Der ganz normale Missbrauch (eBook)

Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
184 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-475-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der ganz normale Missbrauch - Nina Apin
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Wie unsere Gesellschaft beim Schutz der Schwächsten versagt
Canisius-Kolleg, Odenwaldschule, Lügde und Bergisch-Gladbach: Immer wieder erschüttern Berichte über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche die Republik. Obwohl kaum ein Verbrechen derart einhellig Abscheu erregt, bleiben die Fallzahlen seit Jahren erschreckend hoch - statistisch gesehen gibt es in jeder deutschen Schulklasse ein oder zwei Opfer. Warum tut sich unsere Gesellschaft so schwer damit, Kinder effektiv zu schützen? Und wie lässt sich das ändern? Nina Apin beleuchtet ein Problem, das uns alle angeht.

Jahrgang 1974, leitet das Meinungsressort der taz. Sie hat in Passau, Aberdeen, Leipzig und Berlin studiert, für ein Internet-Start-up und als freie Autorin gearbeitet, unter anderem für RBB-Kulturradio, Die Zeit, dpa und Dummy. 2013 erschien ihr Buch »Das Ende der EGO-Gesellschaft. Wie die Engagierten unser Land retten« (Berlin Verlag).

Jahrgang 1974, leitet das Meinungsressort der taz. Sie hat in Passau, Aberdeen, Leipzig und Berlin studiert, für ein Internet-Start-up und als freie Autorin gearbeitet, unter anderem für RBB-Kulturradio, Die Zeit, dpa und Dummy. 2013 erschien ihr Buch "Das Ende der EGO-Gesellschaft. Wie die Engagierten unser Land retten" (Berlin Verlag).

»Früher war das normal«


Wie der Traumabegriff den Blick auf Kindesmissbrauch verändert hat


Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Verbrechen, darin herrscht über alle weltanschaulichen und Parteigrenzen hinweg Einigkeit. Kindern Gewalt anzutun, ihre intimsten Grenzen zu verletzen, ist sogar besonders übel, bedeutet es doch, den Jüngsten und Verletzlichsten in unserer Gesellschaft Schaden zuzufügen und denen die Zukunft zu rauben, die sie eigentlich noch vor sich haben. Für den zerstörerischen Effekt von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit hat die Psychoanalytikerin Ursula Wirtz den drastischen Begriff »Seelenmord«7 geprägt.

Im öffentlichen Ansehen stehen »Kinderschänder« denn auch ganz unten. Noch verachtenswerter als ein »gewöhnlicher« Mörder erscheint der Vater, der seine kleine Tochter vergewaltigt, der Pädophile, der Nachbarskinder in seine Wohnung lockt, die Mutter, die den eigenen Jungen im Internet an Freier vermietet. Diese Gefühlslage spiegelt sich im Strafgesetzbuch. Paragraf 176 schützt die ungestörte Entwicklung von Kindern unter 14 Jahren. Deshalb sind alle Taten gegen ihre sexuelle Selbstbestimmung strafbar. Nicht nur sexuelle Handlungen am Kind werden als Missbrauchshandlung gewertet und mit sechs Monaten bis zehn Jahren Gefängnis bestraft, sondern auch Handlungen ohne Körperkontakt, das Entblößen von Geschlechtsteilen, das Auffordern zu sexuellen Handlungen an sich selbst oder mit anderen und das Zeigen oder Herstellen pornografischer Bilder oder Schriften.

Besteht zwischen Täter und Opfer ein Schutzbefohlenenverhältnis, etwa zwischen LehrerIn und SchülerIn oder zwischen AusbilderIn und AuszubildendeM, kommt Paragraf 174 zum Tragen, der den besonderen Schutz auf Jugendliche bis zum Erreichen der Volljährigkeit ausdehnt. Unter Paragraf 184 b werden die Verbreitung, der Erwerb und der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften unter Strafe gestellt. Der vom Gesetzgeber verwendete Begriff »Kinderpornografie« scheint eindeutig zu sein, tatsächlich verschleiert er jedoch, dass für jedes »kinderpornografische« Video oder Foto einem echten Kind Gewalt angetan wird. »Pornografie« suggeriert fälschlicherweise, dass hier, wie bei Erwachsenenpornos, freiwillige DarstellerInnen agierten. Fachleute sprechen daher lieber von »Missbrauchsabbildungen«.

