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Nachtgeschwister (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-226-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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»Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat.« Ein Bändchen mit Gedichten, eher zufällig mitgenommen in einer Buchhandlung, ist der Auslöser für eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, eine Obsession, eine quälende Verstrickung. »Schon von den ersten Zeilen ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht« - so erzählt die Frau, die die Gedichte liest -, »dass sich die Welt in einem einzigen Augen­blick für mich verändert hat, weil es in ihr jetzt diese Stimme gab.« Die Stimme des Seelenverwandten, die Stimme eines Verlorenen. Aber auch eines Gefundenen. Denn nun setzt sie alles in Bewegung, um den Autor dieser Gedichte zu treffen, der unerreichbar ist im anderen Teil Deutschlands. Sie schreibt, sie ruft an. Und als er eines Tages tatsächlich kommt, wird ihr Traum wahr. Und zum Albtraum. Denn der Mann, der kommt und bleibt, ist anders, als sie ihn sich erfunden hat. Natascha Wodin erzählt in betörenden Bildern von einer Liebe und ihrer Unmöglichkeit. Zu unterschiedlich sind die Welten, die Erfahrungen, die Bedürfnisse. Zu groß ist die mitgebrachte Verstörung. Seine Existenz und ihrer beider Leben ist das Schreiben, die Nacht. Das ist es, was von ihrer Liebe bleibt.

Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen in Berlin. Für ihre Bücher (u.a. »Die gläserne Stadt«, »Einmal lebte ich«, »Erfindung einer Liebe«) ist sie mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet worden. Natascha Wodin erhielt 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen in Berlin. Für ihre Bücher (u.a. »Die gläserne Stadt«, »Einmal lebte ich«, »Erfindung einer Liebe«) ist sie mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet worden. Natascha Wodin erhielt 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse.

Was ist Wahrheit?
Ein bewegliches Heer von Metaphern.

FRIEDRICH NIETZSCHE

ICH GEHE VON DER M-STRASSE IN DIE I-Straße, mit meiner Hinundhertasche in der Hand. Die Luft ist seit dem Ende der Heizperiode völlig verwandelt, es ist, als hätte die Hölle zu rauchen aufgehört. Im ersten Winter in Berlin hatte ich mir nicht vorstellen können, dass es über dieser Stadt einen Himmel gibt, jetzt wölbt er sich hellblau über den Dächern, leicht, fast südlich. Die Straßen und Brachen zwischen den Häusern sind grün geworden, an Mauern blühen wilde Blumen. Seit dem 1. Mai ist das junge Laub der Bäume an vielen Stellen abrasiert von den Wasserwerfern, die schon am Vortag in den Straßen standen und mit unsichtbaren Augen die Gegend observierten. Die Demonstranten waren eingeflogen, zerrauft, bemalt und zerstochen von Schmuck wie Eingeborene, die Ladenbesitzer hatten ihre Schaufenster mit Holzbrettern verbarrikadiert, die Gegend wirkte wie eine für einen Großangriff gerüstete Festung. Auf meinem kurzen Weg in die I-Straße war ich zweimal von der Polizei angehalten worden und musste meinen Ausweis vorzeigen, um zu beweisen, dass ich keine angereiste Steinewerferin war, sondern auf der Straße ging, weil ich hier wohnte.

Inzwischen ist der Spuk längst vorbei, ich gehe durch das große Freiluftwohnzimmer, in das sich die Gegend seit dem ersten blauen Riss im Himmel verwandelt hat. Nicht immer ist zu erkennen, ob man an einem Straßencafé vorbeigeht oder ob die Leute vor ihren eigenen Haustüren sitzen, Kaffee trinken, lesen, Schach spielen, sich unterhalten. Manche Kneipen scheinen nicht mehr zu sein als ein Getränkedepot mit ein paar Stühlen und einem Sofa auf der Straße, aus einem Wohnungsfenster werden Schmalzstullen verkauft, aus einem anderen Kaffee und Kuchen, »Essen für drei Mark« steht auf einem Schild, das in einen Hinterhof deutet. Neben den ostdeutschen Kneipen, die Bockwürste, russische Soljanka und polnisches Bigosch anbieten, etabliert sich in sanierten Gebäuden die Nouvelle Cuisine. »Esst die Reichen«, hat jemand mit dicker schwarzer Farbe an die schneeweiße Fassade eines solchen Lokals gepinselt. Auf den Trottoirs, die doppelt so breit sind wie die Fahrbahnen, tummeln sich Kinder und Hunde, spielen so selbstverständlich miteinander, als gehörten sie einer Gattung an. Abseits steht ein kleines Mädchen und wiegt zärtlich versonnen drei Orangen, als wären es die Köpfe von Babys in ihrem angewinkelten Arm.

