Der Geschichtenerzähler -  Patricia Highsmith

Der Geschichtenerzähler (eBook)

Paul Ingendaay (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60681-2 (ISBN)
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Der Schriftsteller Sydney und seine Frau Alicia führen eine schwierige Ehe. Manchmal stellt sich Sydney vor, wie es wäre, Alicia umzubringen. Dieser Gedanke regt seine Phantasie an, und Sydney beginnt eine Geschichte zu schreiben, in der er den Mord an Alicia minutiös schildert. Als Alicia aber tatsächlich verschwindet, ist Sydney plötzlich in Teufels Küche

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ?Zwei Fremde im Zug?, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

Patricia Highsmith, geboren 1921 in Fort Worth/Texas, wuchs in Texas und New York auf und studierte Literatur und Zoologie. Erste Kurzgeschichten schrieb sie an der Highschool, den ersten Lebensunterhalt verdiente sie als Comictexterin, und den ersten Welterfolg erlangte sie 1950 mit ihrem Romanerstling ›Zwei Fremde im Zug‹, dessen Verfilmung von Alfred Hitchcock sie über Nacht weltberühmt machte. Patricia Highsmith starb 1995 in Locarno.

1


Das Land um Sydney und Alicia Bartlebys kleines zweigeschossiges Haus war so flach wie der Großteil der Grafschaft Suffolk. Die Landstraße zwanzig Meter vor dem Haus war zweispurig und asphaltiert. Neben dem holperigen Plattenweg zum Haus sorgten fünf junge Ulmen für ein wenig Abgeschiedenheit; auf der anderen Seite stand eine hohe dichte Hecke, sie gab auf zehn Meter Breite einen besseren Sichtschutz. Deshalb hatte Sydney die Hecke auch nie getrimmt. Der Rasen vor dem Haus war genauso ungepflegt, das Gras wuchs meist nur in Büscheln, und wo es doch zu richtigem Rasen reichte, hatten sich Feenkreise in das Gras gefressen, und der lehmbraune Boden lag blank. Um den Garten hinter dem Haus kümmerten sich die Bartlebys besser; dort hatten sie neben Blumenrabatten und Gemüsebeeten einen Zierteich von gut eineinhalb Meter Durchmesser angelegt, in dessen Mitte Sydney ungewöhnliche Steine aufgehäuft und mit Zement befestigt hatte. Doch war es den beiden nie gelungen, in dem Teich Goldfische am Leben zu erhalten, und zwei Frösche, die sie eingesetzt hatten, mußten beschlossen haben auszuwandern.

Die Landstraße führte in der einen Richtung nach Ipswich und London, in der anderen nach Framlingham. Hinter dem Haus verlor sich das Grundstück allmählich ohne sichtbare Grenze; dahinter lag das Feld eines Bauern, dessen Haus nicht zu sehen war. Genaugenommen wohnten die Bartlebys in Blycom Heath, doch das eigentliche Dorf lag drei Kilometer weiter in Richtung Framlingham. Seit eineinhalb Jahren lebten sie hier, fast so lange, wie sie verheiratet waren; das Haus war im Grunde das Hochzeitsgeschenk von Alicias Eltern gewesen, obwohl Sydney und sie eintausend Pfund zum Kaufpreis von dreitausendfünfhundert beigesteuert hatten. Die Gegend mochte den wenigen, weit verstreuten Anwohnern einsam vorkommen, doch Sydney und Alicia gingen ihren eigenen Dingen nach (dem Schreiben und dem Malen) und waren durch die Gesellschaft des anderen niemals allein. Außerdem hatten sie ein paar neue Freunde gefunden, die weiter weg wohnten, sogar in Lowestoft.

Nur um Schuhe reparieren zu lassen oder ein Fäßchen Kalligraphie-Tinte zu besorgen, mußten sie allerdings knapp zehn Kilometer nach Framlingham fahren. Vermutlich war die Einsamkeit der Gegend auch der Grund dafür, daß das Haus nebenan leer stand. Das gedrungene zweigeschossige Gebäude mit der Schieferfassade und dem spitzen Erkerfenster war in besserem Zustand als ihr eigenes Haus, von außen jedenfalls. Aber sie hatten gehört, innen sei noch alles mögliche zu tun, da das Haus seit fünf Jahren leer stand und zuvor von einem alten Ehepaar bewohnt worden war, das nicht das Geld für die nötigen Instandsetzungen gehabt hatte. Das Haus stand zweihundert Meter von dem der Bartlebys entfernt, und Alicia schaute gern gelegentlich hinüber, schaute es sich nur an, auch wenn es leer stand. Manchmal fühlte sie sich schon einsam, oder eher isoliert, als ob Sydney und sie gottverlassen am Südpol lebten.

