Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter (eBook)

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2020 | 1. Auflage
500 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-95757-891-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter -  László F. Földényi
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Das ungewöhnliche Standardwerk zu Heinrich Kleist endlich als Taschenbuch: Keine Monografie sondern eine Kleist-Enzyklopädie, ein Kaleidoskop psychologischer, literarischer, philosophischer Themen zum Werk und der Person Kleist. Das Buch besteht aus knapp hundert Essays, von denen ein jeder einem Wort von Kleist nachspürt, von A bis Z, von 'Ach' bis 'Zufall'. Ein Labyrinth aus Wörtern, in das man eintreten kann, wo man will, und das man auch jederzeit wieder verlassen kann. Eichendorff sah 1809 Kleist nur kurz: 'ein schöner ernster Mann' - er ist hoch leidenschaftlich ohne Pathos (im Gegensatz zu Schiller), dabei eher gegossen. Seine Prosa zeichnet sich durch einen 'gehämmerten Anschlag' und übermäßige Rhythmen aus, darin aber Szenen stillster Durchblicke. Földényis Buch macht Kleist zu einem Autor für unsere Zeit: voller Haltung, kompromisslos, radikal.

László F. Földényi, geb. 1952 in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Akos Doma, 1963 in Budapest geboren, ist Autor und Übersetzer aus dem Ungarischen.

László F. Földényi, geb. 1952 in Debrecen (Ungarn), ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er Mitglied der der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Akos Doma, 1963 in Budapest geboren, ist Autor und Übersetzer aus dem Ungarischen.

Vorwort


Ein schonendes Buch.

Es verschont den Leser, erspart ihm die Mühe des Auslesens. Es befreit ihn von der Last, so zu tun, als ob … Es erlaubt ihm, der Versuchung nachzugeben, umherzublättern, rückwärts zu lesen, kreuz und quer darin zu stöbern. Schließlich gibt es kein Buch, das man mit nie nachlassender, stets gleichbleibender Aufmerksamkeit lesen könnte. Möge also auch das zum Zuge kommen, was sonst keine Erwähnung findet: das dem Nichteinverständnis entspringende, ungeduldige Umherblättern, die Unaufmerksamkeit, das Überspringen von Worten und Gedanken, die zuweilen unüberwindliche Langeweile. Oder gar das Herausreißen der Blätter. Möge das Buch zerfallen. Schließlich ist darin auch die heimliche Freude über seinen eigenen Zerfall mit eingebaut. Möge das, was sonst verhüllt bleibt, in seiner ganzen Nacktheit hervortreten. Ein schonendes Buch. Es lässt der Freude freien Lauf. Befreit die Freiheit des Lesers. Mit gutem Gewissen aufzuhören. Rückwärts zu lesen. Oder es nur in der Mitte aufzublättern. Es erspart dem Leser, das Gähnen zu unterdrücken. Möge er das Buch ruhigen Gewissens nach welchem Artikel auch immer beiseitelegen. Womöglich für immer.

Es verschont Kleist. Vor der bedrückenden Last einer Monographie, dem Schreckgespenst einer Komposition, die sich vornimmt, vom Aufbruch bis zur Ankunft alles umfassend und in einem zu sehen. Vor der Klaustrophobie. Ihrer Gattung gemäß und mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht die Monographie unweigerlich, einen Lebenslauf zu rekonstruieren, ein Lebenswerk von Neuem erstehen zu lassen. Dabei nimmt sie sich vor jenen Labyrinthen, Sackgassen, Misserfolgen, Fiaskos und jenem hysterischen → STOCKEN in Acht, vor denen sie ihren »Helden« keinesfalls bewahrt. Das schonende Buch verschont also Kleist – erspart ihm den monographischen Sadismus, jene lähmende Kälte des Ganzen, unter der er, solange er lebte, ohnehin genug zu leiden hatte. Jene als planmäßig und logisch hingestellte Einheit, jenes Unabänderlichkeit suggerierende »Entwicklungsbild«, das auf alles eine Erklärung sucht (und findet), überall Prämissen und Folgen wittert. Es erspart ihm den Stempel der Unabänderlichkeit. Jenes Phantombild, das der Gattung der Monographie Leben einhaucht, das wirkliche Bild – wie ein Parasit – verstößt und seinen auserwählten Helden unter dem Deckmantel des Verständnisses, der Annahme und der helfenden Deutung suggerierten Ideen zum Fraß vorwirft.

