Scheiterhaufen (eBook)
206 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11811-3 (ISBN)
Christian Graf von Krockow (1927-2002) war Politikwissenschaftler, Historiker und Schriftsteller.
Christian Graf von Krockow (1927–2002) war Politikwissenschaftler, Historiker und Schriftsteller.
Scheiterhaufen
Die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 • Die Rolle der Universitäten • Widerruf der Aufklärung und Konterrevolution der Ungleichheit • Zeugnisse der Selbstberauschung • Zeugnisse des Protestes
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Rufer: «Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Marx und Kautsky.»
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Rufer: «Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.»
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Rufer: «Gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Friedrich Wilhelm Foerster.»
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Rufer: «Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Sigmund Freud.»
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Rufer: «Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Emil Ludwig und Werner Hegemann.»
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Rufer: «Gegen volksfremden Journalismus demokratischjüdischer Prägung, für verantwortungsvolle Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Theodor Wolff und Georg Bernhard.»
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Rufer: «Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Erich Maria Remarque.»
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Rufer: «Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Alfred Kerr.»
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Rufer: «Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften der Tucholsky und Ossietzky!»
Die Rufer waren: junge Leute in braunen Uniformen. Es waren: Studenten. Ort der Handlung: Berlin, Opernplatz, 10. Mai 1933.
Die Studenten waren nicht allein: Dozenten, Professoren, Rektoren hatten sich angeschlossen. Oder vielmehr: Bevor man gemeinsam zum Platz der Bücherverbrennung marschierte, hatten sie in überfüllten Hörsälen begeisternde Reden gehalten – sie, die Täter von oben herab, vom Katheder. In Berlin hieß der Mann der Stunde Professor Alfred Bäumler.
Berlin blieb nicht allein. Denn dies sollte ja ein weithin leuchtendes Zeichen sein, ein Flammenzeichen für den Aufbruch des Geistes ins neue, ins Dritte Reich. So geschah überall in den Universitätsstädten ähnliches: in München, Bonn, Frankfurt am Main … Im Hamburger Tageblatt vom 16. Mai konnte man lesen:
«Menschenmassen umstanden im weiten Bogen den Scheiterhaufen, den gestern abend die Hamburger Studentenschaft am Kaiser-Friedrich-Ufer aufgetürmt hatte. Miterleben wollten sie alle die Verbrennung jener Schriften, die jahrzehntelang unser Volk vergifteten. Sturm 6/76, der ausschließlich aus Studenten besteht, war vollzählig vom Appell im Studentenhaus ausgerückt, ebenso waren die Hochschulgruppen des Stahlhelms und die Chargierten der Korporationen erschienen. – Gegen 23 Uhr loderte prasselnd die Flamme empor. Brausend erklang das Lied der studentischen Jugend: Burschen heraus! – Höher schlug die Flamme, Buch um Buch aus jener undeutschen Sphäre wurde zerrissen und vernichtet … Der alte studentische Brauch, durch Feuer den Geist ehrloser Jahre zu zerstören, läßt auch heute diese Schriften geistiger Fäulnis verbrennen. Dieses Feuer soll, nachdem unser Führer, der Reichskanzler Adolf Hitler das Reich politisch erobert hat, nun allen undeutschen Geist entfernen, um im Kampf voran die erwachten Studenten, den Ideen des neuen Deutschland den Weg zu bahnen: im Geiste Horst Wessels, des Kämpfervorbildes für alle Studenten. – Unter den Klängen seines Liedes wurde die Gaufahne des Roten Frontkämpferbundes in die Flamme geschleudert: Nicht mehr die Internationale der Proletarier, sondern der Zusammenschluß von Arbeiter und Student in ein Volk soll fortan die Parole sein.»
Nebenher bemerkt: Kämpfervorbild und SA-Führer Horst Wessel war ein gescheiterter Student, der im Zuhältermilieu lebte und dort unter nie ganz aufgeklärten Umständen erschossen wurde. – Bericht des Göttinger Tageblatts vom 11. Mai 1933:
«Der neugewählte Rektor der Universität, Prof. Neumann, ließ es sich nicht nehmen, die einleitenden Worte zu sprechen … Sodann nahm Privatdozent Dr. Fricke das Wort, um in längerer, formvollendeter und geistvoller Rede Sinn und Bedeutung der Kundgebung zu deuten. Er wies darauf hin, daß nunmehr die nationale Revolution in ihr entscheidendes schöpferisches Stadium getreten sei … Nur einen kleinen Teil der akademischen Jugend, die ihr Glaubensbekenntnis zum deutschen Geist durch eine Protestaktion gegen alles Undeutsche ablegt, hat das Auditorium maximum fassen können. Während der sinndeutenden Rede Dr. Frickes herrscht draußen, um das Hörsaalgebäude herum, ein fast lebensgefährliches Drängen und Treiben … Ein Trompetensignal gibt das Zeichen zum Beginn des Fackelzuges, die SS-Kapelle intoniert einen Marsch, und unter Vorantritt der Hakenkreuzfahne des Sturmes 4/82, des Studentensturmes, zieht die akademische Jugend Göttingens durch die Straßen der Innenstadt hinauf zum Platz vor der Albanischule. Hier ist schon in den Nachmittagsstunden der Scheiterhaufen errichtet worden …»
Scheiterhaufen: Der Begriff schon klingt nach einem Widerruf der Aufklärung, nach Hexenjagd und Ketzerverbrennung. Und genau das war gemeint. Erst brannten die Bücher, dann, 1938, die Gotteshäuser, die Synagogen. Dann die Feuer von Auschwitz. Als Folge, im Gegenfeuer, brannten von Hamburg bis Dresden die Städte … Gemeint war die Zerstörung eines Geistes, wie er in Europa seit dem Ausgang des Mittelalters, seit Renaissance und Reformation, Humanismus und Aufklärung sich entwickelt hatte.
