Opfer -  Terry Eagleton

Opfer (eBook)

Selbsthingabe und Befreiung
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
192 Seiten
Promedia Verlag
978-3-85371-880-3 (ISBN)
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'Die gängige liberale Meinung hält Selbstverwirklichung und Selbstenteignung im Wesentlichen für unvereinbar. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichtig verfahren, um davon auszugehen, dass sich das Selbst entfalten kann, ohne grundlegende Zerschlagung und Umgestaltung, deren traditionelles Zeichen das Opfer ist.' Der bekannte englische Philosoph Terry Eagleton untersucht in seinem neuen Buch den Gedanken und das Ereignis des Opfers, das für ihn Grundlage der modernen wie auch traditioneller Gesellschaftsordnungen darstellt. Während der gegenwärtige Zeitgeist das Opfer als barbarisch und rückständig betrachtet (oder es nur als individualistisches Mittel der Selbstoptimierung kennt), ist es für Eagleton von zentraler Bedeutung für Geschichte und Emanzipation der Menschheit. Der Autor verfolgt den Diskurs über Sinn und Praxis des Opfers vom Alten Testament über das antike Griechenland bis zum ultimativen Opfer der Kreuzigung von Jesus Christus, das in seiner Analyse als Signal eines Bündnisses von Gottes Sohn mit den 'Verdammten der Erde' präsentiert wird. Eagleton setzt sich mit einer Vielzahl von bedeutenden Stimmen auseinander - von Freud über Lacan, Derrida, Heidegger und Nietzsche bis zu ?i?ek, Marx und J.K. Rowling. In Betrachtungen und Meditationen über Tod und Eros, Ironie und (postmoderne) Beliebigkeit erforscht er die Bedeutung des Opfers und versucht, diese radikale Idee mit Politik und Revolution zu verbinden. Im Kapitel über 'Könige und Bettler' geht Eagleton der Figur des Sündenbocks quer durch die Jahrhunderte nach. Im Kapitalismus identifiziert er dabei das Proletariat als Sündenbock - und mit Karl Marx als revolutionäres Subjekt. 'Der Übergang vom Christentum zum Marxismus ist unter anderem ein Übergang von einer Vision der Armen als jene, die die Zukunft ankündigen, zu einem Glauben an sie als dem wichtigsten Mittel zu ihrer Erreichung.' Eagleton spricht sich dafür aus, dem Leben durch Aufopferung für die Geknechteten wieder einen Sinn zu geben.

Terry Eagleton, geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden. Zuletzt erschien von ihm bei Promedia: 'Materialismus. Die Welt erfassen und verändern' (2018).

Terry Eagleton, geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden. Zuletzt erschien von ihm bei Promedia: "Materialismus. Die Welt erfassen und verändern" (2018).

Kapitel Eins: Radikales Opfer


Das Opfer war nicht die bezauberndste aller Vorstellungen in der Neuzeit; es ist ein Zeichen von Selbsterniedrigung und repressiver Entsagung. Leidgeprüfte Ehefrauen tun es für ihre herrschsüchtigen Ehemänner, Dienstmädchen für ihre verwöhnten Herrinnen, Krankenschwestern und Stahlarbeiter zum Wohle der Wirtschaft und Sturmtruppen für das Vaterland. Eine erschöpfte Mutter in Edward St. Aubyns Roman Muttermilch, deren Leben in Trümmern liegt und deren Wünsche unerfüllt geblieben sind, spricht von der »Tyrannei der Selbstaufopferung«. Der Begriff riecht nach Masochismus, Selbsthass und einer krankhaften Antipathie gegen das, was das Leben ausmacht. Das Opfer beginnt als Versuch, einen wilden Gott zu besänftigen und gipfelt im Ruf des faschistischen Vaterlandes mit seinen nekrophilen Riten und Zeremonien der Selbstaufopferung. J.M. Coetzee schreibt in Leben und Zeit des Michael K. darüber, wie jemand einfach »ein weiterer Stein in der Pyramide des Opfers [sein kann], die irgendwer schließlich besteigen würde, um sich breitbeinig oben hinzustellen, brüllend und an die Brust schlagend und als Kaiser ausrufend von allen, die er überblickte.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Denker, von dem manchmal fälschlicherweise gedacht wird, er würde die menschliche Natur mit Optimismus betrachten, schreibt: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.«1

