Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen (eBook)

Zehn Jahre missbraucht und gepeinigt. Mein Weg in ein glückliches Leben
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
223 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-8657-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen -  Clarissa Vogel
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Als Clarissa wegen ihrer kranken Mutter häufig zur Oma muss, wird das Leben der Dreijährigen zur Hölle. Im Schlafzimmer der Großeltern passieren furchtbare Dinge. Vor laufender Kamera und im Beisein weiterer Männer wird Clarissa missbraucht. Weil der Opa behauptet, ihr einen Sender in den Rücken operiert zu haben, vertraut sie sich keinem an. Als sie sich wehrt, schlägt er ihren Kopf auf eine Stuhllehne, bricht ihr die Nase. Zehn Jahre geht das so. Dann hat Clarissa die Chance, sich zu befreien.



Clarissa Vogel, Jahrgang 1985, hat in ihrer Heimatstadt Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in einer kirchlichen Einrichtung gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner in der Nähe von Düsseldorf. Um auf Kindesmissbrauch und dessen Folgen aufmerksam zu machen, betreibt sie den Facebook-Blog Kairies schwarz-weiße Seifenblasen, PTBS, Depression und Borderline.

Clarissa Vogel, Jahrgang 1985, hat in ihrer Heimatstadt Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in einer kirchlichen Einrichtung gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner in der Nähe von Düsseldorf. Um auf Kindesmissbrauch und dessen Folgen aufmerksam zu machen, betreibt sie den Facebook-Blog Kairies schwarz-weiße Seifenblasen, PTBS, Depression und Borderline.

Kapitel 1


»Los kommt, wir spielen noch eine Runde ›Mensch ärgere Dich nicht‹!«

Meine Mutter steht an der Spüle und wäscht gerade den letzten Teller ab. Sie sortiert noch zwei Löffel in den Besteckkasten ein und streift dann die Plastikhandschuhe ab.

»Fertig!«, ruft sie. »Ich bin so weit. Es kann losgehen.« Und gespielt provozierend meint sie schelmisch: »Ich fühle übrigens, dass ich heute gewinne!«

Mein Vater geht sofort darauf ein. Er sitzt am Küchentisch, hat sich eine Flasche Bier aufgemacht und blättert in seiner Fernsehzeitschrift. »Davon träumst du schon lange«, murmelt er und streicht sich mit einem Kugelschreiber die Sendungen an, die er im Laufe der Woche sehen möchte.

Benjamin, mein zehn Jahre älterer Bruder, liebt »Mensch ärgere Dich nicht« genauso wie ich. Er räumt sofort den Tisch frei und legt Spielzeug und meine Malsachen auf die Anrichte, während ich den Spielekarton aus dem Küchenschrank hole.

»Ich baue heute die Steine auf, bitte«, bettle ich und hoffe, dass mir Benjamin nicht wieder wie die letzten Male in die Quere kommt und es selbst macht.

Wir haben gerade zu Abend gegessen. Es gab leckere Rühreier mit Tomaten. Die mag ich besonders gern. Dazu warmen Tee und getoastetes Schwarzbrot.

Wenn wir essen, brauchen wir immer viel Zeit. Wir haben uns eine Menge zu erzählen, denn jeder hat im Laufe des Tages etwas Aufregendes erlebt. Mein Vater liefert Kühlschränke aus und erlebt dabei die ulkigsten Begegnungen. Einmal traf er eine Frau, die sich als Schneewittchen verkleidet und im Keller einen ganzen Märchengarten aufgebaut hat. Wir haben uns darüber kringelig gelacht. Ein anderes Mal musste er zu einer Familie, die mit einem echten Krokodil zusammenlebte. »Ich hatte wirklich Angst, dass ich gefressen werde«, hat er erzählt und es so glaubhaft beschrieben, dass wir alle Sorge um ihn hatten und froh waren, dass er noch heil mit uns am Tisch sitzen konnte und nicht im Bauch des Krokodils gelandet ist.

Mein Vater ist sehr groß, sehr schlank und hat blonde, stets raspelkurz geschnittene Haare. Ich mag seine runde blassrote Hornbrille, die seine Augen richtig lustig aussehen lässt. Aus Kleidung macht er sich nicht viel. Ich kenne ihn nur in Jeans und Poloshirts. Aber das passt zu ihm, denn er ist ein unkomplizierter Typ, der gern Witze erzählt und auch fremde Leute häufig mit einer spaßigen Bemerkung begrüßt. Gut, er trinkt gern, aber Alkohol macht ihn nicht aggressiv oder unberechenbar. Nein, er redet nach ein »paar Bierchen«, wie er immer sagt, nur noch mehr, lacht noch mehr, ist noch mehr der gute Kumpel als sonst.