Die Baugerüste an den Häusern werden als Balkone genutzt. Die Leute gehen durchs Fenster ein und aus, sie sitzen an den Tischen, die sie ebenfalls durchs Fenster hinausbefördert haben, sie essen und trinken, da und dort ist es sogar gelungen, ein Sofa durchs Fenster auf die hölzernen Laufbohlen der Baufirma hinauszuwuchten. Vor dem geheimnisvoll dunklen Quadrat eines geöffneten Fensters, aus dem Klaviermusik herausdringt, steht ein kleiner runder Tisch, auf der weißen Tischdecke eine Vase mit einer langen Rose und eine Flasche Sekt in einem Eiskübel. Der Bildausschnitt eines Nobelrestaurants in einem Baugerüst. Alles, was hier von außen kommt, wird sofort umgedeutet, zweckentfremdet, den eigenen Lebensgesetzen unterworfen.

An einem der morschen Häuser hängen Bettlaken aus den Fenstern. »Keine Zwangsentmietungen«, »Wir bleiben alle«. Auf einem Mäuerchen vor dem Haus stehen alte, mit Erde gefüllte Militärstiefel, in denen Glockenblumen wachsen. Ein anderes, unbewohntes Haus ist überwuchert von Flechten, die von der morschen Fassade herabstürzen wie ein gischtender grüner Wasserfall. In halbdunklen Hauseingängen verstecken sich schmächtige Asiaten, die, sich vorsichtig nach der Polizei umblickend, zollfreie Zigaretten verkaufen. Über einem leeren, schmutzblinden Schaufenster die hellen Abdrücke verschwundener Lettern, eine Geisterschrift: Mode für junge Leute.

Die Stämme der Platanen, die Laternenpfähle sind beklebt mit Wohnungsgesuchen. Für unsanierte, billige Altbauwohnungen werden hohe Vermittlungsgebühren angeboten, Krankenpflege als Gegenleistung, Handwerksarbeiten, Kinderbetreuung. Kein Wort hört man aus dem Mund Vorübergehender öfter als das Wort Wohnung, es ist das Wort der Wörter, das Zauberwort, die Bezeichnung für das, was hier jeder am meisten zu wollen scheint und was es an diesem Ort am wenigsten gibt. Wahrscheinlich wohnen hier viele so wie ich. In einer Untermietwohnung auf Zeit, in Übergangszuständen, in Provisorien, in der Untervermietung einer Untervermietung, alle scheinen hier Teil des Provisorischen zu sein, des Vorübergehenden, einer ständigen Lebensumwälzung, eines fliegenden Wechsels, einer Welt der Zwischenlösungen, in der es noch nichts Fertiges, nichts Verlässliches gibt, in der das Leben von Tag zu Tag neu erfunden und eingerichtet werden muss.

Vor einem Kiosk stehen die üblichen Pichelbrüder, einer von ihnen, er trägt kurze Hosen, hat in den rechten Oberschenkel die Freiheitsstatue eintätowieren lassen, in den linken den Eiffelturm. Er trinkt Bier aus der Dose, er ist die wandelnde freie Welt, der wandelnde Sieg über das Reiseverbot, ein Sieg, der ihm zumindest die Freiheit eingebracht hat, Paris und New York stolz und für alle sichtbar auf seinen Oberschenkeln zur Schau zu tragen, während er zum Trinken zum Kiosk geht.

Ich gehe, ich bin nach wie vor auf meinem täglichen Spießrutenlauf, jetzt ohne den Schutz des Winters. Mich hüllt kein Mantel mehr ein, kein Rauch, kein Nebel, ich kann mein Gesicht nicht mehr im Kragen verstecken, ich kann nur versuchen, mich in Unsichtbarkeit zu üben, während ich gehe. Mein einziger Schutz sind die Platanen, ihr Schatten, das große Flechtwerk über der Straße, über die hinweg sich die ausgestreckten Äste der Bäume berühren, einen langen grünen Tunnel bildend, der für Augenblicke das Gefühl in mich senkt, ich ginge unter Wasser, auf dem Grund eines Sees, in dem das Licht spielt. Trotz des dichten Schattens und des noch frühen Sommers ist es schwül, meine Haut klebt, das Blut pocht in meinen Beinen.