Die gängige liberale Meinung hält Selbstverwirklichung und Selbstentzug im Wesentlichen für unvereinbar. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichtig verfahren, um davon auszugehen, dass das Selbst zum Tragen kommen kann, ohne die grundlegende Zerschlagung und Umgestaltung, deren traditionelles Zeichen das Opfer war. Das wäre gleichbedeutend mit der Behauptung, dass sich die Formen des politischen Lebens, die wir um uns herum sehen, ohne nennenswerte Turbulenzen zu einem Zustand der Gerechtigkeit entwickeln könnten. Jene, die dem Opfer die Liebe entgegenhalten, vergessen, dass jede dauerhafte Version der letzteren die für die erstere typische Selbsthingabe einschließt. Tatsächlich gibt es eine Art von Opferliebe, die darin besteht, Gewalt gegen das Selbst auszuüben. Die Aufgabe beruht nun darin, diese todbringende Ideologie abzulehnen und gleichzeitig mit Hegel anzuerkennen, dass im fruchtbareren Sinne des Wortes die innere Struktur der Liebe auf jeden Fall Opfer erfordert – wobei wir von gegenseitiger Hingabe sprechen, nicht von der erbärmlichen Kapitulation eines Partners in die Herrschaft des anderen. Wie es eine Beobachterin ausdrückt, sind »Opfer und Entsagung kein Selbstzweck, sondern wesentlich dafür, das eigene [Selbst] zu vergessen, wenn man den anderen liebt«.2 »Vergessen« ist eine fragwürdige Behauptung, denn die Liebe stärkt das Selbst, indem es das Selbst dezentriert. Dennoch korrigiert eine solche Einstellung die modische Ansicht, dass das Opfer notwendigerweise eine Form der Selbstverstümmelung ist.

Diese orthodoxe Lehre hat das Konzept des Opfers fast einstimmig als barbarisch und rückständig abgelehnt. Im Anschluss an Thomas Hobbes, für den die Selbsterhaltung die höchste moralische Pflicht ist, behauptet Ronald Dworkin, dass sich die Verantwortung für andere nicht auf übermäßige Selbstaufopferung erstrecken kann, da die Hauptverantwortung dem eigenen Leben gilt. Diese Art von Ethik eignet sich gut für das Leben im bürgerlichen Vorort. Nach Ansicht von Dworkin besteht zwar eine moralische Verpflichtung, anderen zu helfen, aber nur, wenn sie mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert sind, keine zu hohen Kosten für die Leistungen entstehen und jene, die eine solche Hilfe benötigen, davon abhängig sind, dass im Speziellen Sie diese leisten.3 In ähnlichem Sinne lehnt John Rawls die Idee des Opferns für das Wohl der Allgemeinheit ab und leugnet, dass ein Verlust der Freiheit für die Wenigen durch das Wohl der Vielen gerechtfertigt werden kann.4 Jürgen Habermas behauptet, dass die »Vernunftmoral die Abschaffung des Opfers besiegelt«, wobei er zweifellos erschlagene Ziegen und nicht die Toten der französischen Résistance im Sinn hat.5 Wenn der Begriff »Opfer« zur Diskussion steht, wendet sich der moderne liberale Denker spontan Themen wie häuslicher Knechtschaft und dem Sterben für militärischen Ruhm zu – und nicht der Karriere von Constance Markiewicz oder dem Tod von Malcolm X.

Die Skepsis der Neuzeit gegenüber dem Opfer ist nirgendwo deutlicher zu erkennen als in ihrem unklaren Verständnis des Begriffs. Im Großen und Ganzen steht er für die freiwillige Aufgabe dessen, was man als wertvoll erachtet. Aber der Verzicht ist nur eine Funktion des Opfers und nicht immer die wichtigste. Es stimmt, dass er in der Praxis eine wichtige Rolle spielen kann. In seiner klassischen Studie Die Anfänge der Cultur argumentiert der viktorianische Anthropologe Edward Burnett Tylor, dass die Opfergabe von den Göttern nicht für das Opfer selbst, sondern als Zeichen dafür geschätzt wird, dass der Gläubige etwas Wertvolles aufgegeben hat. Das Geschenk muss Teil der eigenen Substanz sein, sodass die Übergabe einen gewissen Preis erfordert.6 Es ist jedoch nicht selbstverständlich, dass es beim rituellen Opfer in erster Linie um Verzicht geht. Man kann ein gemästetes Kalb opfern, nicht weil man sich seines besten Tieres berauben will, sondern um den Göttern den kostbarsten Tribut zu zollen, den man aufbringen kann. Das Opfer lässt sich nicht auf Kasteiung reduzieren. Der Begriff ist vielschichtig – und zwar so vielschichtig, dass ein herausragender französischer Wissenschaftler daran zweifelte, ob der Begriff überhaupt eine große Bedeutung hat.7 Auch David Janzen stellt die Möglichkeit einer allgemeinen Opfertheorie in Frage. Er besteht darauf, dass sich die Bedeutung dieser Institution von einem kulturellen Kontext zu einem anderen verschiebt (tatsächlich von einem Buch der hebräischen Bibel in ein anderes), und er wirft René Girard, dem Doyen der Opfertheorie, vor, diesen wichtigen Punkt zu übersehen.8

