Jonny Appleseed (eBook)
272 Seiten
Albino Verlag
978-3-86300-303-6 (ISBN)
Joshua Whitehead, kanadischer Oji-Cree aus Manitoba, forscht als Doktorand über indigene Literatur an der Universität von Calgari. Sein Gedichtband Full-Metal Indigiqueer (2017) fand bei der Kritik große Beachtung. Jonny Appleseed (2018) ist sein erster Roman, für den er bereits mehrere Auszeichnungen erhielt, u. a. den Lambda Literary Award als bester Roman des Jahres.
Joshua Whitehead, kanadischer Oji-Cree aus Manitoba, forscht als Doktorand über indigene Literatur an der Universität von Calgari. Sein Gedichtband Full-Metal Indigiqueer (2017) fand bei der Kritik große Beachtung. Jonny Appleseed (2018) ist sein erster Roman, für den er bereits mehrere Auszeichnungen erhielt, u. a. den Lambda Literary Award als bester Roman des Jahres.
2
Als ich das Reservat verließ und nach Winnipeg zog, nutzte ich Grindr und Rez Fox, um Freunde zu finden – großzügige Freunde natürlich. Meine Wohnung war strahlend weiß – weiße Lampen, Wände, Decken, selbst die Toilette war weiß. Unsere Kloschüssel im Reservat war so alt, dass sie mokkafarben war, und der Deckel, der in meiner Kindheit zu Bruch gegangen war, wurde erst durch den meines Cousins ersetzt, nachdem er bei einem Unfall mit dem Schneemobil umgekommen war. Meine Mom motzte den Deckel mit einem flauschigen roten Bezug auf, den sie im Wal-Mart gekauft hatte. «Das hab ich mal im Marlborough-Hotel gesehen», sagte sie, «ich finde, das sieht echt edel aus.» Ein NDN-Bad ist ein Farbwirbel aus allen möglichen Quellen: Flohmärkte, Second Hand, Spenden. Als Kind war ich mal bei einem Familiengrillfest, wo ich mich mit den Erdnussbutter-Marshmallows meiner Kokum vollstopfte und meine älteren Cousins mir ein paar Gläser Bacardi 151 gaben, die in der Speiseröhre schrecklich gebrannt haben. Ich war elf Jahre alt und schon am frühen Nachmittag betrunken. Ich rannte aufs Klo meiner Kokum und kotzte ein ganzes Konfetti an Farben in die Schüssel – Rum, Erdnussbutter und zerkaute Marshmallows. Als ich fertig war, drückte ich ab, aber die Spülung funktionierte nicht. Ich geriet in Panik, öffnete den Wasserkasten und schaufelte die Kotze mit den Händen dort hinein. Wenige Tage später erzählte mein Onkel uns bei Tee und Kuchen, weil «irgendein betrunkener Volltrottel in den Wasserkasten gekotzt hat, wächst da jetzt Schimmel». Ich verspürte so etwas wie Stolz darauf, dass ich nun ‹dazugehörte›, wurde aber trotzdem rot.
Auf Grindr fand ich haufenweise Männer in Winnipeg, und alle trugen sie lustige Namen wie Fotohomo und Nudedude, wie Figuren aus einem Kinderbuch von Dr. Seuss. Überall nackte Oberkörper, und ratzfatz hatte ich eine ganze Sammlung von Schwanzbildern. Ich fand, dass die Jungs sich eine Scheibe von meinen künstlerischen Selfies abschneiden könnten, auf der Welt gibt es schließlich noch mehr als Pfirsich- und Auberginen-Emojis. Auf allen Profilen stand «will mit dir chatten» und «Diskretion Voraussetzung», und ich fragte mich, was Diskretion denn mit Sexdates zu tun hatte.
