Stille Post (eBook)

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2020 | 1. Auflage
432 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2308-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stille Post -  Christina von Braun
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Christina von Brauns berührende Familiengeschichte wurde von der Kritik als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Art des Erinnerns gefeiert. Viele Leserinnen und Leser fanden sich darin wieder. Im Zuge der Me-too-Debatte ist Stille Post aktueller als je zuvor. Die Männer der Familie von Braun schrieben Geschichte: Christina von Brauns Vater war Diplomat. Ihr Großvater Magnus von Braun der erste Reichspressechef. Ihr Onkel der Raketenpionier Wernher von Braun. Wo aber blieben die Frauen? In den Tagebüchern und Briefen erkundet die Autorin die Lebensgeschichten ihrer Vorfahrinnen: Großmutter Hildegard Margis, Frauenrechtlerin und Unternehmerin der ersten Stunde, wird 1944 von der Gestapo wegen ihrer Kontakte zum Widerstand verhaftet. Wenig später stirbt sie im Gefängnis. Hilde, ihre Tochter, verschlägt es während des Krieges in den Vatikan, wo sie sich in eine tragische Affäre verstrickt und daran beinahe zerbricht. In einem neuen Nachwort beschreibt Christina von Braun, wie patriarchalische Denkstrukturen noch heute wirken und welche Kraft es braucht, sich aus ihnen zu lösen.

Christina von Braun, geboren 1944 in Rom, drehte etwa 50 Filmdokumentationen und verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. 1994 wurde sie an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Sie war Gründungsdirektorin und langjährige Leiterin des ersten Studiengangs Gender Studies in Deutschland und ist Senior Research Fellow des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. 2013 erhielt Christina von Braun den Sigmund-Freud-Kulturpreis.

Christina von Braun, geboren 1944 in Rom, drehte etwa 50 Filmdokumentationen und verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. 1994 Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, 1996 Gründerin und langjährige Leiterin des ersten Studiengangs Gender Studies in Deutschland, 2012 Gründungsleiterin und heute Senior Research Fellow des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. 2013 erhielt Christina von Braun den Sigmund-Freud-Kulturpreis.

PROLOG

Von meinem Bett aus, im Dunkeln, sehen die beiden kleinen Lichter an meinem Laptop so aus wie die Lichter vom Bergdorf, die ich durch das Fenster sehen kann. Das Dorf liegt ungefähr sieben Kilometer entfernt, Luftlinie. Aber wir befinden uns in den Cevennen, und für die Strecke von dort zu uns braucht der Elektriker mindestens vierzig Minuten. Er muss über Serpentinen von seinem Berg herunterfahren, dem vertrockneten Flussbett in einem gewundenen Tal folgen, um auf der anderen Seite, an unserem Berg, über Serpentinen wieder hinaufzufahren. Es muss schon wirklich etwas geschehen, damit er den Weg zurücklegt. Dass der Boiler durch Blitzschlag durchgebrannt ist zum Beispiel. Allerdings kommt er nicht ungern. Es gibt auf dem Berg hinter unserem Haus eine heilige Quelle, die auf einem der alten Pilgerwege nach Santiago de Compostela liegt. Manchmal, bei anhaltender Trockenheit, machen sich die Leute aus der Umgebung auf den Weg und vollziehen dort geheimnisvolle Rituale. Damit es wieder regnet, müssen sie dreimal um den Brunnen gehen und dabei Gebete sprechen. Unser Elektriker ist frommer Christ – keine Reparatur ohne ein wenig Mission, das ist im Preis inbegriffen. Aber wenn es um das Wasser geht, dann hält er sich doch gerne an die Bräuche der Alten. Vor der Dürre hat er Respekt – und vor den gewaltigen Gewittern in der Gegend. Gehen Sie mal über die Friedhöfe, so sagt er, und schauen Sie sich die Grabsteine an. Bei jedem zweiten steht: foudroyé! Vom Blitz erschlagen! Vielleicht ist er deshalb Elektriker geworden. Diese gewaltigen Entladungen von Strom. Dagegen muss man doch etwas tun, das will gebändigt und in ordentliche Leitungen verlegt werden.

Morgen will ich anfangen zu schreiben. Mein Laptop ist ausgepackt. Ich will über diese gewaltigen Entladungen von Strom und Wut erzählen, die gelegentlich von meiner Mutter ausgingen. Als Kinder hatten wir alle einen Höllenrespekt vor diesen Ausbrüchen. Und ich will von meiner Großmutter erzählen, die ich nicht mehr gekannt habe. Sie starb drei Monate, nachdem ich geboren wurde – in Berlin, im Gefängnis.

