Die Wahrheit über das Lügen (eBook)
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61004-8 (ISBN)
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, ?Vom Ende der Einsamkeit?, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet. Benedict Wells' Bücher sind in 40 Sprachen erschienen, sein neuester Roman ?Hard Land? wurde 2022 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.
Die Wanderung
(2018)
Es war einer dieser späten Sommertage – der Himmel blau und in zarten, milchigen Dunst gehüllt –, die einen übermütig werden lassen und das Gefühl von Zeitlosigkeit geben, als wäre der nahende Herbst noch weit entfernt.
Henry M. befand sich im Garten des Ferienhäuschens, das er gekauft hatte, um dem Stress der Stadt zu entfliehen. Was natürlich mehr eine Wunschvorstellung war, denn auch jetzt saß er aufrecht auf der Liege und telefonierte mit einem Mitarbeiter. Seine Stimme dröhnte über das Grundstück, das kurzärmlige Hemd war aufgeknöpft, in der Hand hielt er einen Drink.
Als er auflegte, nahm er einen Schluck und blickte zufrieden auf den Berg, an dessen Fuß das Ferienhaus lag. Der Zurbriggen-Deal stand kurz vor dem Abschluss, dann hätte seine Firma eine der bemerkenswertesten Fusionen der letzten Jahre eingefädelt.
Henry lehnte sich zurück. Er las in einer Kurzgeschichte von John Cheever weiter, doch er war bald abgelenkt von dem fröhlichen Lärm hinter dem Haus. Schließlich legte er das Buch weg und ging nachsehen: Mia, seine Tochter, sprang artistisch in den Pool, seine Frau musste ihr dafür Noten geben.
»Jetzt kommt ein Salto mit Schraube.« Seine Tochter nahm Anlauf, sprang kraftvoll ab, schaffte nicht mal einen halben Salto und klatschte nach einer Drehung mit dem Rücken ins Wasser. Aufgeregt drehte sie sich zu ihrer Mutter um. »Und?«
»Eine Neun!«, sagte seine Frau.
Mia zog eine Schnute. »Mama, du bist viel zu nett. Das war höchstens eine Fünf. Du musst strenger sein.«
Henry lächelte. Er nahm einen Schluck und betrachtete seine Frau, die, eingetaucht in mildes Vormittagslicht, am Beckenrand stand. Sie arbeitete als Erzieherin und war zuletzt oft gestresst gewesen. Die Höhensonne tat ihr gut, sie wirkte erholt, fast blühend. Sie war ein Jahr älter als er, und er dachte amüsiert daran, wie schüchtern sie bei den ersten Treffen gewesen war.
Er legte den Arm um ihre Hüfte, zusammen sahen sie den nächsten Sprung ihrer Tochter an. Auch er musste nun eine Note verkünden; er gab seiner Tochter eine Sieben, seine Frau wieder eine Neun.
»Wir wollen gleich grillen.« Sie hielt seine Hand. »Bist du dabei?«
Henry gefiel die Vorstellung, den Tag mit seiner Familie zu verbringen, doch im selben Moment blickte er wieder hoch zum Berg. Trotz seiner Wanderleidenschaft war er noch nicht dort oben gewesen, dabei konnte der Aufstieg kaum länger dauern als … was, zwei, drei Stunden? Ein Sonnenstrahl ließ sein Glas aufleuchten, der bevorstehende Deal machte ihn tatendurstig. Keine schlechte Vorstellung, zur Belohnung dort oben in einer Wirtschaft ein kühles Bier zu trinken.
»Ich dachte, ich mache noch eine kleine Wanderung.«
»Ist gut.« Seine Frau nickte, als habe sie nichts anderes erwartet.
Diese Ruhelosigkeit, dieser Drang nach einer Freiheit, die er oft nur in der Arbeit oder im Alleinsein fand, war immer seine Schwäche gewesen. Er hatte geglaubt, die Ehe würde ihn sesshafter machen, und später, dass die Kinder ihn verändern würden. Doch auch jetzt gefiel er sich als Flaneur, der leichtfüßig zwischen Familie, Arbeit und Freundschaften hin und her streifte, manchmal verweilte, aber nie ganz zu halten war. Sein Glück war seine Frau, die – selbst die Unabhängigkeit schätzend – ihn immer verstanden und oft am Ende des Tages auf ihn gewartet hatte, wenn er aus dem Büro oder von einer Reise zurückkehrte.
