Das große Nein (eBook)
160 Seiten
kursbuch.edition (Verlag)
978-3-96196-129-0 (ISBN)
ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Zuletzt erschien 'Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft'. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'.
ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Zuletzt erschien "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft". Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem "Mit dem Taxi durch die Gesellschaft", in der kursbuch.edition erschien "Gab es 1968? Eine Spurensuche".
Das Protestpotenzial von Kommunikation
Man kann wohl die Qualität von soziologischen Theorien daran bemessen, ob sie die Dynamik, die Operativität ihres Gegenstandes, die Verzeitlichung von Strukturen in den Blick nehmen können oder nicht. Die grundlegende Einsicht des soziologischen Denkens besteht darin, dass sich alle Strukturen, alles Feststehende, alle routinierte Dynamik, alles Erwartbare, alles Geschehen im Vollzug selbst ereignet. Wenn wir einen Prozess beobachten, etwa eine typische Handlungskoordination zwischen Rollenträgern, zum Beispiel ein Verkaufsgespräch in einem Geschäft, erscheint uns dies als ziemlich festgelegt und strukturiert. Solche Formen laufen immer wieder in sehr ähnlicher Form ab. Sie folgen Strukturen und Mustern, Regelmäßigkeiten und nicht zuletzt Routinen des Alltäglichen – und doch müssen sie stets praktisch wiederhergestellt werden. Soziale Strukturen kann man vor allem an Wiederholungen erkennen, also darin, wie sie sich durch immer neue, aber eben erwartbare und sich wiederholende Ereignisse selbst bestätigen. Es ist manchmal frappierend, wie regelgeleitet und musterhaft das Alltagsverhalten ist und wie unwahrscheinlich Abweichung in den meisten Situationen. Sieht man aber genau hin, sind Strukturen einerseits stabil, andererseits aber ebenso fragil, weil sie sich in jeder Gegenwart neu bewähren müssen, oder anders gewendet: stets negiert werden können. Soziale Ordnung ist genau genommen der Versuch, das Risiko der Abweichung zu minimieren und Systeme für sich selbst kalkulierbar zu machen, ja Kontingenz zu vernichten.3 Alle Ordnung ringt um die Suspendierung ihrer selbst – gerade das macht sie zu einer Ordnung. Es ist nötig, das so abstrakt zu formulieren, um zu verstehen, dass Handlungs- und Kommunikationsprozesse stets mit der Handhabe von möglichen Ja- und Nein-Stellungnahmen zu tun haben. Ordnung ist die andere Seite der Kontingenz, die andere Seite der Beliebigkeit. Ordnung ist gewissermaßen an die Abweichung gebunden, wohlgemerkt: an den Versuch der Vermeidung von Abweichung. Ordnungen können immer auch anders sein, sonst wären sie keine – und sie sind stabiler, als wir oft denken, auch sonst wären sie keine.
Wer kommuniziert, setzt sich dem Risiko des Protests aus. Dieser sehr einfache, selbstverständlich übertrieben formulierte Satz hat es in sich, weil er den Protest bereits in die Struktur der Kommunikation einbaut. Kommunikation wäre keine, wenn sie nicht die grundlegende Möglichkeit der Negation in sich trüge. Es ist kein Zufall, dass die meisten Selbstbeschreibungen der gesellschaftlichen Moderne auf Kommunikation setzen. Wissenschaftliche Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, gerade sozialwissenschaftliche, setzen auf symbolische Interaktion oder auf kommunikative Verständigung, auf selbstreferenzielle Kommunikationsprozesse oder Benennungspraktiken. Überall dort wird Kommunikation als Grundbegriff gebraucht. So unterschiedlich solcherlei Modelle sind, so ist ihnen doch gemein, dass sie auf die Organisation oder Bearbeitung von Alternativen, auf Widerspruch und Differenzen setzen.4
Kommunikationsprozesse, auch wenn man sie an Handlungsketten beobachtet, zeichnen sich dadurch aus, dass sie andere Verläufe nehmen können als man es erwarten würde. So würde man etwa das Nacheinander von Reaktionen von Kugeln auf einem Billardtisch nicht als Kommunikation auffassen. Wenn eine Kugel auf eine andere trifft und ihr einen kinetischen Impuls verleiht, kommunizieren die Kugeln nicht miteinander – weil sie keinen Handlungsspielraum haben. Eine Kugel könnte sich nicht weigern, sich in exakt dem Winkel zu bewegen, der durch den Aufprallwinkel der impulsgebenden Kugel bewirkt wird. Da sie nicht anders kann, würden wir der Kugel keinen Handlungsspielraum unterstellen und das Verhältnis der Kugeln nicht als ein Kommunikationsverhältnis auffassen. Erst dort, wo die Kugel auch anders könnte, wenn sie eine Wahl hätte, würden wir ihr erstens ihre Bewegung selbst zurechnen und das Verhältnis der Kugeln als ein Kommunikationsverhältnis auffassen.
Wir würden die ziemlich genau berechenbare Reaktion der Kugel auch nicht als ein Ja auffassen, nicht als Zustimmung. Sie kann schlicht nicht anders. Sie tut es nicht einmal. Es geschieht ihr. Es geschieht nicht einmal ihr. Es geschieht einfach. Die Kugel kann nicht zustimmen, nicht Ja sagen, weil sie nicht Nein sagen kann. Erst wenn das Risiko von Nein-Stellungnahmen vorliegt, kann man von Kommunikation sprechen. Kommunikation ist gewissermaßen das Management möglicher Nein-Stellungnahmen. Kommunikation ist das Management von Nicht-Kausalität in dem Sinne, dass wir alle kausalen Bewirkungsformen eben nicht Kommunikation nennen würden. Das Nein, nicht das Ja ist der positive Wert der Kommunikation, denn nur wenn in einer Ereigniskette das nächste Ereignis auch anders ausfallen könnte, kann man von Kommunikation sprechen.
