Wir brauchen eine neue Ostpolitik (eBook)

Russland als Partner
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2297-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir brauchen eine neue Ostpolitik -  Matthias Platzeck
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Russland und Deutschland haben sich entfremdet, eine neue Ost-West-Konfrontation ist ausgebrochen. Matthias Platzeck fordert daher nichts weniger als eine neue Ostpolitik: Wieder geht es darum, 'Gräben zu überwinden, nicht zu vertiefen' (Willy Brandt) - denn der Frieden ist in Gefahr wie nie zuvor. Das deutsch-russische Verhältnis gleicht einem Scherbenhaufen: Die Hoffnung auf Entspannung - mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schon zum Greifen nah - hat sich 30 Jahre später zerschlagen, Russland ist wieder zum Feindbild geworden. Matthias Platzeck, den Russen und ihrem Land von Kindheit an verbunden, engagiert sich für einen Dialog auf Augenhöhe: Deutschland sollte Russland endlich als Partner akzeptieren und dessen Interessen ernst nehmen. Für diesen Perspektivwechsel muss man nicht mit allem einverstanden sein, was in Moskau passiert. Aber es hilft das Eingeständnis, dass auch der Westen in den vergangenen Jahrzehnten entscheidende Fehler begangen hat.

Matthias Platzeck, geboren 1953 in Potsdam, engagierte sich in der DDR in der Umweltbewegung, war Minister der Regierung Hans Modrow, wechselte 1995 zur SPD, die ihn 2005 zu ihrem Vorsitzenden wählte. 1998 bis 2002 war er Oberbürgermeister von Potsdam. Von 2002 an war Platzeck elf Jahre lang Ministerpräsident von Brandenburg. Er ist Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und leitet die Kommission '30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit' der Bundesregierung.

Matthias Platzeck, geboren 1953 in Potsdam, engagierte sich in der DDR in der Umweltbewegung, war Minister der Regierung Hans Modrow, wechselte 1995 zur SPD, die ihn 2005 zu ihrem Vorsitzenden wählte. 1998 bis 2002 war er Oberbürgermeister von Potsdam. Von 2002 an war Platzeck elf Jahre lang Ministerpräsident von Brandenburg. Er ist Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und leitet die Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" der Bundesregierung.

Kind der DDR


Herkunft und Heimat prägen ein Leben lang. Auch mir und Millionen anderen, die in der DDR sozialisiert wurden, geht es so. Wer in den vier Jahrzehnten DDR zwischen Ostsee und Erzgebirge aufgewachsen ist, für den war das Land sein Zuhause und der ist nun einmal, wie ich, Ostdeutscher. Die ostdeutsche Identität ist sozusagen ein Teil meiner genetischen Grundausstattung, etwas, das man nicht einfach aus den Kleidern schütteln kann. Das bleibt fürs Leben.

Ich bin in Potsdam groß geworden, ganz in der Nähe der Glienicker Brücke, die durch die spektakulären Agententransfers seit den Sechzigerjahren weltweit bekannt wurde. Als Walter Ulbricht 1961 die Mauer bauen ließ, wurde die Glienicker Brücke Teil des Grenzrings um West-Berlin. Obwohl ich damals erst sieben Jahre alt war, bekam ich ganz bewusst mit, dass nun bei uns eine geschlossene Grenze war: Die Badestelle am Potsdamer Ufer vor der Brücke, an der wir oft gewesen waren, gab es auf einmal nicht mehr, denn auf der anderen Seite, in Schwimmweite, lag der Westen – Feindesland.

Die »Brücke der Einheit«, wie das im Krieg zerstörte Stahlbauwerk nach dem Wiederaufbau 1949 hieß, sprach ihrem Namen von Anfang an Hohn. Seit 1952 war der weiße Grenzstrich genau in der Mitte der Brücke nur noch mit einem Sonderausweis zu passieren. Seit 1961 war die »Brücke der Einheit«, die übrigens noch heute eine zweigeteilte Farbgebung hat, in Potsdam das Symbol der Trennung. Hier aufzuwachsen, im Schatten einer Brücke, die nichts anderes als eine Mauer war – auch das gehört zu den prägenden Erfahrungen in meinem Leben.