»For Godsake hold your tongue, and let me love«, schreibt John Donne in einem Gedicht, dem er bezeichnenderweise den Titel »The Canonization« gab. Lässt sich die Liebe kanonisieren? Und lässt sich der Genuss, ja die Wonne des Lesens mit der Qual und der mühevollen Arbeit der Deutung vereinbaren? Lässt sich die Kanonisierung eines Werkes mit seiner unwiederholbaren Einmaligkeit in Einklang bringen? Ich meine, ja. Doch muss man dabei ebenso auf die Ausschließlichkeit eines in der Wonne geborenen und darin eintauchenden Lesegenusses verzichten wie auf die Freudlosigkeit der Deutung. Das ist jedoch keine Frage des Kompromisses. Im Gegenteil. Damit die Möglichkeit einer liebevollen Besprechung geboren wird, müssen erst die Extreme bis zur Voreingenommenheit radikalisiert werden. Das Objekt der Liebe muss, damit es wirklich zum Leben erwachen kann, erst zu einem Objekt entarten. Erst auf dem Umweg grenzenloser Fremdheit lässt es sich erobern. Die bloße Fremdheit (die seelenlose Interpretation) entspringt nicht der Liebe zum Werk und führt auch nicht zur Liebe. Genauso wenig eignet sich jedoch die schwärmerische Andacht zur Eroberung. Dafür sind sowohl Egoismus als auch Selbstaufgabe vonnöten. Man muss unverzeihlich objektiv werden und darf zugleich nicht der Versuchung einer Vereinnahmung nachgeben. Man muss das Werk auf eine Stecknadel spießen – aber nicht um der Einreihung, Klassifizierung und Systematisierung willen (damit ich, der Interpret, es umbringe), sondern damit ich, der ich verglichen mit dem Werk ein Halbtoter bin, an seiner rätselhaften Lebendigkeit teilhabe.

Anstelle einer Monographie also eher ein NETZ. Nicht um das Werk und seinen Verfasser darin einzufangen, sondern im Gegenteil: um die Liebe zum Werk bewahren zu können. Genauer: jene Energie, die die Voraussetzung der Liebe (der Bewunderung, der Zuneigung, der Anhänglichkeit, der krankhaften Überwältigung) ist. Um das Werk also kanonisieren zu können, ohne ihm die Fesseln des Kanons anzulegen. Auch deshalb widersetzt sich Kleists Werk der Gattung der Monographie. Denn eines der Geheimnisse von Kleists Stärke liegt gerade in seiner Unfähigkeit, sich in die vorhandenen literarischen Kanons einzugliedern. Statt es »sich« in einem der bereits bestehenden Kanons »bequem zu machen«, schafft er einen neuen Kanon aus dem »Nichts«. Er ist kein parasitärer, sondern ein lebenspendender Schriftsteller. Statt die vorgegebene Tradition auszuschlachten, schafft er selbst eine neue Tradition, die man jedoch – da sie sich als unnachahmlich erwiesen hat – nicht einmal als Tradition bezeichnen kann. Nicht er begibt sich in den Rahmen der Tradition, sondern er holt die Tradition in seinen eigenen selbst geschaffenen Rahmen hinein. Auch deshalb eignet er sich nicht für die Rolle des Helden einer Monographie. Schiller oder Lessing tun es umso mehr; eine Monographie über sie zu schreiben, ist ebenso selbstverständlich wie über Fielding, Balzac, Tolstoi oder Thomas Mann. Nicht als ob nicht auch sie die Tradition umgeformt und neue Kanons geschaffen hätten. Doch sie taten es »aufbauend«, indem sie das System der bereits vorhandenen Traditionen und Kanons weiterentwickelten. Auch Kleist formt die Tradition um – doch er baut sie nicht um, sondern reißt sie nieder. Er schafft einen neuen Kanon, indem er die Kanons zerstört. Den Abbruch und die Zerstörung macht er gleichsam zur Voraussetzung der Literatur. Nicht um die Literatur niederzureißen. Im Gegenteil: um sie noch mehr zu verfestigen. Dabei handelt es sich bereits um eine neue Art Literatur. Um eine, deren Festigkeit nicht mehr auf Kohärenz, sondern auf der schrecklichen Gegensätzlichkeit und Spannung der Elemente beruht und die deshalb so viele Risiken in sich birgt, weil Kleist von vornherein nicht gewillt ist, diese Spannung zu löschen oder abzuleiten. Die Federn jener Autoren, die sich für eine Monographie eignen, gravitieren schon immer einem solchen stillschweigend vorausgesetzten Mittelpunkt entgegen, der gleichsam die Voraussetzung des Werkes ist. Dieser Mittelpunkt ist der Sitz des Autors selbst: sein → RichtSTUHL, von dem er alles überblickt und alles in der Hand hält. Die Widersprüche und Spannungen ebenso wie deren Lösung und Aufhebung. Auch Kleist hat einen solchen → RichtSTUHL. Dieser befindet sich jedoch nicht außerhalb des Werkes, sondern in dem Werk selbst. Auch er sieht alles – aber seine Sicht ist keine Übersicht; auch er hält seine Hand über alles – aber nicht alles in seiner Hand. Auch er registriert die von ihm erzeugten Spannungen und Widersprüche; doch statt sie zu lösen, überlässt er sich ihnen, liefert er sich ihnen aus. Wodurch das Werk jedoch – und darin liegt das Geheimnis dessen, dass er sogar beim Niederreißen einen Kanon errichten konnte – keinesfalls einstürzt. Ja, nicht einmal bruchstückhaft wird. Es ist um nichts weniger fest als irgendein Werk Goethes oder Schillers.

