 Wandel des Debattenraums
33 Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter
39 Streit um die Meinungsfreiheit
45 Shitstorms und Hochschulpolitik
52 Polarisierungen
52 Tumult auf der Frankfurter Buchmesse
61 "Man wird doch wohl noch sagen dürfen …"
69 Totalitarismus revisited
75 Politische Vertrauenskrise
75 Der Absturz der Volksparteien
79 Krise der Repräsentation
82 Die Erosion der politischen Mitte
89 Aufbegehren gegen Althergebrachtes
93 Überkommene Organisationen und schillernde Neulinge
104 Forschung zur politischen Vertrauenskrise
116 Neue gesellschaftliche Spaltungen
117 Elitenkritik und Elitenversagen
122 Die Segregation der Mittelschicht
129 Verwerfungen zwischen Stadt und Land Inhalt 6

138 Wie viel Heimat braucht der Mensch?
138 Streitpunkt Nation
147 Migration und Integration
160 Der politische Islam
176 Westliche Selbstzweifel und Identitätspolitik
176 Antiwestliche Ressentiments
180 Identitätspolitik von rechts und links
183 Wertekanon unter Beschuss
193 Plädoyer für eine antitotalitäre Selbstaufklärung
199 Danksagung
200 Literatur

Intellektuelle im politischen Kräftespiel


Ihre Präsenz in Deutschland und Frankreich


Dass es Intellektuelle noch gibt, sie wahrgenommen werden und über Deutungsmacht verfügen, will die Zeitschrift Cicero mit ihrer alljährlichen Rangliste der 500 wichtigsten Intellektuellen zeigen. Diese Erhebung basiert auf der Präsenz von Intellektuellen in den 160 wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Außerdem werden Zitationen im Internet ermittelt und Treffer in der Suchmaschine Google Scholar gezählt. Ausdrücklich betont Cicero, es gehe dabei nicht um die inhaltliche Qualität der Einlassungen sondern um Quantität. Das wirft natürlich die Frage auf, ob diese Quantifizierung anstelle einer Qualifizierung nicht bereits Teil unseres Problems ist und auf das Schwinden des Intellekts im eigentlichen Sinne verweist. Denn originäre Qualität, Kreativität, Eigensinn und riskantes, offenes Denken als intellektuelle Potenz sind gerade jene Attribute, die Intellektuelle über Jahrhunderte ausgezeichnet haben.

Angeführt wird die Cicero-Rangliste 2019 von einigen noch verbliebenen „Großköpfen“: dem Philosophen Peter Sloterdijk, gefolgt von seinem Kollegen Jürgen Habermas, den Schriftstellern Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Peter Handke, dem ehemaligen Politiker und anschließend erfolgreichen Publizisten Thilo Sarrazin – Politiker werden sonst nicht in dieser Liste geführt –, der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, dem Ökonomen Werner Sinn und der Journalistin Alice Schwarzer. Diese Spitzenreiter haben alle das 70. Lebensjahr überschritten, was der Würdigung ihrer bisherigen intellektuellen Leistungen natürlich keinen Abbruch tut. Die Schriftstellerin Juli Zeh sorgt auf Platz elf dennoch deutlich für Verjüngung.

Das Messverfahren für dieses Ranking hat der Ökonom und Politikwissenschaftler Max A. Höfer entwickelt, der die Intellektuellen-Liste für Cicero bereits seit 2006 erstellt. Seither ist zu beobachten, wie sich die Positionierung der 500 Intellektuellen verschiebt. Die Kategorie „Intellektueller“ ist laut dieser Rangliste recht weit gefasst. Neben Schriftstellern, Sozial- und Geisteswissenschaftlern finden sich Ökonomen, Publizisten und ausgesprochen viele Journalisten – auch wenn Max A. Höfer inzwischen einen Abwärtstrend für Publizisten und Schriftsteller beobachtet, während Naturwissenschaftler, Mediziner und Ökonomen die großen Aufsteiger in diesem Ranking sind.

