TEXT + KRITIK 225 - Sibylle Berg -

TEXT + KRITIK 225 - Sibylle Berg (eBook)

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2020 | 1. Auflage
104 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-96707-066-8 (ISBN)
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In über zwanzig Jahren schuf Sibylle Berg, die auch als Regisseurin und Literaturperformerin aktiv ist, ein umfangreiches und vielseitiges Oeuvre. Ihre Bücher erreichten Bestseller-Status, ihre Stücke wurden auf den wichtigsten Bühnen inszeniert, ihre journalistischen Artikel erschienen in renommierten Zeitungen und Magazinen - gleichwohl gilt sie als Außenseiterin, nicht zuletzt, weil sie sich gerne als solche inszeniert. Im Fokus des Heftes stehen neben den Romanen, Erzählungen und Dramentexten auch Sibylle Bergs Glossen und feuilletonistische Texte. Die Beiträge gehen den verschiedenen Aspekten des vielschichtigen Werks nach: Sie fragen nach dessen Zugehörigkeit zur Popliteratur und zum Pop-/Postfeminismus, sie erkunden die Inszenierbarkeit der Theaterstücke Bergs und nehmen die Kommunikationsstrukturen der Prosa ebenso in den Blick wie die Medienstrategien der Autorin.

Stephanie Catani ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte u. a.: Literatur der Gegenwart und der Moderne, kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Ansätze sowie intermediale Perspektiven.

Stephanie Catani ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte u. a.: Literatur der Gegenwart und der Moderne, kulturwissenschaftliche und interdisziplinäre Ansätze sowie intermediale Perspektiven.

- Olivier Garofalo: Vom Verschwinden des Subjekts
- Niklaus Helbling:"Das Erwachsenwerden kommt nicht über Nacht". Zur Uraufführung von "Helges Leben" in Bochum
- Christian Dawidowski: Zwischen Pop und Postmoderne. Sibylle Bergs Stücke und Romane bis 2007
- Julia Reichenpfader: Schläft der Mann am Ende gut? Hegemoniale Körperinszenierungen und regressive Reaktionen in Sibylle Bergs Romanen
- Rolf Parr: Macht, Körper, Gewalt. Sibylle Bergs Roman-Figuren zwischen Normalität, Hypernormalität und Monstrosität
- Anke Biendarra: Sibylle Berg als Feministin. Über die popkulturellen Strategien ihrer journalistischen Texte
- Alexandra Pontzen: Sibylle Berg und die Moralistik im 21. Jahrhundert – Negative Anthropologie als literarisch-philosophisches Erzählprogramm
- Julia Schöll:On the road. Transzendentale Trostlosigkeit in Sibylle Bergs Roman "Die Fahrt"
- Stephanie Catani: "Aber wenn ich schon in dieses seltsame Leben geh, will ich Applaus". Mediale Mechanismen der Autorschaftsinszenierung bei Sibylle Berg
- Marianna Raffele /Philipp Schlüter: Sibylle Berg – Auswahlbibliografie
- Notizen

Niklaus Helbling

»Das Erwachsenwerden kommt nicht über Nacht«
Zur Uraufführung von »Helges Leben« in Bochum


Vorsatz


Wenn ich rekonstruieren soll, wie es zur Uraufführung von Sibylle Bergs erstem Theaterstück »Helges Leben« kam, muss ich ungefähr 17 Jahre zurückgehen. Vieles ist in der Erinnerung verblasst, vielleicht auch verklärt. Was sich im Folgenden möglicherweise anekdotisch anhört, ist einfach der Versuch, einigermaßen genau zu erzählen, was damals künstlerisch vorgefallen ist.

Theater ist die Kunst der vereinten Kräfte. Um eine Theaterproduktion zu einem guten Ende, also zu einer bejubelten Premiere und vielen ausverkauften Vorstellungen zu bringen, müssen unzählige Parameter glücklich aufeinander abgestimmt werden. Es geht dabei unter anderem um Geld, Beziehungen, Spielort, Schauspieler-Besetzung, Bühnenbild, Kostüme, Musik, Spiellust, Gruppendynamik, szenische Phantasie und einen Text. Wer es nicht selbst erlebt hat, dem ist schwer zu erklären, warum sich erwachsene Menschen immer wieder zusammenrotten, um süchtig nach dem Glück des Gelingens solche Produkte aus Luft und Zeit herzustellen und das magische Zusammenspiel ihrer Ingredienzien zu beschwören. An deutschen Stadttheatern ist es die Aufgabe des Intendanten und seiner Dramaturgen, die ersten materiellen und personellen Abstimmungen vorzunehmen, dann übernimmt der Regisseur. Bei freien Theaterproduktionen muss sich ein Produzent oder eine Gruppe darum kümmern, wobei da die Beschaffung der nötigen Geldmittel am Anfang steht.