In meiner Heimatstadt, in einem behüteten Elternhaus in der Berliner Vorstadt, durfte ich eine Kindheit in der DDR erleben, die unbeschwerter kaum sein konnte. Ein großer Garten hinter dem Haus, der bis ans Wasser führte, ein Steg, ein Ruderboot – unser Zuhause war ein traumhafter Ort für Kinder. Vom Ufer fiel der Blick auf das Kleine Schloss im Babelsberger Park, den der große preußische Gartenarchitekt Peter Joseph Lenné, später auch der »grüne Fürst« Hermann von Pückler-Muskau gestaltete, und auf den von weither sichtbaren Flatowturm. Eine idyllische Umgebung, wie sie einem in der Potsdamer Kulturlandschaft an den Havelseen auf Schritt und Tritt begegnet. Im sozialistischen Potsdam der Fünfziger- und Sechzigerjahre, aber auch danach, war noch immer etwas vom Glanz der preußischen Könige zu spüren. »Daß gantze Eylandt mus ein paradis werden«, hatte Johann Moritz von Nassau-Siegen, ein leidenschaftlicher Landschaftsgestalter, dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg geraten, als dieser 1660 Potsdam – nach Berlin – zu seiner zweiten Residenz machte. Dieses Paradies ging auch in der Tristesse der DDR nie ganz verloren.

An diesem besonderen Ort lebten wir im Osten des geteilten Deutschlands ein Leben, das für mich wie für viele andere Menschen in der DDR über Jahrzehnte vor allem eines war: ganz normal. Kindheit und Schule, Studium und Beruf, Kollegen, Nachbarn, Freunde, Partnerschaft, Kinder und Enkel. Ein Leben mit Hoffnungen und Enttäuschungen, mit Leid und Freud, wie es Menschen anderswo auch kennen. Die meisten Ostdeutschen erkennen ihr Leben in den Geschichtsbüchern heute streckenweise nicht wieder.

»Als die DDR-Vergangenheit, wie sie sich in den Akten darstellte, ab 1990 öffentlich erzählt wurde, staunten die meisten Ostler«, resümiert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk achtundzwanzig Jahre nach dem Ende der DDR: »Diese Geschichte von Leid, Opfern, Unterdrückung und Widerstand … es war nicht ihre Geschichte.«4 Auch ich finde meine Erfahrungswelt zwischen 1953 und 1989 in diesem Schwarz-Weiß-Bild nicht richtig beschrieben. Das Leben im sozialistischen Einheitsstaat hatte sehr viel mehr Schattierungen, war wesentlich nuancenreicher und ambivalenter. System und Staatssicherheit gehörten, auch wenn sie mitunter »beiläufig« waren, natürlich immer dazu – auch das muss man sich vergegenwärtigen. Viele haben sehr unter dem Regime gelitten. Und doch erschöpften sich die Daseinsmöglichkeiten in der DDR nun wirklich nicht darin, nur »Täter« oder »Opfer« zu sein: »Die meisten waren weder das eine noch das andere, viele aber beides«, urteilt Kowalczuk. Die im Westen Deutschlands verbreitete Ansicht, die Bürgerinnen und Bürger der DDR seien allezeit nichts als Opfer des Systems gewesen, lehnen die Ostdeutschen fast durchweg ab – zu Recht, wie ich meine.

Zur ostdeutschen Normalität gehörten auch die sowjetischen Soldaten mit ihren Angehörigen und Zivilbeschäftigten. In der DDR waren die sowjetischen Truppen mit ungefähr einer halben Million Menschen – davon mehr als 300 000 in Uniform – im gesamten Land präsent. Sie waren Teil des Alltags, obwohl Kontakte zu den weitgehend separiert lebenden Truppen trotz offizieller deutsch-sowjetischer Freundschaft nicht erwünscht waren. Und doch gab es mit der »Bruderarmee« immer Berührungspunkte, nicht nur die staatlich inszenierten, sondern auch private. In Potsdam, wie in anderen Städten mit einer sowjetischen Garnison auch, blieb es den Menschen nicht verborgen, wie schlecht die Militärdienstleistenden der sowjetischen Armee behandelt wurden. Deren Lebensbedingungen waren – anders als die der Offiziere – geradezu erbärmlich. Mitleid war daher besonders in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR oft die überwiegende Empfindung in der Bevölkerung gegenüber den meist sehr jungen Soldaten, die ihren drei-, später zweijährigen Armeedienst fern der Heimat ableisteten.