Wie vor ihm Sterne oder nach ihm Kafka, Musil, Proust oder Joyce gehört auch Kleist zu jenen, die durch Zerstören schaffen. Seine Werke werden gerade dadurch kohärent, dass jedes ihrer Elemente auseinanderstrebt. Deshalb widersetzen sie sich dem Zwang einer Monographie: Während die Monographie zwangsläufig unter dem Bann der Hierarchisierbarkeit (dem Bann der Enthüllung der Themen, Motive, Voraussetzungen, Ursachen, Wirkungen, Verwandtschaften, Analogien, Ähnlichkeiten, Gegensätze, Annäherungen, Entfernungen und Entsprechungen) steht, versucht das NETZ die bei Kleist genauso offensichtliche Kohärenz dadurch zu rekonstruieren, dass es sie zerstört – wie auch Kleist die Worte, die die Knoten des vorliegenden NETZES bilden, so in seine Geschichten und Dramen eingewebt hat, dass er diese durch sie auch »zerschrieb«. Eine »konstruktive« Monographie ist zwangsläufig empfänglich für Zusammenhänge, Verknüpfungen und Überbrückungen; hingegen achtet das NETZ auf seine »destruktive« Art vor allem auf das, was unerklärlich, unlösbar, grundlos, irrational, widersprüchlich ist. Auf jene hermetisch abgeschlossene Einheit verzichtend, die noch Kritikern wie Cleanth Brooks vorschwebte, der als Titel seines berühmten Buches einen Ausdruck aus dem oben zitierten Gedicht von Donne wählte (The Well Wrought Urn), versucht das NETZ seine Liebe zu dem Werk gerade dadurch aufrechtzuerhalten, dass es der vermeintlichen Einheit der analysierten Werke keine Beachtung schenkt. Es erachtet die Kohärenz als eine Utopie, die nur dadurch zu erreichen ist, dass man sich zuerst radikal in ihr Gegenteil...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2020
Übersetzer Akos Doma
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Brandenburg • Der zerbrochene Krug • Deutsche Literatur • Enzyklopädie • Frankfurt Oder • Kaleidoskop • Kleist • Literaturwissenschaft • Michael Kohlhaas • Nietzsche • Preußen
ISBN-10 3-95757-891-4 / 3957578914
ISBN-13 978-3-95757-891-4 / 9783957578914
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