Diese Großmutter, Hildegard Margis, war der Anlass für dieses Buch. Es war nicht einfach, Genaueres über sie zu erfahren: Ihr Haus wurde zerbombt, ihre Möbel, Akten und Erinnerungsstücke kamen nach ihrem Tod zu meinen väterlichen Großeltern nach Schlesien und wurden dort später geplündert. Den Schmuck, die Akten, die sie in einem Safe der Dresdner Bank deponiert hatte, nahmen russische Soldaten mit. Meine Mutter, die wie ihre Mutter Hildegard hieß, besaß so gut wie nichts von ihr. Es kann aber auch sein, dass sie nichts aufbewahrt hat. Sie wollte ihre Mutter, glaube ich, gerne vergessen. Dennoch hat sie sie ihr Leben lang nicht losgelassen. Das muss ich schon als Kind gespürt haben. Mein Onkel Hans, der Bruder meiner Mutter, war der einzige Sohn meiner Großmutter und landete später in Australien. Die wenigen Unterlagen, die er über seine Mutter besaß, wurden vernichtet, als seine Farm in Flammen aufging. Eines der großen Buschfeuer, die immer mal wieder in Australien wüten. Es ist fast ein Wunder, dass ich überhaupt etwas über meine Großmutter herausfinden konnte. In den Berliner Archiven – Landesarchiv, Verlagsarchive, Siemensarchiv – fand ich schließlich ein paar konkrete Hinweise. Ich bin jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Erinnerungen an manche Menschen auch in Form von Schweigen oder als Rätsel festschreiben können.

Je mehr ich mich mit dem Leben meiner Großmutter beschäftigte, desto mehr interessierte mich auch das »Vorleben« der anderen Familienmitglieder. Ich begann, mich auch in die Tagebücher meiner Mutter zu vertiefen, die sie von 1944 bis 1949 – während ihrer Jahre im Vatikan – führte. Bis auf die letzten drei Jahre war mein Vater dabei, dann musste er sie mit ihren drei kleinen Kindern zurücklassen. Eine junge, attraktive Frau umgeben von Männern in langen schwarzen Soutanen! Die Tagebücher erzählen nicht nur von roten Kardinalshüten, prunkvollen Messen, sondern auch von einer hochheiligen Verwaltung, die sich Sorgen macht, wenn die Frauen im Hochsommer keine Strümpfe tragen. Die Vatikanischen Gärten, der Campo Santo Teutonico: begehrte touristische Orte. Für uns Kinder ein Spielplatz. Die Kinder, das waren meine ältere Schwester Carola, mein jüngerer Bruder Christoph, ich selbst sowie einige japanische und finnische Kinder, die Kinder der »Achsendiplomaten«. So nennt sie Hilde in ihren Tagebüchern. Ich war fünf, als wir dieses Paradies verließen, um nach Deutschland zu ziehen, in dieses Nachkriegsdeutschland, in dem wir ständig krank wurden. »Heimat« – das war ein Begriff, den ich mit der Sonne in den Vatikanischen Gärten verband, nicht mit diesem kalten, düsteren und zerbombten Deutschland. Irgendwie hat mich dieses Gefühl nie verlassen.

Bei meinem Umzug nach Berlin (die Bücher mussten neu eingeordnet werden, einige finde ich immer noch nicht) entdeckte ich, dass sich auch das Tagebuch meiner anderen Großmutter, Emmy von Braun, in meinem Besitz befindet. Wie es zu mir kam, weiß ich nicht mehr. Es muss mit dieser Materialsammlung zu tun gehabt haben, die ich seit Jahren betrieb, ohne es selbst zu merken. Als wir das Haus meiner Eltern auflösten, schoben mir die Geschwister alles zu, was mit den »inoffiziellen« Erinnerungen der Familie zu tun hat. Die »offiziellen« Erinnerungen – etwa der Stammbaum, den mein Großvater Magnus von Braun recherchiert und meine Großmutter in ein prächtiges Aquarell übertragen hatte – landeten bei meinem Bruder, dem Stammhalter. Aber die Tagebücher, diese zumeist eher verschwiegenen Erbschaften, die kamen zu mir. In diesem Tagebuch der Emmy von Braun tat sich noch einmal eine völlig andere Welt auf: Es enthält die Beschreibung – Tag für Tag – vom Ende des Krieges und von der Vertreibung meiner Großeltern von ihrem Gut in Niederschlesien. Warum hat Emmy von Braun diese Ereignisse, aber nicht die Jahre davor festgehalten? Ich konnte daraus nur schließen, dass das eigentliche »historische Ereignis« für sie nicht der Nationalsozialismus, sondern die Aussiedlung war. In den Memoiren meines Großvaters gibt es ein Kapitel mit der Überschrift »Nacht über Deutschland«, womit nicht etwa der Nationalsozialismus oder der Zweite Weltkrieg gemeint waren, sondern die Vertreibung. Der Untertitel des Kapitels lautet »Der Russeneinbruch«. Die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 finden in diesen Erinnerungen schlicht nicht statt.