Sie gab ihm einen Kuss. »Aber nimm eine Jacke mit, es soll nachher vielleicht regnen. Und vergiss nicht, spätestens um acht wollten wir feiern.«
»Da bin ich längst zurück.« Er strich mit dem Daumen über die immer noch makellose Haut ihrer Hand. Dann löste er sich von ihr und ging ins Haus.
Sein Sohn war wie meistens oben im Zimmer. David war kränklich und litt seit zwei Jahren an ungeklärten Migräneanfällen, die ihn tagelang außer Gefecht setzten und aus ihm einen Einzelgänger gemacht hatten. Henry wusste, dass der Junge ihn brauchte, und er hatte das Ferienhaus auch deshalb gekauft, damit sie hier mehr Zeit zusammen verbringen konnten.
Das Zimmer des Sohnes war abgedunkelt, fast eine Höhle. David lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Wenn er Kopfschmerzen hatte, konnte er nicht mal lesen oder fernsehen; ausgerechnet heute war sein achter Geburtstag.
Henry setzte sich auf die Bettkante und versuchte, ein Gespräch anzufangen, aber sein Sohn antwortete nur einsilbig, und er selbst kam sich unbeholfen vor.
»Ich hoffe, du freust dich auf die Feier am Abend?«, fragte er schließlich. »Könnte nämlich sein, dass es eine Überraschung gibt.«
»Was für eine Überraschung?« David richtete sich auf. »Ein Fahrrad?«
»Abwarten.« Henry lächelte. »Es dürfte dir jedenfalls gefallen.«
Das Geschenk war teuer gewesen, aber David hatte einen schweren Sommer, und Henry hatte das Gefühl gehabt, sein Sohn verdiene etwas Großes.
Der Gedanke an das Geschenk schien den Jungen tatsächlich aufzumuntern. Seine Augen leuchteten auf, er wollte gerade etwas erzählen, als das Handy läutete. Henry zögerte, dann streichelte er seinem Sohn durchs Haar und ging zum Telefonieren auf den Flur; auf der Geburtstagsfeier am Abend würde er es wiedergutmachen.
Er diskutierte mit dem Mitarbeiter noch mal letzte Details des Zurbriggen-Deals. Ein kurzes, konzentriertes Gespräch, danach fühlte er sich übermütig und jung wie lange nicht. Es war erst Mittag, draußen dreißig Grad. Er machte sich noch einen Drink und zog feste Wanderschuhe an.
Im Garten betrachtete er das winzige Apfelbäumchen, das er nach dem Hauskauf gepflanzt hatte, als er hinter sich Schritte hörte. Mia hatte sich umgezogen und wollte mitkommen, doch ohne groß nachzudenken, sagte er: »Ein anderes Mal. Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen.«
Seine Tochter sah ihn enttäuscht an. »Darf ich dann wenigstens noch bis zum Ende der Straße mitkommen?«
Er lachte. »Natürlich!«
Sie gingen die fünfhundert Meter gemeinsam. Das Nachbargrundstück war von Liguster eingefasst, der sommerliche Duft frischer Rosen hing satt und schwer in der Luft. Mia redete munter drauflos, erzählte ihm von ihren Freundinnen, löcherte ihn mit Fragen und wollte wissen, was er David zum Geburtstag schenke, aber auch hier sagte er nur: »Eine Überraschung.«
Plötzlich Gebell. Henry zuckte zusammen und sah sich um. Hunde machten ihm seit seiner Kindheit Angst, aber nirgends war einer zu sehen. Mia schien seine Aufregung nicht zu bemerken, sie sprach noch immer von der Geburtstagsfeier und dass sie ihrem Bruder ein Bild gemalt habe.
Als sie das Ende der Straße erreichten, war er fast betrübt, dass sie sich hier schon trennten. Aber er musste noch etwas tun, und die Fröhlichkeit seiner Tochter konnte auf einer längeren Wanderung vielleicht auch anstrengend werden.
Mia hatte ihm ohnehin längst verziehen. Sie rannte den Weg bis zum Haus zurück, nach hundert Metern drehte sie sich noch mal um und winkte ihm.
