Das ungeschminkte Leben (eBook)

Autobiographie
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2020 | 1. Auflage
304 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-24982-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das ungeschminkte Leben -  Maryse Condé
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Ein Leben fernab der üblichen Pfade
»Ich blickte hinauf zum sternenübersäten Himmel und wünschte mir leidenschaftlich ein neues Leben.«

Maryse Condé wird als jüngstes von acht Kindern auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe geboren und gilt heute als »Weltbürgerin und Grande Dame der frankophonen Literatur« (BR 2). In ihrer Autobiographie lässt sie ihre frühen Lebensjahre wiederaufleben. Die Zeit als junge Studentin im Paris der 1950er-Jahre, als alleinerziehende, mittellose Mutter, die wagemutig nach Westafrika geht und als Lehrerin miterlebt, wie der Kontinent von politischen Auseinandersetzungen erschüttert wird.

Mit entwaffnender Offenheit schildert Maryse Condé ein Leben fernab der üblichen Pfade und zeichnet das Bild einer unerschrockenen Frau, die die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche ihrer Zeit erkannte und sich »nie scheute, gegen den Strom zu schwimmen« (Neue Zürcher Zeitung).

Maryse Condé, 1934 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren, gilt als eine der großen Erzählstimmen unserer Zeit. Mit 16 Jahren ging sie zum Studium nach Paris und lebte später mehrere Jahre in Westafrika. Maryse Condé unterrichtete u.a. an der Sorbonne und war Professorin für französische Sprache und Literatur an der Columbia University in New York. Bekannt wurde Maryse Condé durch die Familiensaga »Segu«, in der sie die Geschichte der westafrikanischen Familie Traoré erzählt. Sie wurde u.a. mit dem Prix de l'Académie Française, dem Prix Marguerite Yourcenar sowie dem Alternativen Literaturnobelpreis ausgezeichnet. 2020 wurde ihr in Frankreich der nationale Verdienstorden verliehen. Maryse Condé verstarb im April 2024 im Alter von 90 Jahren.

»Lieber schlecht verheiratet
als ein ›gefallenes Mädchen‹«


Sprichwort aus Guadeloupe

Ich lernte Mamadou Condé 1958 im Wohnheim für Studenten aus Westafrika in Paris kennen, einem großen verlotterten Bau am Boulevard Poniatowski. Da sich damals für mich alles um Afrika, seine Vergangenheit und seine Gegenwart drehte, hatte ich mich kurz zuvor mit zwei jungen Frauen aus Guinea vom Stamm der Peul angefreundet. Sie hießen Ramatoulaye und Binetou. Wir waren uns bei einer politischen Veranstaltung in der Salle des Sociétés Savantes begegnet. Die beiden stammten aus Labbé. Als sie mir die vergilbten Fotos ihrer stolzen Eltern zeigten, wie sie in damastenen Boubous vor ihren strohgedeckten Rundhütten saßen, kam ich ins Träumen.

Das Studentenheim war vor allem zugig. Ramatoulaye, Binetou und ich saßen in der Eingangshalle, wo ein winziger Kohleherd brannte, und tranken eine Tasse Grüntee mit Minze nach der anderen, um uns zu wärmen. An einem Nachmittag gesellte sich dort eine Gruppe Guineer zu uns.

Condé hieß bei allen »der Alte«, ich ließ mir sagen, das sei eine Respektsbezeugung, aber da er schon graue Haare bekam, erschien er auch älter als die meisten Studenten. Außerdem sprach er in dem bestimmten Ton eines Weisen, der ewige Wahrheiten von sich gibt. In seinen Papieren war seine Geburt »um 1930« angegeben, was in gewissem Widerspruch zu seinem Äußeren und seinem Benehmen stand. Condé war stets kalt, und er hatte einen dicken handgestrickten Wollschal um den Hals geschlungen. Unter seinem erdfarbenen Wintermantel trug er noch zwei oder drei Pullover. Als er mir vorgestellt wurde, war ich überrascht. Ein Schauspieler, der am Konservatorium für Darstellende Künste studierte? Seine Aussprache ließ einiges zu wünschen übrig. Seine hohe Stimme hatte nichts von einem Bariton. Ganz ehrlich! Zu anderen Zeiten hätte ich kaum das Wort an ihn gerichtet. Aber mein bisheriges Leben lag in Scherben. Das Mädchen von früher gab es nicht mehr.