Auch der Begriff »sexueller Missbrauch«, wie er in Gesetzestexten und offiziellen Schriften noch immer verwendet wird, ist reichlich unscharf. Denn bei solchen Delikten geht es eben nicht in erster Linie um Sexualität, zu der ja normalerweise zwei gehören, die im bewussten Einvernehmen miteinander handeln. Bei Kindern hingegen ist davon auszugehen, dass sie nicht in der Lage sind, bewusst in Handlungen einzuwilligen, deren Tragweite und Konsequenzen sie nicht überblicken können. Hier handelt es sich also auch dann um Gewalt, wenn kein physischer Zwang angewendet wird: Ein Erwachsener (oder eine Erwachsene) nutzt die eigene körperliche, geistige und gesellschaftliche Überlegenheit, um einem Kind seinen (oder ihren) Willen aufzuzwingen.

Beim Begriff »Missbrauch« schwingt außerdem immer die Assoziation mit, dass es eben auch einen sachgemäßen sexuellen »Ge-Brauch« von Kindern geben könne, was ein befremdlicher Gedanke ist. Fachleute aus der Praxis und WissenschaftlerInnen sprechen deshalb lieber von »sexueller Gewalt« und betonen dadurch den Gewaltaspekt der Tat. Oft wird auch der noch präzisere Begriff der »sexualisierten Gewalt« verwendet, da die Sexualität nur ein Teil, gleichermaßen eine Einfärbung der zentralen Gewalttat ist.

Dennoch ist »sexueller Kindesmissbrauch« nach wie vor am gebräuchlichsten, wohl weil dieser Begriff am allgemeinverständlichsten ist. Da im öffentlichen Diskurs alle drei Begriffe für ein und denselben Sachverhalt verwendet werden, wird auch hier nachfolgend synonym von sexuellem Kindesmissbrauch, sexueller und sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Rede sein.

Überraschend ist, dass es in Deutschland den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs überhaupt erst seit 1973 gibt. Zwar gilt Paragraf 176 des Strafgesetzbuchs seit 1872. Doch als »sexuelle Unzucht mit Kindern« waren nur Taten zur Ahndung vorgesehen, die unter Anwendung roher Gewalt begangen wurden. Psychischer Zwang oder das emotionale Ausnutzen von Abhängigkeit und engen Beziehungen zählten nicht dazu.

Dass nicht nur Mädchen (bei denen es zur Entstehungszeit des Gesetzes zuvorderst ihre Jungfräulichkeit und damit ihre Ehefähigkeit zu schützen galt), sondern auch Jungen Opfer sexueller Gewalt werden können, wurde sogar völlig ausgeblendet. Sexuelle Kontakte zwischen Jungen und männlichen Erwachsenen wurden als homosexuelle »Beziehungen« gewertet (und als solche strafrechtlich verfolgt) – und nicht als Gewaltakte. Erst seit der Sexualstrafrechtsreform von 1998 gilt die anale Penetration von Jungen vor Gericht als Vergewaltigung. Und durch Manipulation erschlichene sexualisierte Handlungen ohne Gewaltanwendung werden jetzt ebenso als Übergriffe gewertet wie vergleichbare Taten gegenüber Mädchen.

Auch in der Sozialarbeit und Psychologie hatte man die Jungen nicht auf dem Radar. Noch 1989 beklagte die Hamburger Psychologin Nele Glöer im Publikationsband zu einer Tagung über Kindesmissbrauch,8 dass sexuelle Gewalt gegen Jungen ein weitgehend unbekanntes Thema sei. So liege keine einzige deutsche Veröffentlichung dazu vor. Man gehe davon aus, dass es das Phänomen eigentlich gar nicht gebe, was wohl vor allem an männlichen Rollenerwartungen liege und am noch immer weit verbreiteten Tabu der Homosexualität.