Mein erstes Sexdate mit einem Typen fand auf der Party eines Freundes im Reservat statt. Der Typ war ein großer, weißer Junge, der mit einem NDN-Freund gekommen war, der ihn hereingeschleust hatte und als eine Art Vermittler auftrat, damit die Rüpel ihm nicht den Arsch versohlten. Er trug Hemd und Krawatte und erzählte allen, dass er Psychologie studierte. Sein Kumpel fing an, mit einem der Mädels aus dem Reservat zu flirten, und setzte ihn in eine Ecke, wo er belämmert hockte und wie ein Aufpasser wild hin und her blickte. Er hatte lange, knochige Finger, fast wie ein Gerippe, und die Haare waren zurückgekämmt und klebrig vom Gel. Ich wollte ihm schon sagen, dass er das mit Bärenfett besser hinbekäme, aber an seinem dünnen Twink-Körper konnte ich ablesen, dass er nichts anfassen würde, was irgendwie mit Fett zu tun hatte. Er saß still da, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellbogen wie an den Flanken festgeklebt, und nippte an seinem Rotwein, während er den Blick durch den Raum wandern ließ. Wie dumm, dachte ich, zu so einer Party Wein mitzubringen – da hätte er sich gleich ein Schild umhängen können: «Ich gehöre hier nicht hin.» Ich beobachtete ihn aus der Ferne, und auch meine Freundin Tasha musterte ihn. «Der ist echt süß, oder?», sagte sie. «Den werd ich mir nachher krallen.» Du bist noch blöder, als du aussiehst, Tasha, der Typ ist stockschwul. Er wackelte nervös mit dem Fuß; es sah aus wie ein zuckender Fischschwanz. Ich hatte Mitleid mit ihm, schnappte mir eine Dose Coors Light und setzte mich ihm gegenüber.
«Vielleicht lässt du das mit dem Wein mal besser und trinkst das hier», sagte ich und öffnete die Dose. «Und nimm in Dreigottesnamen den blöden Schlips ab.»
Er sah mich eine Sekunde lang fragend an, die Augen glasig von dem seltsamen Hunger, den wir beide spürten. Er löste seine knochigen Finger und lächelte mich an. Seine Zähne wiesen rosa Weinflecken auf, um die Lippen zeichnete sich schwach ein roter Ring ab. Wie zum Teufel hatte er das nur gemacht? Hatte er das Gesicht auf das Glas gedrückt und den Wein geschleckt wie eine Katze ihr Wasser? Ich nahm das als Zeichen Manitos, dass dieser Mann auf Rimmen stand.
«Danke», sagte er. «Von diesem Wein kriege ich Bauchweh.»
«Willst du ’ne Tablette?»
«Oh nein, danke, ich nehme keine Arzneimittel, wenn es nicht wirklich nötig ist, wegen der Superbazillen, weißt du. Ich will keine Immunität entwickeln.»
«Klar doch, Kumpel», sagte ich, «und deswegen kippst du den Wein, als wäre es Medizin.»
Er lachte, und ich verdrehte die Augen – ich würde ihm bestimmt keinen Tee aus Oshawurzel als Alternative anbieten.
«Wo kommst du her?», fragte ich.
«Aus Kitchener.»
«Aha, ist das in der Nähe der Hauptstadt?»
«Nicht wirklich, das sind ein paar Stunden mit dem Auto.»
«Nimmst du mich mal mit?», fragte ich spaßeshalber.
«Nun ja, klar doch, wenn du mal in der Gegend bist, sag Bescheid.»
Da wusste ich, dass ich ihn an der Angel hatte – ich konnte sehen, dass er schon einen Ständer bekam, wenn er nur von der Hauptstadt redete. Er erzählte mir, dass er an der McMaster studierte, berichtete von seinen Kursen und erklärte mir den Bystander-Effekt.
«Es gab eine Studie, wo Forscher in einer kontrollierten Umgebung einen Notfall nachstellten und Statisten dafür bezahlten, einfach weiterzugehen und keine Hilfe zu leisten», sagte er.
«Und warum das?»
«Um zu untersuchen, wie Menschenmengen auf Notfallsituationen reagieren – die bezahlten Statisten gehen vorbei, und das überträgt sich auf andere, und so entsteht der Bystander-Effekt.»