Die Häufigkeit der öffentlichen Präsenz in Gestalt von Zitaten, Büchern und Artikeln, aber auch leibhaftig auf Podien und in Talkshows macht die gelisteten Intellektuellen – durchaus auch in pekuniärer Hinsicht – zu jenen Spitzenreitern, die umtriebig in der Republik unterwegs sind und sich geschmeidig in den Kulturbetrieb einfädeln. Legt man als Maßstab hingegen eine etwas puristischere Definition des Intellektuellen an, die sich stärker an der historisch gewachsenen Rolle und den qualitativen Interventionspotenzialen orientiert, enttäuscht diese Rangliste. Zeigt sie im Resultat und in der Machart nicht gerade, dass jene Intellektuellen, die wir aus vergangenen Zeiten kennen, die mit scharfem Blick die Gesellschaft ins Visier nehmen, mit ihrer Skepsis ärgern und mutig an Glaubenssätzen, Sitten und Tabus rütteln, am Aussterben sind? Hat diese Figur des „Rüpels und Rebells“ nicht schon längst abgedankt?

Die Publizistin Hannelore Schlaffer erinnert in ihrer Erfolgsgeschichte des Intellektuellen an diese nonkonformistische Rolle, als der rüpelhaft-rebellische Intellektuelle als Kritiker noch ärgern konnte und zugleich als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten geschätzt wurde. Als „Hofnarr und Missionar“ seiner Gesellschaft, konnte er ein „notwendiges Ferment der Aufklärung“ sein. Und eben eine solche Form des Intellektuellen meint der Medienwissenschaftler Norbert Bolz – selbst auf vielen Podien unterwegs – auch heute noch zu erblicken. In seiner Laudatio auf den Anführer der Cicero-Liste bescheinigt er Peter Sloterdijk Geistesgegenwart ohne Zeitgeistigkeit. Sloterdijk trotze dem medial wie politisch zugespitzten Konformitätsdruck. In einer Zeit, in der die Politik zum Gefälligkeitsdenken, die Medien zur Selbstinszenierung und die Universität zur Resignation verführe, brilliere er mit Eigensinn. Eine Figur, wie sie besonders häufig bei unseren Nachbarn zu finden ist.

Frankreich zehrt bis heute noch von seinem Ruf, das Land der Intellektuellen und gewissermaßen Erfinder dieser Spezies zu sein. Es wundert deshalb nicht, dass es dort unzählige Studien und regelrechte Bestseller über ihre Geschichte, ihren Aufstieg und Niedergang, ihren Verrat, ihre Verantwortung oder ihre Neuverortung gibt. Im Vergleich zu Deutschland war die Essay- und Zeitschriften-Kultur, in der auf hohem Niveau und dennoch breit rezipiert über den Zustand der Gesellschaft gestritten wurde, in Frankreich schon immer viel ausgeprägter. Dazu kam das hohe Ideal des institutionell unabhängigen Intellektuellen, der öffentlich interveniert: Der 2015 verstorbene Philosoph André Glucksmann verkörperte dies auf vortreffliche Weise. Vom ehemaligen Maoisten in der 1968er Studentenrevolte zum antitotalitären Liberalen gewandelt, provozierte er gern Debatten und sparte nicht mit Polemik. Im Gegenzug begleiteten ihn Anfeindungen, scharfe Kritik und Missgunst bis zu seinem Tod.