Das hat sich inzwischen geändert: PsychologInnen, ÄrztInnen und ForscherInnen, die sich mit Kindern beiderlei Geschlechts beschäftigten, kamen zu dem Schluss, dass Jungen sehr wohl Opfer sexualisierter Gewalt werden. Auch die Aussagen männlicher Täter gaben darüber Auskunft. Jüngeren Studien zufolge wurde jedes vierte bis fünfte Mädchen in Deutschland schon einmal sexuell missbraucht – und jeder neunte bis zwölfte Junge. Die Forschung hat dabei übereinstimmend ergeben, dass Mädchen meist eher in der Familie missbraucht werden und Jungen eher außerhalb der Familie, wenn auch selten von ganz Fremden. Die Dunkelziffer dürfte bei Jungen ungleich größer sein als bei Mädchen, da viele von ihnen Angst haben, bei einer Öffentlichmachung des Erlebten als »Opfer« für unmännlich oder schwul gehalten zu werden.

Glöer beschreibt anhand von ihr untersuchter Jungen, wie der Missbrauch, der ja in der überwiegenden Mehrheit von Männern verübt wird, Jungen in ihrer Geschlechtsrollenidentität verwirrt. Vor allem wenn sie erlebten, dass die Täter ansonsten verheiratet sind oder sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen haben, gingen die Jungen davon aus, dass sie selbst es seien, die homosexuell sind, oder sie glaubten, bei den Männern homosexuelle Wünsche erst ausgelöst zu haben. Bei Übergriffen durch Frauen dagegen stellten sich bei den Jungen neben Verwirrung eher Angst, Ekel und Schmerz ein.

Bei missbrauchten Jungen räumen Glöer und andere AutorInnen der Wut einen hohen Stellenwert ein. Zur Wut, dem Übergriff hilflos ausgeliefert gewesen zu sein, geselle sich Wut auf sich selbst, sich nicht genug gewehrt zu haben. Diese Wut könne sich auch in Aggressionen und Dominanzverhalten gegenüber anderen, meist jüngeren Kindern äußern. Später, als Erwachsene, würden diese missbrauchten Kinder selbst zu Tätern.

Missbrauchte Jungen als tickende Zeitbomben: Diese Sicht herrschte in der Fachwelt lange vor. Sie passte zu der allgemeinen psychologischen Erklärung, wonach der Schlüssel für viele Verhaltensweisen Erwachsener Erlebnisse oder erlernte »Muster« in der Kindheit sind. Neueren Erkenntnissen aus der Sexualmedizin zufolge ist die Wiederholung solcher Tatmuster aber keineswegs ein Automatismus.

Dass das Erfahren von sexuellem Missbrauch fast immer ein Trauma auslöst, selbst dann, wenn das Kind nach der Tat keinerlei auffällige Symptome entwickelt, ist ebenfalls eine relativ neue Erkenntnis. Noch bis zu den 1980er-Jahren ging man davon aus, dass Kinder unangenehme sexuelle Begegnungen einfach »vergessen«, diese mithin keinen bleibenden Schaden anrichten, so lange man kein großes Aufhebens darum macht.

Unser Wissen über Formen, Verbreitung und Folgen sexueller Gewalt gegen Kinder ist noch immer alles andere als vollständig. Und noch ziemlich frisch ist der gesellschaftliche Konsens darüber, dass sexuelle Gewalt Kindern schadet und bestraft gehört. In jeder Gesellschaft und in jeder Epoche dominieren unterschiedliche Herrschafts- und Moralvorstellungen. Von ihnen hängt es ab, welche Spielarten der menschlichen Sexualität als normal gelten und welche als pervers, welche erlaubt sind und welche nicht. Das gilt auch für sexuelle Gewalt gegen Kinder. Ob sie überhaupt als Gewalt gesehen wird und nicht als...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 130 x 130 mm
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität • BAG Schwup • Canisius-Kolleg • Dietrich Willier • Helmut Kentler • Kinderpornographie • Kindesmissbrauch • Odenwaldschule • Päderastie • Pädophilie • Pädosexualität • Prävention • Rüdiger Lautmann • Sexuelle Gewalt • Trauma
ISBN-10 3-86284-475-7 / 3862844757
ISBN-13 978-3-86284-475-3 / 9783862844753
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