Meine Mutter ist das genaue Gegenteil von ihm. Sie arbeitet als Krankenschwester und legt großen Wert auf ihr Äußeres. Ich kenne sie nur sehr schick zurechtgemacht. Sie trägt ausgefallene und manchmal richtig elegante Kleidung, und ihre kurzen hellrot gefärbten Haare sind immer perfekt zurechtgemacht. Ich mag die Art, wie sie sich schminkt, und sehe ihr oft dabei zu. Es ist schön, sie dann zu beobachten, weil sie es so gründlich und gewissenhaft macht. Bei meiner Mutter hat alles seine Ordnung, seine Reihenfolge, seinen Platz. Sie ist sehr sortiert, sehr diszipliniert und überaus pflichtbewusst. Das Leben meiner Mutter verläuft nach einem Plan. Das gibt uns allen, so glaube ich, Sicherheit.

Im Moment arbeitet sie in einem Altenheim und erlebt dort die tollsten Sachen. So hatte sie einmal eine Patientin, die dachte, sie sei ein Hund, und ständig aus dem Bett hüpfte, um auf die Straße zu kommen. Das habe ich mir immer bildlich vorgestellt und sogar im Kindergarten davon erzählt …

Aber sie erlebt auch viele traurige Geschichten, doch die erzählt sie uns nicht. »Es reicht schon, wenn ich traurig bin«, sagt sie häufig und erzählt uns dann lieber einen ihrer Witze. »Treffen zwei Nullen eine Acht. Sagt die eine zur anderen: ›Sieh mal, bei der Hitze noch mit Gürtel!‹«

Ich muss zugeben, dass ich den Witz erst gar nicht verstanden habe. Aber mein Bruder Benjamin hat mir die Zahlen auf die Serviette gemalt, und da ist bei mir der Groschen gefallen.

Benjamin erzählt abends immer von der Schule. Er ist ja schon dreizehn und erlebt viel dort. Er ist supergut in Mathe und superschlecht in Deutsch. Beim Abendessen spricht er über beides.

Obwohl mein Vater nicht sein Vater ist, sieht er ihm sehr ähnlich. Er hat auch kurzes blondes Haar, blaue Augen und kann wunderbare Witze erzählen. Nicht nur den mit den Nullen und der Acht, den er sich gemerkt hat. Sein Lieblingswitz lautet: »Vor einer Schule ist für Autofahrer ein Warnzeichen angebracht: ›Überfahren Sie die Schulkinder nicht!‹ Darunter steht: ›Warten Sie lieber auf die Lehrer!‹«

Seine Witze kommen wie aus der Kanone geschossen, und oft schaffe ich es gar nicht, etwas zu essen, weil ich so lachen muss.

»Hallo, jetzt machen wir mal zwei Minuten lang eine Witzpause«, sagt meine Mutter dann und sieht dabei richtig streng auf die Uhr. »Ich möchte nicht, dass meine beiden Sonnenscheine noch um Mitternacht hier sitzen.«

Ich habe natürlich auch viel zu erzählen. So ist es nicht. Ich gehe in den Kindergarten, genauer in die Marienkäfergruppe, und berichte von meinen beiden Freundinnen Katrin und Lisa, meiner Erzieherin Annika und dem doofen Manuel aus der Bärengruppe, der mich immer ärgert.

Aber ich erzähle auch von den tollen Sachen, die wir zusammen machen, zum Beispiel von unserem Stuhlkreis oder dem Wanderausflug an den See.

Ich liebe unser gemeinsames Abendessen, weil es dabei so lustig zugeht. Und ich liebe die Spiele, die wir anschließend immer spielen, vorausgesetzt, die Zeit reicht. Denn meine Mutter muss abends immer noch los, sie arbeitet im Nachtdienst. »Damit ich tagsüber für meine Kinder da sein kann«, sagt sie. Und deshalb läuft bei uns eben alles anders ab als bei anderen Familien. Wenn wir um 19 Uhr ins Bett gehen, fährt meine Mutter in das nahe gelegene Krankenhaus und betreut die ganze Nacht hindurch ungefähr 80 alte Menschen. »Ein Knochenjob«, klagt sie oft. »So viel Verantwortung kann ein Mensch eigentlich gar nicht tragen.«

Doch meine Mutter kann, denn sie ist eine richtig starke Frau, die alles schafft. Wenn sie morgens zurückkommt, weckt sie uns, und wir können noch alle miteinander frühstücken. Aber da geht es hektischer zu als am Abend, denn mein Vater muss in seine Firma, und Benjamin und ich gehen meistens mit ihm aus dem Haus. Meine Mutter legt sich dann ins Bett und schläft sich aus.