Die Standortdichte im damaligen Bezirk Potsdam war die höchste in der DDR. In der Stadt selbst, seit dem frühen 18. Jahrhundert durch den »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. preußisch-militärisch vorgeprägt, waren gleich mehrere Truppenteile der sowjetischen Streitkräfte untergebracht. Mitten in Potsdam hatten die Sowjets sogar einen eigenen, von einer Mauer umgebenen Stadtteil, in dem die Deutschlandzentrale der militärischen Spionageabwehr mit Gerichtsbarkeit und dem Untersuchungsgefängnis Leistikowstraße, heute eine Gedenk- und Begegnungsstätte, untergebracht waren. Die Mauer um dieses sogenannte »Militärstädtchen« fiel übrigens erst 1994.

Die Russen waren aus dem Stadtbild also nicht wegzudenken, ich bin mit ihnen groß geworden – auch sie gehören zu den prägenden Bestandteilen meiner Biografie. Nicht weit von unserem Haus residierte die sowjetische Kommandantur, eine Straße weiter funkte der Soldatensender Radio Wolga. Mit Murat, einem der Schäferhunde der sowjetischen Offiziere, verstand ich mich gut. Der Russenladen, das »Magazin«, war um die Ecke. Auch wir nutzten es zum Einkauf, weil es etliche sonst kaum erhältliche Waren anbot. Später gewann es für mich und meine Freunde noch mehr an Bedeutung, denn im »Magazin« gab es tschechisches Bier. Wer das gewöhnliche DDR-Bier kennt, kann sich vorstellen, wie willkommen uns diese Beschaffungsmöglichkeit war.

Noch heute habe ich den ganz eigentümlichen Geruch des Kraftstoffs in der Nase, mit dem die Russen ihre Fahrzeuge betankten, und noch heute bekomme ich Heimatgefühle, wenn ich ihn rieche. Heimat, sagt man, ist da, wo Erinnerung sich auskennt. Christa Wolf würde von »Kindheitsmustern« sprechen.

Hinzu kam eine »zivile« Prägung durch die russische Kultur. Ich hatte das Glück, eine überaus kluge Lehrerin zu haben, die nicht nur die russische Sprache unterrichtete, sondern auch mein Interesse an Filmen, Büchern und Musik aus dem großen Land im Osten weckte. Ich konnte daraus für mein Leben viel Gutes und Schönes gewinnen. Die sowjetischen Filme, die in den Siebzigerjahren in unseren Kinos liefen, habe ich mit Begeisterung – oft mehrmals – geschaut. Wassilij Schukschins Kalina Krasnaja – Roter Holunder gehörte dazu und Alexander Mittas Leuchte, mein Stern, leuchte. Es sind Filme, die für das Leben bleiben und die gerade in einem jungen Menschen etwas bewegen können. Der in Dresden aufgewachsene Jan Josef Liefers erinnert sich in seiner Autobiografie Soundtrack meiner Kindheit, wie er nach einer Aufführung von Leuchte, mein Stern, leuchte noch im Dunkel des Kinosaals den Entschluss fasste, Schauspieler zu werden.5

Die Erzählungen Jurij Trifonows, seine Moskauer Novellen etwa oder Das Haus an der Uferstraße, gehören ebenso wie die unvergänglichen Kompositionen von Dimitrij Schostakowitsch bis heute zu meinen wichtigen Kultur- und auch Lebenserfahrungen. Beider Leben und Werk ist eng mit der sowjetischen Geschichte und Gesellschaftsentwicklung verbunden – Schostakowitsch wie Trifonow haben den Terror Stalins, das Tauwetter der Chruschtschow-Zeit und die Stagnation unter Breschnew erlebt. Mich regten sie auch zum Nachdenken über die eigene Gesellschaft an und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der DDR.

In der Folge setzte in den späteren Siebzigerjahren bei mir eine zunehmende Ernüchterung über die gesellschaftlichen Verhältnisse im real existierenden Sozialismus ein. Sie nahm ihren Anfang mit der...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Atomwaffen • Besatzung • Brandt • Brandt, Willy • Egon Bahr • Frieden • Kalter Krieg • Kretzschmer • Krimkrise • Moskau • Nawlny • Opposition • Ostpolitik • Petersburger Dialog • Putin • Sanktionen • Sicherheitspolitik • Sowjetunion • Stalin • Willy
ISBN-10 3-8437-2297-8 / 3843722978
ISBN-13 978-3-8437-2297-1 / 9783843722971
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