Denn die arrogante Maryse Boucolon, Nachfahrin der »Grands Nègres«, erzogen in der hochmütigen Verachtung für die unter ihr Stehenden, war tödlich verletzt worden. Ich mied meine früheren Freunde und hatte nur einen Wunsch: Sie sollten mich vergessen. Ich besuchte nicht mehr das Lycée Fénelon, war auch nicht mehr stolz darauf, eines der ganz wenigen Mädchen aus Guadeloupe zu sein, das sich für die Aufnahmeprüfung zu einer der französischen Elitehochschulen vorbereitete und zudem alle Chancen hatte, angenommen zu werden. Aber das war beileibe nicht das einzige Ruhmesblatt gewesen, mit dem ich mich vormals schmücken konnte. Nachdem die Zeitschrift Esprit einen Vorabdruck von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken veröffentlicht hatte, hatte ich einen Leserbrief an die Redaktion verfasst, in dem ich meine Empörung zum Ausdruck brachte. Ich fand Fanons Schilderung der antillischen Gesellschaft herabsetzend und behauptete, er habe unsere Gesellschaft einfach nicht verstanden. Ich war höchst überrascht, als ich daraufhin von Jean-Marie Domenach, dem Verleger höchstpersönlich, in die Redaktion in der Rue Jacob eingeladen wurde, um meine Kritik darzulegen. Und das mit nicht mal zwanzig Jahren.

Aber nach diesen ruhmreichen Tagen war der Haitianer Jean Dominique in mein Leben getreten. Jonathan Demme hat später den Dokumentarfilm The Agronomist über ihn gedreht. Darin wird Jean Dominique geradezu als Heiliger dargestellt. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich diesen Mann kennenlernte, dessen Verhalten so weitreichende Folgen für mein ganzes Leben haben sollte. Es war eine hochintellektuelle Liebe. Da ich in splendid isolation aufgewachsen war, wusste ich nichts von Haiti. Jean Dominique klärte mich nicht nur sexuell auf, sondern brachte mir auch die Heldengeschichte der »vielfarbigen Afrikaner« nahe, wie Napoleon Bonaparte sie abfällig nannte. Durch Jean erfuhr ich vom Martyrium Toussaint Louvertures, vom Triumph Jean-Jacques Dessalines und von den Anfangsschwierigkeiten der neuen Schwarzen Republik. Er gab mir Die Herren des Taus von Jacques Roumain, Der Flammenbaum von Edris St-Amand und General Sonne von Jacques Stephen Alexis zu lesen. Kurz gesagt, er weihte mich in den ungeheuren Reichtum eines Landes ein, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Ganz ohne Zweifel war er es, der mir meine unverbrüchliche Zuneigung zu Haiti ins Herz gepflanzt hat.

An dem Tag, als ich all meinen Mut aufbrachte, um ihm zu gestehen, dass ich schwanger war, schien er glücklich, sogar sehr glücklich. Er rief begeistert:

»Diesmal wird es ein kleiner Mulatte!« Denn aus einer früheren Verbindung hatte er bereits zwei Töchter.

Als ich aber am nächsten Tag in Jeans Wohnung kam, war er gerade dabei, sie auszuräumen und seine Sachen in Kisten zu verpacken. Tief betroffen erklärte er mir, für Haiti zeichne sich eine ungeheure Gefahr ab. Ein Arzt namens François Duvalier wolle für das Präsidentenamt kandidieren. Da er schwarz sei, begeistere er die Massen, denn sie hätten genug von den Mulattenpräsidenten und seien leider empfänglich für den »Noirisme«, eine Ideologie, die Schwarze bevorzugt. Dieser Duvalier besitze jedoch keine der notwendigen Fähigkeiten für ein so hohes Amt. Alle Gegner dieses gefährlichen Plans müssten daher nach Haiti eilen, um eine Einheitsfront zu bilden.

Jean Dominique flog ab und schickte mir nicht einmal mehr eine Postkarte. Ich blieb allein in Paris zurück und konnte nicht glauben, dass mich ein Mann mit einem dicken Bauch sitzengelassen hatte. Es war unfassbar. Ich wehrte mich lange gegen die einzige mögliche Erklärung: meine schwarze Hautfarbe. Jean Dominique hatte mich mit der Verachtung und der Gewissenlosigkeit der Mulatten behandelt. Er gehörte selbst zu dieser privilegierten Kaste, die sich damals in ihrer Beschränktheit für etwas Besseres hielt. Wie war seine Gegnerschaft zu Duvalier zu bewerten? Wie ernst war sein Glaube an das Volk zu nehmen? Selbstverständlich war das alles für mich nur Heuchelei.