Dieser europäische Geist der Neuzeit gleicht einem Thema mit vielen Variationen. Aber bei allen Unterschieden oder sogar Gegensätzen im einzelnen beruht er doch auf zwei Entdeckungen, zwei Eckpfeilern gewissermaßen, die sein ganzes Gewölbe tragen. Einmal ist es die Entdeckung, daß jedem Menschen für sich, als Individuum, zentrale, entscheidende Bedeutung zukommt: ein Wert über alle Bewertungen hinaus, der gegen nichts verrechnet werden kann. Jeder kann nur selbst entscheiden, was sein Leben bedeutet, wie und wohin er es im Letzten führen will. Darin liegt die Würde des Menschen, seine Verantwortung. Jeder muß darum Freiheit haben, die Freiheit zur Selbstverantwortung.
«Du bist nichts, dein Volk ist alles!» hieß dagegen die Parole im Nationalsozialismus. Und Entscheidungen trifft nicht der einzelne, sondern der Mann der Vorsehung an der Spitze: der «Führer».
Die zweite zentrale Entdeckung heißt: Gleichheit. Als Mensch und als Bürger hat jeder die gleichen Grundrechte und Pflichten. Diese Gleichheit folgt aus der Freiheit; eines hängt mit dem anderen untrennbar zusammen. Denn wenn jeder nur für sich selbst verantwortlich entscheiden kann, dann darf auch niemand, kein selbsternannter Vormund, kein Herrscher von Gottes und kein Führer von der Vorsehung Gnaden für andere entscheiden. Dann gibt es zum mindesten für die Rangordnung als Prinzip, für die schicksalhaft vorbestimmte Ungleichheit keine Rechtfertigung mehr.
Freiheit und Gleichheit: Es sind die Proklamationen, die Ideale von 1789, die mit der Französischen Revolution geschichtsmächtig werden. Gegen sie richtet sich die nationalsozialistische Konterrevolution der Ungleichheit.
Man hat oft gehöhnt über den Hitlerschen Rassenwahn, diese primitiven Parolen von den Herrenmenschen und den Untermenschen. Und nur wenige, sogar unter denen, die sonst ihrem «Führer» willig folgten, mochten recht begreifen, warum «die Juden» an allem Unheil und Unglück in der Welt schuld sein sollten. (Noch nachträglich wurde dies oft sichtbar, wenn einstige «Mitläufer» die Judenverfolgung zum Fehler erklärten, von dem sie sich in der Anerkennung des «sonst Guten» distanzierten.) Aber wenn es sich schon um einen Wahn handelte, dann um einen mit Methode und Folgerichtigkeit: Rasse meinte eben die absolute, vorgegebene Festlegung des einzelnen als Prinzip, die Ungleichheit als Schicksal. Und «die Juden» sind Symbol: Menschen, die so lange unterdrückt waren, diskriminiert, ins Getto gebannt – und daraus befreit im Gefolge der Französischen Revolution, von der Ungleichheit zur Gleichheit unterwegs in einem Jahrhundertprozeß der Aufklärung und Emanzipation. Judenverfolgung, Judenvernichtung, Endlösung: Symbol dafür, daß dieser Jahrhundertprozeß insgesamt widerrufen, zurückgenommen, getilgt werden sollte, so als hätte es ihn nie gegeben.
Was Aufklärung und Emanzipation bedeuten, hat Immanuel Kant, der Philosoph aus Königsberg, in unvergänglichen Sätzen zum Ausdruck gebracht:
«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2019 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Deutsche Vergangenheit • Selbstzerstörung des deutschen Geistes • Vergangenheitsbewältigung |
ISBN-10 | 3-688-11811-1 / 3688118111 |
ISBN-13 | 978-3-688-11811-3 / 9783688118113 |
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