Von Elspeth Cragge, die in Woodbridge wohnte und einen Mr. Spark, den örtlichen Immobilienmakler, kannte, erfuhr Alicia, daß eine Mrs. Lilybanks das Haus nebenan gekauft hatte. Eine alte Dame aus London, sagte Elspeth und bedauerte, daß es nicht ein junges Ehepaar war (als Nachbarn sicher unterhaltsamer).

»Mrs. Lilybanks ist heute nachmittag eingezogen«, verkündete Alicia eines Abends fröhlich in der Küche.

»Hmm. Hast du sie schon gesehen?«

»Wieder nur flüchtig. Sie ist schon älter.«

Das wußte Sydney. Beide hatten die Frau vor einem Monat zum ersten Mal gesehen, als sie mit dem Makler vorbeigekommen war. Über einen Monat waren Handwerker und Bauarbeiter im Haus ein und aus gegangen, und nun war Mrs. Lilybanks eingezogen. Sie sah aus wie um die Siebzig und würde sich wahrscheinlich schriftlich bei ihnen beschweren, sollten sie diesen Sommer laute Gartenpartys hinter dem Haus feiern. Sydney mixte in aller Ruhe zwei Martinis in einem Glaskrug und goß die Drinks in die Gläser.

»Ich wäre ja rübergegangen, um sie zu begrüßen, doch da waren schon ein paar Leute zu Besuch, und ich dachte, die bleiben vielleicht über Nacht.«

»Hmm«, sagte Sydney. Er bereitete gerade den Salat zu, sein üblicher Beitrag zum Abendessen. Automatisch stützte er sich mit einer Hand ab, bevor er die Tür des Kühlschranks aufriß, die immer klemmte, und den Senf herausnahm. Dann richtete er sich gedankenverloren auf – und stieß sich wieder den Kopf an dem schrägen Dachbalken. »Verdammte Sch…!«

»Ach, Liebling«, sagte Alicia beiläufig, während sie im kleinen Backofen nachsah, wie weit ihre Fleischpastete war. Sie trug eine enge, hellblaue, jeansähnliche Hose mit V-förmig eingeschnittenen Hosenaufschlägen. Ihr Hemd war aus echtem Denim, eine amerikanische Freundin hatte es ihr geschickt. Das achtlos gekämmte strähnige blonde Haar war schulterlang, ihr Gesicht schmal, fein geschnitten und hübsch, die weit auseinanderliegenden Augen waren blaugrau. Sie hatte einen dunkelblauen Farbfleck auf der Hose, über dem linken Knie, der trotz häufigen Waschens nicht rausgegangen war. Alicia malte in einem Hinterzimmer im ersten Stock. »Morgen werd ich wohl rübergehen«, sagte Alicia, in Gedanken immer noch bei Mrs. Lilybanks.

Sydney war innerlich weit, weit weg, bei seinem Nachmittag mit Alex in London. Daß Alicia nun schon zum drittenmal von Mrs. Lilybanks sprach, paßte ihm gar nicht. Warum fragte Alicia nicht, wie sein Nachmittag gewesen sei, ob er gut gearbeitet habe, so wie das jede andere Ehefrau getan hätte? Manchmal ritt sie auf Themen herum, von denen sie genau wußte, daß sie ihn langweilten. Deshalb sagte Sydney nichts.

»Wie war London?« fragte Alicia endlich, als sie am Eßzimmertisch saßen.