Vor dem roten Backsteinbau der jüdischen Synagoge stehen auch heute die zwei Uniformierten, die hier immer stehen, bei Tag und bei Nacht, bei jedem Wetter, wie Verdammte kommen sie mir vor, die hier, zu Tode gelangweilt, die deutsche Schuld abstehen müssen, die Schuldwache halten, Tag um Tag, Jahr um Jahr, in alle Ewigkeit. Gleich daneben das inzwischen vor allem von Touristen frequentierte Café Pasternak, dessen einzige Gemeinsamkeit mit einem russischen Restaurant darin besteht, dass man hier nie einen Platz bekommt. Statt eines pompösen Saales mit weiß gedeckten Tafeln, Kronleuchtern und Tanzkapelle betritt man einen schummerigen kleinen Raum mit intimer Datschenatmosphäre. Es gibt nicht nur Borstsch und Pelmeni, sondern auch den berühmten russischen Hauptstadtsalat, der in Moskau auf jeder Speisenkarte steht und neben Kartoffeln, Wurst und Mayonnaise aus wechselnden, schwer definierbaren Ingredienzien besteht. Man kann mit Moosbeeren angesetzten Wodka bestellen, Tee aus getrockneten Apfelschalen und, wenn man nicht um seine Lunge fürchtet, eine Belomorkanal-Papirossa, die einzeln auf einem weißen Unterteller serviert wird. Früher saß ich dort oft mit Jakob, unter den Porträts von Boris Pasternak, Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa, in der Zeit, als alles hier noch den Zauber des Neuanfangs für mich hatte, als alles noch gemeinsame Entdeckung und Offenbarung war, als wir nächtelang durch die Gegend streiften und ich noch glaubte, hier hätte ein neues Leben für uns begonnen. Das Unheil unserer Beziehung, so hatte ich geglaubt, lag hinter uns, der Grund für Jakobs immerwährende Abwesenheit hatte darin bestanden, dass er sich im Westen nie hatte zurechtfinden können, dass es immer eine fremde, feindselige Welt für ihn geblieben war, in der auch jede Beziehung eine falsche für ihn sein musste. Jakobs Welt, dessen war ich sicher gewesen, war der Osten, den er zwar nicht liebte, aber mit dem er doch auf Gedeih und Verderb verwachsen war, der Osten war sein ureigenes Plankton, seine eigene ungeliebte Haut, aus der er nicht herauskonnte und die er immerzu beschrieb. Die Rückkehr in den Osten, so hatte ich geglaubt, würde für ihn die Rückkehr in seine natürliche Umgebung sein, eine Rückkehr in seine Kreise, zu den Schriftstellern und Künstlern, die seit Langem seine Freunde und Bekannten waren, unter denen er Insider war. Aber sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass alles das ein schöner Wunschtraum gewesen war, dass Jakob im Osten genau derselbe Fremde war wie im Westen. Auch hier hatte er keine Beziehungen, keine Freundschaften und keine Feindschaften, auch hier schienen die Menschen für ihn Wesen von anderer Art zu sein als er selbst. Er blieb genauso isoliert und vereinzelt wie im Westen, er mied jeden Kontakt, geriet, wenn er angesprochen wurde, in dieselbe Verlegenheit, die ich seit jeher an ihm kannte; in Gesellschaft saß er auch hier immer schweigend abseits, in sichtbarer Unruhe und Ungeduld. Auch hier war ihm alles lästig, was ihn von der Arbeit abhielt, auch hier, wo er sein ganzes Leben gelebt hatte, war sein einziger Ort der Schreibtisch. Der Schreibtisch und die Nacht, in der er sich...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Buchhandlung • Gedichte • Liebe • Nachtgeschwister • Natascha Wodin • Preis der Leipziger Buchmesse • Wolfgang Hilbig
ISBN-10 3-95614-226-8 / 3956142268
ISBN-13 978-3-95614-226-0 / 9783956142260
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