Am Anfang waren die Tiere


Es muss im September 1999 gewesen sein. Ich hatte nach jahrelanger Tätigkeit als Dramaturg in Hamburg den Schritt ins Regiefach riskiert und in Zürich eine kleine freie Produktion namens »Bambifikation« herausgebracht, ein wilder Ritt durch alle literarischen und popkulturellen Erscheinungen des bewussten Rehs. Danach hatte ich mit Schauspielstudenten an der Zürcher Hochschule einen Text von J. M. R. Lenz, dem unheimlichen Freund von Goethe, unter dem Titel »Mauskröten« inszeniert. Beide Produktionen kamen gut an. »Bambifikation« wurde dank der jungen, explosiven Hauptdarstellerin, die auch als Sängerin überzeugte, zu einem lokalen Hit, der dann in Gastspielen auch auf Deutschland übergriff. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir von einer befreundeten Musikerin, Erika Stucky das Manuskript von »Helges Leben« zugespielt. Ich solle das mal anschauen. Ich hätte mich ja als Regisseur bewährt, der auch mit Musikern umgehen könne. Offenbar wollte die Autorin, dass Erika die Rolle von Frau Gott spielen solle. Und ihre Freundin Sina, eine damals in der Schweiz schon sehr bekannte Sängerin, war für den Tod vorgesehen. Das Manuskript erwies sich als dicker Packen Papier, eine Art Welttheater in drei Teilen, eine verrückte Ansammlung von Liedtexten, langen Monologen, lakonischen Dialogen und Werbeeinlagen um das kurze Erdenleben von Helge, ein Krippenspiel inklusive Passion, dargebracht von einer Frau Gott, die unterstützt und sabotiert wird von ihrer Assistentin Tod. Gott und Tod sind fahrende Theaterbetreiberinnen und zeigen ihre Aufführung einer Kundschaft, die aus Tieren besteht. Ein Tapir hat sie kommen lassen, damit sie für seine Gattin, das Reh, und seinen Freund, den Schnapphamster, ein Menschenleben spielen. So weit so verwirrend und verlockend. Was mir daran sofort gefiel, war die phantastische Science-Fiction-Idee: Die Menschen sind ausgestorben, die Tiere haben die Macht auf der Erde übernommen. Menschen werden nur noch zu Unterhaltungszwecken von Frau Gott geschaffen und vor zahlungskräftigen Tieren auf die Bühne gebracht. Nicht schlecht. Nachdem ich gerade mit Bambi ins All geflogen war und die surrealen Abenteuer der Mäuse und Schildkröten bei Lenz bewältigt hatte, kam mir dieses ›Theater im Theater‹ für einen Tapir gerade recht.

Bergwerk


Aber wer war diese Autorin? Sibylle Berg war mir damals kaum ein Begriff. Ihre Kolumnen in der Wochenzeitung »Die Zeit« musste ich wohl gestreift haben, wirkliche Kenntnis davon hatte ich nicht, und auch ihre bis dahin erschienenen Romane »Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot« und »Sex II« kannte ich nur dem Titel nach. Jetzt erfuhr ich, dass sie in Zürich wohnte, damals noch in Wohngemeinschaft mit Sina, und nicht nur eine aufstrebende Pop-Literatin war, sondern auch wilde Theater-Visionen hatte. Ich las weiter und begann den Humor hinter ihrem Blick auf diese schroffe, frostige Welt, in der jegliche Arbeit komplett entfremdet, Gefühle vergeblich und der Sex ein stilles Grauen ist, für mich zu entdecken. Dieser radikale Humor hatte gar nichts zu tun mit der fleißigen jungen Dramatik, die es damals sonst gab, und machte mich neugierig. Bei einem ersten Treffen in einem Gartenzimmer am Zürichberg stellte sich dann heraus, dass wir nicht nur eine Vorliebe für japanischen Tee gemeinsam hatten, sondern auch einen gewissen Familiensinn. Sie wollte mit ihren Freundinnen dieses Stück aufführen, weil sie eine Vision hatte. Das fahrende Theater der Frau Gott war gewissermaßen als letztes Lagerfeuer in der posthumanen Epoche zu verstehen. Und als wir begannen, uns Gedanken zu machen, wo und wie wir dieses Stück auf die Bühne bringen könnten, wurde schnell klar, dass wir es beide mit dem Theater als Gaukler-Utopie sehr ernst meinen. Wir verstanden eine Theater-Produktion nicht nur als professionelle, multilaterale Operation, sondern auch als eine emotionale Zusammenführung, eine soziale Wunscherfüllung. Insofern fühlten wir uns gegenseitig verstanden, und ich war als Mitarbeiter im Berg-Werk gewonnen. Doch die Frage nach dem Wo und Wie war damit noch nicht beantwortet.