Einer seiner Kontrahenten war der Soziologe Pierre Bourdieu, der am ehrwürdigen Collège de France in Paris lehrte. Er galt als „Papst“ seines Fachs und war zugleich ein veritabler Vertreter jener akademischen Linken, die das Engagement der Intellektuellen einforderten. Institutionell verankert und stolz auf seine akademische Reputation, polemisierte er gern und zuweilen recht aggressiv gegen sogenannte „Medienintellektuelle“. Diese Vogelfreien, nicht eingebettet in eine wissenschaftliche Institution und Hierarchie, waren ihm zutiefst suspekt. Das war umso erstaunlicher, als sich der Soziologe völlig zu Recht seinen guten Ruf gerade mit Untersuchungen über Die feinen Unterschiede erworben hatte, mit akribischen Analysen sozialer Rangunterschiede und Dynamiken der Macht, der Anerkennung und des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs. Neben dem ökonomischen, sozialen und symbolischen Kapital führte er den Begriff des kulturellen Kapitals ein. Er untersuchte damit Bedeutung, Stellenwert und Nutzen, die der Bildung im sozialen Beziehungsgeflecht und der Genese von Machtstrukturen zukommt. In seinem Anfang der 1980er-Jahre erschienenen Buch Homo academicus setzte sich Bourdieu dann ausführlich mit der Frage auseinander, wer überhaupt die Definitionsmacht darüber habe, wer ein Intellektueller ist, und sich damit ermächtige, kulturelle Produktion zu bewerten.

Bestsellerlisten und Bestenlisten der großen Zeitungen und Zeitschriften, die Intellektuelle bewerteten und in eine Hierarchie einordneten, gab es schon damals. Unter der Überschrift „Die Hitparade der französischen Intellektuellen oder: Wer richtet über die Legitimität der Richter?“ mokiert sich Bourdieu mit beißendem Spott über das Ranking intellektueller Akteure. Er sieht dabei kulturindustrielle Mechanismen am Werk, wobei sich „Journalisten-Intellektuelle“ und „Intellektuelle-Journalisten“ aufs Engste miteinander verstrickten. Dieser Prozess „vollzieht sich auf mehreren Ebenen: auf der des ‚informellen‘ Austauschs privater, wenn nicht vertraulicher Urteile und Wertungen (‚Sag’s nicht weiter, aber das letzte Buch von X ist unter aller Sau‘) zwischen Journalisten, schriftstellernden Journalisten und journalistisch tätigen Schriftstellern, aber auch auf der Ebene der öffentlichen Verdikte, also der Rezensionen, Kritiken, Einladungen zu Radio- und Fernsehauftritten, schließlich auch der ‚Bestenlisten‘.“ (Bourdieu 1992)

Diese scharfsinnige Analyse des Soziologen gilt nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland können wir bis heute – und noch angetrieben und beschleunigt vom Internet und den sozialen Netzwerken – ganz ähnliche Mechanismen im Kultur-, Wissenschafts- und Medienbetrieb beobachten.

Verortungen von rechts bis links


Pierre Bourdieu pochte auf die „kritische Mission“, die den Intellektuellen als Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern obliege. Denn aufgrund dessen, was sie wissen und selbst beherrschen, verkörperten sie eine Form von Universalität und hätten als Kollektiv die Funktion, Vernunft zu repräsentieren.

Angesichts des aktuellen Unbehagens im Wissenschaftsbetrieb und der Debatten über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an Hochschulen sind Bourdieus damalige Mahnungen geradezu hellseherisch: Der intellektuelle Rekurs auf Universalität schließe die kompetente Wahrnehmung ihrer Eigeninteressen ein. Dazu zählte er vor allem die Veröffentlichung eigener Werke und die Realisierung der Freiheit von Lehre und Forschung. Er war davon überzeugt, dass Intellektuelle kollektiv intervenieren müssten, um „mit ihren Werten allgemein-kritische, vernünftige Werte zu verteidigen“, sagte er mir 1992 in einem Gespräch.

Bourdieu, selbst nicht frei von eitlen Neigungen,...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2020
Verlagsort Darmstadt
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aktuelle Politik • Demokratie-Krise • deutsche Politik • Echokammern • Elitenkritik • Gesellschaftliche Spaltung • Intellektuelle • Krise der Volksparteien • Linkspopulismus • Meinungsfreiheit • Polarisierung • Polarisierungsfalle • politikverdruss • politische Mitte • Populismus • Rechtspopulismus • Toleranz
ISBN-10 3-8062-4067-1 / 3806240671
ISBN-13 978-3-8062-4067-2 / 9783806240672
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