Sozialtheorie und soziale Praxis auf diesem spezifischen Verständnis von Kommunikation aufzubauen, rechnet also systematisch mit der Möglichkeit der Nein-Stellungnahme: Wer auch immer die Instanz der Erwartung sein mag, sie könnte als Adressat auch Nein sagen oder zumindest anders reagieren als erwartet. Genau genommen ist in Kommunikationsprozessen die vollständige Erwartungserfüllung der voraussetzungsvollere Vorgang als die Abweichung von konkreter beziehungsweise festgelegter beziehungsweise kausalähnlich gebauter Erwartung. Der analytische Normalfall von Kommunikation ist die Abweichung, wie klein sie immer sein mag, oder wenigstens ihre Vermeidung, die mit der Abweichung rechnen muss. In newtonphysikalischen Räumen wie auf einem Billardtisch wäre das Gegenteil, die Abweichung, der erklärungsbedürftige Fall, der letztlich nicht auftritt.
Wer auf Kommunikation setzt, setzt auf den Umgang mit Abweichung. Einige Beispiele illustrieren das:
■Die Demokratie im politischen System setzt geradezu eine epidemische Form der Kommunikation in Gang, weil sie ja nicht einfach die Exekution irgendeiner Mehrheitsentscheidung ist, sondern einen Kommunikationskreislauf initiiert, in dem die Nein-Stellungnahme institutionalisiert wird. Selbst wenn eine Entscheidung kollektiv völlig unumstritten wäre, könnte der politische Prozess gar nicht anders, als hier auch noch so etwas wie Opposition, Widerspruch, neue Kommunikationsanlässe einzubauen, eben weil genau dies institutionalisiert ist und für die Legitimation wie die Legitimität einer Entscheidung unvermeidlich ist. Für manche Akteure in politischen Verfahren ist die Nein-Stellungnahme mit einer Art Notwendigkeit ausgestattet, denn der Widerspruch ist deren Existenzberechtigung.
■Rechtliche Verfahren verfahren ähnlich. Sie bringen Rede und Gegenrede in Gang, institutionalisieren Rederechte, Gehörzwang und ordnen Kommunikatoren in unterschiedlichen Rollen an. Der Klassiker ist in Seligsprechungsverfahren die Institution des Advocatus Diaboli, der dem Advocatus Angelorum oder dem Kirchenanwalt Paroli bieten muss, damit das Seligsprechungsverfahren Legitimität erhält.5 In rechtsstaatlichen Verfahren sind dann später die antipodischen Rollen so verteilt, dass Nein-Stellungnahmen ins Verfahren als geradezu notwendig eingebaut werden müssen. Die Umsetzung von Rechtsregeln ist zugleich nicht die Eins-zu-eins-Übertragung von Vorschriften oder Gesetzen in eine gesellschaftliche Praxis, sondern letztlich ihre kommunikative Begleitung mit Entscheidungs- und Widerspruchskompetenz in Verfahrensform.
■Beide, Recht und demokratische Politik, ermutigen Sprecherinnen und Sprecher, sich als solche zu inszenieren. Sie gewöhnen ein Publikum daran, unerwartete Kommunikationsbeiträge zu präsentieren und damit einen Informationswert zu erhalten. Fast nichts, wenigstens nicht die Demokratie selbst oder die Geltung des Rechts, kann dafür sorgen, was da kommuniziert wird, gerade weil kommunikative Anschlüsse und damit die Etablierung von Sprecherpositionen geradezu unvermeidlich werden. Selbst die Klage darüber, wer keine Stimme hat oder bekommt, muss kommuniziert werden und dementiert damit paradoxerweise, was sie behauptet.
■Massenmedien bilden nicht einfach die Welt ab, sondern überziehen die Gesellschaft mit einem Kommunikationsnetz, in dem es einen Unterschied macht, wer was wann wie zu wem und zu welchem Anlass sagt. Und einen Unterschied macht eher die Negation als die Affirmation. Besonders interessante Medienformate sind die, die nicht einfach simulieren, die Welt abzubilden (was sie selbstverständlich nicht können), sondern solche, die explizit das Kommunizieren von anderen kommunikativ abbilden. In Talkshows oder in Interviews, aber auch in Filmen und Dokumentationen sieht man anderen beim Kommunizieren zu – und einen Informationswert (die Währung des Mediensystems) hat das dann nur, wenn sich der eine Satz nicht notwendig aus dem anderen ergibt. Dass in den Medien meistens auch bestimmte Abweichungen erwartbar sind, variiert nur die besondere Funktion von Kommunikation.
■Mehr noch als in den klassischen Massenmedien wird Kommunikation im Internet, in sozialen Medien durch die Erwartbarkeit von Widerspruch, Differenz und Nein-Stellungnahmen geprägt. Diese entfesselte Form der Kommunikation fast ohne die Gatekeeper-Funktion, die in klassischen Medien für Struktur und Selektivität sorgt, ist geradezu prädestiniert für das Nein, und zwar für ein Nein mit wenig Risiko, was die Überhitzung von Kommunikationsverläufen in sozialen Medien erklärt.
■Bildung etabliert sich zumeist als Einübung von Kommunikation. Gebildet ist, wer in der Lage ist, auf...
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2020 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Demokratie • Gesellschaft • Klimawandel • Protest • Protestbewegung |
ISBN-10 | 3-96196-129-8 / 3961961298 |
ISBN-13 | 978-3-96196-129-0 / 9783961961290 |
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