Das alte Israel hatte Namen für verschiedene Formen von Opfern, aber keinen Namen für die Institution als solche. Dieser Brauch, der seit Anbeginn der Zeit eine erstaunliche Vielfalt an Funktionen erfüllt hat, weist keine erkennbare Essenz auf. Er kann alles sein – von einer Form der himmlischen Bestechung9 (»Ich gebe dir das, wenn du mir das gibst«) bis hin zum Martyrium, bei dem man anderen den eigenen Tod schenkt. Opfer ist ein polythetischer Begriff und bezeichnet eine Reihe von Tätigkeiten, die keine gemeinsamen Merkmale haben müssen. Zu verschiedenen Zeiten verstand man darunter Geschenk, Tribut, Schwur, Gebet, Handel, Dankbarkeit, Sühne, Anbetung, Schmeichelei, Feier, Entschädigung, Wiedergutmachung, Heiligsprechung, Versöhnung, Gemeinschaft, Kameradschaft, Reinigung und die Tilgung von Schulden. Das Opfer kann ein erlösender Tod sein, eine Austreibung des Bösen, eine Weigerung zu sterben10, ein Dialog mit der Gottheit, eine Wiederherstellung der kosmischen Ordnung oder eine kluge Investition, mit der man eine profitable Rendite erzielt. Manche betrachten es als Initiationsritus oder als Stärkung der patriarchalischen Macht, während andere in ihm eine Quelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts, eine Freisetzung von Lebensenergie, ein rituelles Durcharbeiten von Schuld und Trauma oder eine Form der Trauer gefunden haben. Giorgio Agamben sieht in ihm eine Möglichkeit, einem grundlosen gesellschaftlichen Dasein einen Ursprung und eine Grundlage zu geben.11 Walter Burkerts Homo Necans bestimmt das Opfer unter anderem als eine Form der rituellen Sühne für das Töten von Tieren.12 Ebenso wurde der Brauch als Versuch verstanden, die Aufmerksamkeit der Götter zu gewinnen, als eine Geste des Gehorsams gegenüber dem moralischen Gesetz oder dem sozialen Verhaltenskodex oder als Zeichen der Zugehörigkeit zur Nation. Während einige Denker in solchen Riten den Versuch ausmachen, den Göttern näher zu kommen, gelten sie für andere als das Bestreben, diese abzuwehren.

Für das psychoanalytische Denken entsteht das Subjekt zuvorderst durch die aufopfernde Unterdrückung des Selbst, indem es seine jouissance13 gegen eine fragile Autonomie eintauscht. Aber das Opfer kann auch als eine hinterhältige Weise angesehen werden, das Selbst zu stärken, indem man eben dieses Selbst schwächt, wie Max Horkheimer und Theodor Adorno in der Dialektik der Aufklärung darlegen.14 Die Menschheit, so argumentieren sie, kann die Herrschaft über die Welt umso effektiver ausüben, je gewaltsamer sie ihre eigene innere Natur zerstört. Horkheimer und Adorno beschreiben das rituelle Opfer als einen heuchlerischen Trick, um die olympischen Götter zu beschwatzen und zu täuschen. Mit dem Opfer lässt sich auch das Wesen für jene Preisgabe entschädigen, die die Voraussetzung für die menschliche Subjektivität ist. In seinen Vorträgen über Hegel interpretiert Alexandre Kojève den Philosophen so, dass das menschliche Subjekt alles opfert, alles riskiert, sogar das Leben,...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2020
Übersetzer Stefan Kraft
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Bibel • Christentum • Freud • Jesus • Kreuzigung • Lacan • Marxismus • Opfer • Opferritual • Opferritus • Psychoanalyse • Sündenbock • Theologie • Zizek
ISBN-10 3-85371-880-9 / 3853718809
ISBN-13 978-3-85371-880-3 / 9783853718803
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