In den Tagebüchern, Memoiren und Briefen wird deutlich, wie unterschiedlich in ein und derselben Familie »die Geschichte« erlebt werden kann. Gemeinsam ist den Mitgliedern meiner Familie nur, dass jedes dieser Leben von »der Geschichte« aus der Bahn geworfen und auf neue Wege gelenkt wurde. Als ich Anfang 2002 im Flugzeug nach Melbourne saß, um meinen Onkel Hans und seine Kinder zu besuchen, wurde mir plötzlich klar, dass meine nächsten Cousins und Cousinen alle entweder in Australien oder in den USA leben. Ich habe Geschwister in Deutschland, aber die Geschwister meiner Eltern sind ausgewandert, und deren Kinder wurden als Staatsbürger Australiens oder der USA geboren. Die Brüder meiner Eltern – es gibt keine Schwestern – sind durchweg aus Gründen, die mit dem Nationalsozialismus zusammenhingen, ausgewandert: Hans, der Bruder meiner Mutter, hatte 1936 dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken gekehrt und war nach London gegangen. Die Brüder meines Vaters, Wernher und Magnus, hatten das Dritte Reich so erfolgreich unterstützt, dass die USA auf die Zusammenarbeit mit ihnen nicht verzichten wollten.

Über meinen Onkel Wernher, den Raketenforscher, werde ich nur am Rande berichten. Meine Großmutter Hildegard Margis kannte ihn, hat sich – laut Aussage ihrer Haushälterin – gelegentlich mit ihm gestritten. Ich nehme an, über die Aussichten dieses Krieges. Über Wernher ist schon viel geschrieben worden, und ich könnte das Geschriebene höchstens um den Bericht meiner Begegnungen mit ihm, als Kind und als junge Frau, ergänzen. Ich habe ihn Mitte der 1950er-Jahre kennengelernt und danach noch oft erlebt – in Deutschland und in den USA. Meine Geschwister und ich haben ihn bewundert. Wir waren als Kinder stolz darauf, einen so berühmten Onkel zu haben. Außerdem hatte er ein großes Charisma und war warmherzig im Umgang mit Menschen. Ich fand beides in den Briefen, die er 1946 an seine Eltern schrieb, wieder. Erst als ich erwachsen war, begann ich mir darüber Gedanken zu machen, dass Wernher während der NS-Zeit nicht den Weltraum erobert, sondern ein Transportmittel für Waffen entwickelt hatte, die in London und anderen Städten Europas große Zerstörungen anrichteten. Dass KZ-Häftlinge, von denen viele dabei starben, zur Produktion dieser Waffen eingesetzt wurden. Der Historiker Mike Neufeld arbeitet seit vielen Jahren an einer umfangreichen Biografie über Wernher und über seine Verantwortung als Wissenschaftler. Von Neufelds Biografie, zu der ich einige Vorarbeiten kenne1, sind differenzierte Ergebnisse zu erwarten, mit denen ich nicht konkurrieren kann. Es ist auch nicht das Thema meines Buches. Ich erzähle hier nicht die Geschichte der Wissenschaft, sondern die privaten Geschichten von Menschen. Und ich habe mir, wenn nicht ausschließlich, so doch vor allem das Leben der Frauen meiner Familie vorgenommen.

Dass ich in der Nachfolge einer schwer zu ertragenden deutschen Geschichte stehe, war mir allerdings schon früh bewusst geworden. Mit neun Jahren kam ich in England in die Schule: Da wurde »die Geschichte«...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Berlin • Briefe • Diplomatie • Emanzipation • Familiengeschichte • Frauengeschichte • Gender Studies • Kaiserreich • Nachkriegsdeutschland • Nationalsozialismus • Tagebücher • Unternehmerin • Vatikan • Vertreibung • Weimarer Republik • Wernher von Braun • Widerstand
ISBN-10 3-8437-2308-7 / 3843723087
ISBN-13 978-3-8437-2308-4 / 9783843723084
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