»Ach, so wie immer. Steht noch.« Sydney lächelte gequält. »Auch Alex ist genau wie immer. Das heißt, er hat keine neuen Ideen.«

»Ach ja? Ich dachte, ihr wolltet heute an einem neuen Einfall arbeiten?«

Sydney seufzte leicht verärgert, dabei war es doch das einzige gewesen, worüber er hatte sprechen wollen. »So war es auch geplant gewesen. Ich hatte eine Idee. Aber wir kamen einfach nicht weiter.« Er zuckte die Achseln. Die dritte Serie, die Alex und er zusammen geschrieben hatten – na ja, das meiste hatte er getan, Alex besorgte nur die fernsehgerechte Bearbeitung des Manuskripts –, war letzte Woche vom dritten und letzten Londoner Sender, dem letzten möglichen Käufer, abgelehnt worden. Drei, vier Wochen harte Arbeit, mindestens vier Treffen mit Alex in London – ein vollständiges, detailliertes Exposé und dazu das Drehbuch für eine erste Einstundenepisode hatten sie fertig getippt und ordentlich gebunden an die drei Sender verschickt. All das war nun für die Katz, und der heutige Tag noch dazu: siebzehn Shilling für die Rückfahrkahrte von Ipswich nach London sowie acht Stunden Zeit und einiges an Energie … Das alles sowie die Enttäuschung auf Alex’ großem Gesicht, das sich vor lauter Grübeln verfinsterte, dazu sein hartnäckiges Schweigen, gefolgt von einem »O nein, so geht das nicht«. Ergebnis: ein Tag zum Haareausraufen, an dem man seine Schreibmaschine nehmen, sie in den nächsten Teich schmeißen und hinterherspringen wollte.

»Wie geht’s Hittie?«

Hittie war Alex’ junge Frau, still und blond, die ganz in der Betreuung der drei kleinen Kinder aufging.

»Auch so wie immer«, sagte Sydney.

»Habt ihr deine neue Idee besprochen – das mit dem Mann auf dem Tanker?« fragte Alicia.

»Nein, Liebling. Die wurde doch gerade abgelehnt.« Wie konnte sie das nur vergessen?, fragte sich Sydney. Sie hatte doch das Exposé und auch das Drehbuch gelesen. »Ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe – bei meiner neuen Idee geht es um eine Tätowierung. Ein Mann läßt sich genauso tätowieren wie ein anderer, der angeblich schon tot ist.« Sydney war zu erschöpft, um die ganze verwickelte Geschichte zu erzählen: Alex und er hatten sich als Heldenfigur einen Detektiv ausgedacht, Nicky Campbell, einen jungen Burschen mit einem ganz »normalen« Beruf und einer Freundin. Nicky stieß immerzu auf neue Verbrechen und löste alle Rätsel jedes Falles und fing die Schurken und gewann jeden Kampf, ob mit Fäusten oder Pistolen – aber die Geschichten ließen sich einfach nicht verkaufen. Alex war jedoch sicher, daß sie es eines Tages schaffen würden, und dann wäre das für beide der Durchbruch. Vor zwei Jahren hatte Alex ein Drehbuch für ein Fernsehspiel verkauft, seither hatte er eine Handvoll weiterer Drehbücher geschrieben, die allesamt abgelehnt worden waren, doch das waren in sich abgeschlossene, einstündige Fernsehspiele gewesen, und Alex war sicher, daß das Fernsehen gerade jetzt eine gute Serie brauchte. Zu seinem Glück hatte er einen sicheren Arbeitsplatz in einem Verlag. Sydney hatte das nicht, und sein letzter Roman war überall abgelehnt worden, obwohl vor ein paar Jahren zwei Romane von ihm in den USA erschienen waren. Er verfügte über etwa einhundert Dollar im Monat an regelmäßigem Einkommen, Dividenden aus Aktien, die ihm ein Onkel in Amerika hinterlassen hatte. Alicia und er lebten davon und von ihren fünfzig Pfund im Monat, die mehr wert waren als seine hundert Dollar. Von dem Geld kauften sie Ölfarbe und Leinwand, Papier und Farbbänder und Kohlepapier für die Schreibmaschine – das Handwerkszeug ihrer Berufe, die ihnen finanziell so wenig einbrachten. Mit der Malerei hatte Alicia bis jetzt gerade einmal fünf Pfund verdient; allerdings nahm sie das Malen als Gelderwerb auch nicht so wichtig wie Sydney das Schreiben....

Erscheint lt. Verlag 22.1.2020
Übersetzer Matthias Jendis
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abstieg • Belletristik • Ehe • Gegenwartsliteratur • Krimi • Mord • Naher Osten • Phantasie • Roman • Selbstmord • Träume
ISBN-10 3-257-60681-8 / 3257606818
ISBN-13 978-3-257-60681-2 / 9783257606812
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