Der Weg in den Keller


Ein erster Anlauf führte uns nach Stuttgart, wo wir eine mit Sibylle Berg befreundete Theaterleiterin besuchten. Sie hatte »Ein paar Leute suchen das Glück« in ihrem Haus auf die Bühne gebracht und war an einer weiteren Berg-Aufführung interessiert. Bald wurde aber klar, dass unser Personalaufkommen mit zwei Musikerinnen aus der Schweiz, die nicht nur zu Proben, sondern zu allen Vorstellungen anreisen würden, mit Regisseur, Bühnenbildner und Kostümbildnerin den Budget-Rahmen ihres Kleintheaters weit überschreiten würde. Dazu musste man, auch mit Doppelbesetzungen, mit sechs Darsteller/-innen rechnen, was für ein Theater ohne eigenes Ensemble nicht kostendeckend zu leisten war. Der Stuttgarter Plan zerschlug sich kurz und schmerzlos, und wir waren genauso weit wie zuvor. Nein, nicht ganz. Wir wussten jetzt, dass unser Projekt viel zu aufwendig war, um es ohne größere Geldbeschaffungsmaßnahmen an einem kleinen Haus unterzubringen.

Der Zufall wollte es, dass mein ehemaliger Dramaturgen-Kollege Klaus Mißbach im Begriff war, Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum zu werden. Ihm trug ich die Uraufführung des ersten Stückes von Sibylle Berg an. Der andere Zufall war, dass Matthias Hartmann, der designierte Intendant von Bochum, gerade eine Aufführung von »Bamibifikation« gesehen hatte und sich vorstellen konnte, etwas Ähnliches an seinem Haus zu programmieren. Natürlich spielte der Name Sibylle Berg, auch wenn er damals noch nicht dieselbe Markenstärke hatte wie heute, eine Rolle. Hartmann und Mißbach erkannten durchaus die Chance, die Entdecker Sibylle Bergs als Dramatikerin zu werden. Sie planten »Helges Leben« als dritte Premiere im Eröffnungsreigen ihrer neuen Intendanz ein. Als Spielort war die kleine Bühne im Keller vorgesehen, sie hieß vormals »Zadeck«, und wurde jetzt leicht lokalpatriotisch »Theater unter Tage« oder TuT genannt. Es war ein relativ niedriger Raum mit Säulen, in dem 99 Zuschauer zugelassen waren. Dieser Keller sollte später eine entscheidende Rolle spielen für die Uraufführung von »Helges Leben«.

Eine Welt, drei Sphären


Nachdem wir ein Theater gefunden hatten, konnten wir uns auf Text und Aufführungskonzept konzentrieren. Es galt, aus dem überbordenden Material des Stücks eine Spielfassung zu machen, und für mich war der nächste Glücksfall, wie angenehm und professionell die Zusammenarbeit mit Sibylle Berg sich anließ. Sie hatte keinerlei Problem, dramaturgische Vorschläge anzunehmen, Kürzungen oder Umstellungen umzusetzen und war eine lustige Gesprächspartnerin. Die wichtigen Entscheidungen ergaben sich alle im Gespräch, und wir kamen sehr leicht zu einer Idee von einer Welt, einer Ästhetik, in der das Spiel der drei Sphären lebendig werden konnte: Götter, Tiere und Menschen. Frau Gott und den Tod sieht man zuerst in einem Verkaufsgespräch mit dem Tapir, dann zeigen sie ihre Show, machen dazu Musik und greifen ab und zu befördernd (Frau Gott) oder final (Tod) in die Handlung ein.

Die Tiere, die neuen Herren der Welt, sind zu dritt. Der Tapir, ein erfolgreicher Futtermittel-Fabrikant, ist der Gast- und Auftraggeber des göttlichen Theaters, er bestimmt den Preis, und die Gangart des Theaters (»nicht wieder so viel Sex wie letztens«1). Dem Reh, seiner süßen Gattin, zuliebe hat er das Theater bestellt, auf ihre Empfindungen muss Rücksicht genommen werden. Das Reh ist eine Trophäe des zuhälterhaften Tapirs. Der Schnapphamster kommt als robuster Freund des Tapirs zu Besuch. Er ist ein Wolpertinger oder Mischwesen aus Hamster und Piranha. Er rät Helge, ein Mädchen aufzureißen, was dieser dann sehr wörtlich nimmt. Die Tiere sind aktive, eigenwillige Zuschauer, sie kommentieren, feuern an, doch menschliche Emotionen sind ihnen fremd. Den Begriff Liebe halten sie für ein ausgestorbenes Konzept, Helges Selbstmordversuch führen sie auf ein zu großes Ego zurück, und wenn Helge weint, werfen sie mit dem Gemüse, das sie als Snack immer zur...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2020
Reihe/Serie TEXT + KRITIK
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte Literaturwissenschaft • Popfeminismus • Postfeminismus • Sibylle Berg • TEXT + KRITIK
ISBN-10 3-96707-066-2 / 3967070662
ISBN-13 978-3-96707-066-8 / 9783967070668
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