Mir erschien diese Hypothese nicht sonderlich bahnbrechend – er war offenbar noch nie im North End von Winnipeg gewesen. Aber mir gefiel, wie dieses Gespräch ihn zu beleben schien, wie sein ganzer Körper sich mir zuwandte wie der Zweig einer Zeder. Mir gefiel, wie sein Mund sich um die Worte herum bewegte, als würde jedes seiner Worte mit einem O beginnen, sein Mund wurde selbst ein großes O, und sein Atem ging keuchend; seine Lippen waren feucht von Spucke, und wenn man seitlich schaute, erinnerten seine Grübchen an Arschbacken. Ich wollte ihn öffnen, seine Haut spreizen und in ihn hineinkriechen, damit ich so tun könnte, als ob ich hochtrabende Begriffe wie Dendrit, Placebo oder Effektgesetz begriffen hätte – ich kannte dieses Gesetz nicht, aber dafür ein paar andere ziemlich gut, die von eins bis elf nummeriert waren*. Als er vom Neocortex sprach, fragte ich mich, ob das der Teil des Gehirns war, mit dem ich ihn wahrnahm. Der einzige Cortex, den ich kannte, war eine Figur aus dem Videospiel Crash Bandicoot – vielleicht redeten wir ja darüber?
Er laberte weiter, und ich berührte sein Knie mit meinem. Seinen Redefluss störte das nicht, aber ich spürte, wie er die Berührung erwiderte und mit seinem Knie ganz langsam meine Beine spreizte, als würden wir ohne Sattel auf einem Pferd reiten. Als mein Blick von seinem Mund zu seinem Knie wanderte, sah ich den Umriss seines Schwanzes, der unter der engen Jeans auf seinem Schenkel lag – wie ein Steak, das darauf wartete, gebraten zu werden. Er bemerkte meinen Blick; seine Augen waren mittlerweile blutunterlaufen vom Zigarettenrauch. Auf einmal bekam ich Angst. Sein Körper wirkte jetzt gar nicht mehr schüchtern, und die roten Augen erinnerten mich an die Geschichten vom Wendigo, die meine Kokum mir erzählte hatte, wenn ich nicht brav gewesen war.
Er stand auf und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir bahnten uns den Weg durch eine Gruppe Indigener, die sich an der Tür drängten. Man traf überall welche, sie rauchten wie ein Schlot und benahmen sich wie die gottverdammte NDN-Polizei: «Wer bist du?» – «Wo kommst du her?» – «Wen kennst du?» Am besten bringt man immer gleich den Ausweis und die Liste seiner biologischen Attribute mit, wenn man eine Party in einem Reservat besuchen will. Er ging die Treppe hinunter, als würde er sich auskennen, und ich folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand. Er schlüpfte in den Wäscheraum in der hintersten Kellerecke, und ich ging ihm nach. Der Zementboden war uneben, fühlte sich unter meinen Fußsohlen aber erfrischend kühl an. Er zündete sich eine Kippe an und stand vor mir, kaum sichtbar im Schein der Zigarette. Der Raum hatte keine Tür und war nur mit einem Laken abgehängt, und es lag eine Menge Schmutzwäsche herum, vieles davon von einem Baby und anderes von einem kleinen Kind. Er schob alles auf einen Haufen und setzte sich darauf, um sein Hemd aufzuknöpfen. Seine Brust war eine Tundra bis auf ein paar vereinzelte dunkle Härchen. Ich kam näher und ging vor ihm in die Knie, berührte seine Nase mit meiner, ehe seine Lippen nach meinen suchten. Er hob mein Shirt an, und mein Bauch war nackt in der Dunkelheit. Seine Finger folgten der Ameisenspur meiner Schamhaare, und sein Zeigefinger versank in einer Kuhle meines Beckens.
«Und wenn jemand reinkommt?», fragte ich und hielt ihn auf. Mein Körper war schweißnass, und das war mir peinlich – ich wollte beim Sex nicht glitschig wie ein Aal sein.
«Hier kommt keiner runter», erwiderte er großspurig. Wie zum Teufel willst du das wissen, dachte ich, du bist doch zum ersten Mal hier.
«Jede Menge Leute kommen her, um rumzumachen, deswegen liegt die ja hier.» Ich wies mit dem Kinn auf die Matratze in der Ecke.
Er seufzte, stand auf und lehnte die Matratze vor den Eingang.
«So, wenn jemand kommt, gibt uns das ein paar...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2020 |
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Übersetzer | Andreas Diesel |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | First Nation • Homosexualität • Indianerreservat • Indigene Literatur • Oji-Cree • Online-Sex • Prostitution • Schwul • Two-Spirit |
ISBN-10 | 3-86300-303-9 / 3863003039 |
ISBN-13 | 978-3-86300-303-6 / 9783863003036 |
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