Er war überrascht, wie leicht ihm der Aufstieg fiel. Vor Jahren hatte er sich beim Skifahren den Meniskus gerissen, seitdem trat in seinem Knie hin und wieder ein Stechen auf; meist beim Bergab-Gehen, aber nicht nur. Doch bislang hatte er keine Beschwerden. Viele Wanderer waren mit ihm unterwegs, Henry grüßte freundlich, genoss aber vor allem die Momente, in denen er für sich war. Seine Schritte federten auf dem knisternden Waldboden, und wie früher als Junge versuchte er, das emsige Klacken, Hämmern und Krächzen in den Bäumen den einzelnen Vogelarten zuzuordnen. Er war noch ein wenig beschwipst von den Drinks, aber in der Hitze schwitzte er den Alkohol schnell heraus.
Als nach einer Stunde der Wald aufhörte, folgte ein langer Serpentinenanstieg. Der Weg war steiler als gedacht, aber er trieb viel Sport und war stolz, dass er kaum ins Schnaufen geriet. Unterwegs führte er mehrere Anrufe. Mit dem Deal lief alles glatt, allerdings war sein Akku fast leer. Die Sonne brannte ihm auf den Nacken; gut, dass er die Jacke doch nicht mitgenommen hatte.
Beschwingt kam er gerade an einer Wiese vorbei, als ihm auf einmal ein starker Verwesungsgeruch in die Nase stieg.
Henry sah sich um, konnte die Quelle des Gestanks aber einfach nicht ausmachen, und nach einigen Sekunden war die Luft wieder so rein wie zuvor.
Am frühen Nachmittag rastete er in der großen Almwirtschaft unter dem Gipfel; er hatte Glück und bekam den letzten freien Platz auf der Terrasse. Am Nebentisch saß eine teils südländisch wirkende Hochzeitsgesellschaft, immer wieder brach jemand in Gelächter aus. Er fragte sich, wer hier oben heiratete, und trank ein Bier, als der ersehnte Anruf aus dem Büro kam. Der Kollege plärrte ihm die gute Nachricht beinahe ins Ohr: Der Vertrag für die Fusion war unterzeichnet worden.
Henry ballte die Faust. Über ein Jahr hatten sie daran gearbeitet, es war der Höhepunkt seines beruflichen Schaffens. Er überlegte, seine Frau anzurufen, entschied sich aber dafür, es ihr erst am Abend zu sagen. Die meisten seiner Triumphe hatte er zunächst allein ausgekostet.
Die Sonne brach durch die dichter werdenden Wolken und funkelte hinter der Bergkuppe. Henry blinzelte hinauf und dachte an das Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn. An die Sprünge seiner Tochter am Pool. An die liebevolle Art seiner Frau und den Zurbriggen-Deal, der sein Ansehen und Vermögen beträchtlich mehren würde. Ein großes...
Erscheint lt. Verlag | 22.7.2020 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alte Frau • Angst • Aussprache • Bergdorf • Bergtour • Berührend • Bibliothek • Bibliothekar • Bücher • Dickens • Diebstahl • Drehbuchautor • Ehe • Einsamkeit • Emanzipation • Entscheidung • Entscheidung auf Leben und Tod • Entscheidungsmatch • Erinnerung • Ferienhaus • Film • Filmgeschichte • Fliege • Franchise • Freiheit • Gefangenschaft • Gemeinschaft • George Lucas • Geschichten • Grundschule • Grundschüler • Grundschulheim • Grundschullehrerin • Harry Potter • Hemingway • Hollywood • Internat • Kater • Kilometerstand • Klassiker • Kunst • Liebe • Lüge • Lügen • Macho • Manager • Match • Muse • Oldtimer • Parkbank • Rettung • Rituale • Schicksal • Schreibblockade • Schriftstellerin • Schriftstellerleben • Schweiz • Star Wars • Streit • Strohhalm • Tischtennis • Traum • Vater und Sohn • Vater und Tochte • Vater und Tochter • Verleger • Verspätung • Vom Ende der Einsamkeit • Wahrheit • Wanderung • Weihnachtsgeschichte • Zeitreise • Zürich |
ISBN-10 | 3-257-61004-1 / 3257610041 |
ISBN-13 | 978-3-257-61004-8 / 9783257610048 |
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