Es fiel mir schwer, die langen Monate dieser einsamen Schwangerschaft durchzuhalten. Nachdem ein Arzt von der studentischen Krankenversicherung mich als depressiv und unterernährt befand, schickte er mich in ein Erholungsheim im Departement Oise, wo ich von allen so liebevoll umsorgt wurde, dass ich das nie vergessen werde. Zum ersten Mal erfuhr ich die Güte von Fremden. Am 13. März 1956 dann, zu einer Zeit, als ich eigentlich mitten in der Vorbereitung zur Aufnahmeprüfung für die École Normale Supérieure hätte stecken müssen, brachte ich endlich in einer kleinen Klinik im 15. Pariser Arrondissement einen Jungen zur Welt, dem ich kurzerhand den Namen Denis gab. Zu alledem verlor ich auch noch meine geliebte Mutter. Sie verstarb plötzlich und unerwartet in Guadeloupe. Unter der Wucht dieser Schicksalsschläge erging es mir wie der »Kameliendame«. In meinem rechten Lungenflügel zeigte sich ein tuberkulöses Infiltrat, immer noch derselbe Arzt von der studentischen Krankenversicherung überwies mich daraufhin in das Sanatorium von Vence in den Alpes-Maritimes. Dort sollte ich dann über ein Jahr verbringen.

»Warum ist das Schicksal bloß so grausam zu dir?«, wetterte Yvane Randal, während sie mich zum Bahnhof brachte. Sie war eine der wenigen Freundinnen, mit denen ich noch verkehrte.

Völlig in meinen Kummer versunken, hörte ich gar nicht, was sie sagte. Aus Geldmangel hatte ich meinen reizenden Säugling der Sozialfürsorge in ihren kahlen Räumlichkeiten an der Avenue Denfert-Rochereau anvertrauen müssen. Dabei wohnten meine beiden älteren Schwestern in der französischen Hauptstadt. Ena, die Älteste und zudem meine Patentante, eine große, melancholisch verträumte Schönheit, war von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Ursprünglich zum Musikstudium nach Paris gekommen, hatte sie kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Guy Tirolien geheiratet, der ebenfalls aus Guadeloupe stammte und damals an der Verwaltungshochschule ENA studierte. Mit seinem Gedichtband Balles d’Or wurde er später zu unserem Nationaldichter. Die Gründe für ihre Scheidung gehören zu den anstößigen Geheimnissen unserer Familie. Während ihr Ehemann in deutscher Kriegsgefangenschaft war, betrog Ena ihn mit einer ganzen Clique schneidiger deutscher Offiziere, bei denen sie »Bijou« hieß. Nun ließ sie sich von einem schwerreichen Geschäftsmann aushalten und vertrieb sich die Zeit, indem sie auf dem Klavier Melodien von Chopin spielte und Hochprozentiges trank. Gillette, die andere Schwester, war bodenständiger. Sie arbeitete als Sozialfürsorgerin in Saint-Denis, damals ein dicht bewohntes, armes Viertel von Paris. Sie war mit Jean Deen verheiratet, einem Medizinstudenten aus Guinea.

»Das hast du alles nicht verdient!«, empörte sich Yvane.

Ich wusste selbst nicht, was ich davon halten sollte. Mal war ich überzeugt, das Opfer grenzenloser Ungerechtigkeit zu sein. Mal flüsterte eine Stimme in mir, dass ich verdiente, was mir geschah, weil ich durch die Überheblichkeit, in der ich aufgewachsen war, das Schicksal herausgefordert hatte. Nach diesen grausamen Erfahrungen war ich für immer schwer gezeichnet. Ich besaß keinerlei Vertrauen mehr in die Zukunft, war beherrscht von der Furcht, dass mich jeden Moment ein weiterer Schlag des hinterlistigen Schicksals treffen konnte.

Der Aufenthalt in Vence war trostlos. Wie bei meiner Figur Marie-Noëlle aus dem Roman Désirada sind auch mir die endlosen Stunden im Bett, die tagtäglichen Infusionen mit Antibiotika, die Mattigkeit, die Übelkeit, das Fieber, die Schweißausbrüche und die Schlaflosigkeit bis heute in trauriger Erinnerung. Aber im...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2020
Übersetzer Beate Thill
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel La Vie sans fards
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • alternativer Literaturnobelpreis • Autobiographie • Biografie • Biographien • Black lives matter • eBooks • exit racism • Frankophone Literatur • Frankreich • Französische Literatur • Guadeloupe • Karibik • Lebenserinnerungen • Lehrerin • Leïla Slimani • Mutter • Paris • Preisgekrönte Autorin • Rassismus • Schriftstellerin • Toni Morrison • Weltliteratur • Westafrika
ISBN-10 3-641-24982-1 / 3641249821
ISBN-13 978-3-641-24982-3 / 9783641249823
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