Unsere Familienzeit ist also am Nachmittag, dann, wenn wir alle zu Hause sind.

Im Sommer machen wir Radtouren, gehen ins Schwimmbad oder einfach nur ins Eiscafé um die Ecke. Im Winter bleiben wir meistens zu Hause. Meine Mutter backt gern, und ich helfe ihr dabei. Unser Sandkuchen ist ein Traum. Noch besser sind unsere Waffeln. Allein beim Zubereiten läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen: Sie sind so lecker, dass ich gar nichts anderes mehr essen möchte.

Mein Vater repariert in dieser Zeit häufig etwas in der Wohnung. Mal schraubt er an einem alten Radio herum, mal setzt er eine neue Türklinke ein. Er findet immer etwas, um sich zu beschäftigen. Oft sitzt er auch nur auf dem Sofa und liest in seiner Fernsehzeitschrift.

Um 17 Uhr gibt es dann Abendessen, unsere »Schnatterzeit« sagt Mama immer. Danach kommt unsere »Spielezeit« – die jetzt eben losgeht, denn alle Spielsteine sind nun ordentlich an ihrem Platz.

»Können wir?«, fragt Mama und setzt sich auf ihren Stuhl am Kopfende des Tisches. Papa legt sein Heft zur Seite, nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche, und ich gebe jedem einen Würfel.

»Wehe, du mogelst wieder«, foppt mich Benjamin.

»Ich mogle nie«, entgegne ich ganz ruhig. Ich bin in Gedanken und überlege mir gerade, wie ich dieses Mal gewinnen kann. Es ist schon verhext, dass Benjamin immer als Erster fertig ist und alle seine Spielfiguren im Häuschen hat.

»Er hat das Glück gepachtet«, sagt Mama dann, und ich bin jedes Mal ein bisschen sauer. Ich möchte auch mal »Glück pachten«. Gott sei Dank aber habe nicht nur ich eine Pechsträhne. Auch mein Vater verliert immer. Wir beide sind längst als »hoffnungslose Fälle« abgestempelt. Papa kann nicht gut damit umgehen, dass er so oft der Letzte ist, der seine Spielfiguren ins Ziel bringt. Er reagiert dann gereizt, flucht sogar manchmal, was Mama überhaupt nicht mag. Ab und zu wird er auch richtig laut. Mama wird dann sauer und ermahnt ihn.

»Jetzt reiß dich einfach mal zusammen«, sagt sie oft, und ihre Stimme klingt dann richtig scharf. Das wirkt, denn meistens ist mein Vater danach ruhig. Er hört überhaupt sehr auf meine Mutter.

»Mutter bestimmt, wo es langgeht«, hat Benjamin einmal gesagt, und ich glaube, er hat recht.

Benjamin ist aus Mamas erster Ehe. Er hat einen anderen Vater, den ich aber nie gesehen habe. Er ist gestorben, als Benjamin noch ganz klein war. Deshalb ist mein Papa eben auch sein Papa. »Wir sind alle eine Familie, basta«, sagt Mama immer. Das stimmt, und unsere Mutter kümmert sich um alles. In ihren Händen laufen die Fäden zusammen. Sie ist diejenige, die alles organisiert und jedes Problem löst. Denn mein Vater ist kein Mensch, mit dem man etwas Wichtiges besprechen kann. Zu ihm gehören die lustigen Seiten des Lebens. Mit ihm kann man Spaß haben, eigentlich immer, aber wenn es ernst wird, ist unsere Mutter zuständig.

Papa lässt sich auch gern mal »gehen«, wie Mama ihm dann lautstark vorwirft. Ich weiß, was sie damit meint: Mein Vater trinkt abends gern sein Bier, und meine Mutter mag das gar nicht. Manchmal trinkt er es...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2020
Co-Autor Andrea Micus
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Akte • Aufarbeitung • Autobiographien • Befreiung • Drohung • Erfahrungsbücher • Erinnern • Erinnerung • Erinnerungen • Familie • Familiengeschichte • Film • Filmaufnahmen • Frau • Freiheitsberaubung • Freundschaft • Gedanken • Gefährte • Geheimnis • Geliebte • Gewalt • Kindesmissbrauch • Kindheit • Laurenz • Lebensbericht • Lebensbeschreibung • Lebensgeschichte • Lebensglück • Lebensmut • Leid • Lügen • Memoir • Missbrauch • Missbrauchsskandal in Bergisch Gladbach • Missbrauchsskandal in Münster • Mittäter • Opfer • pädophil • Pädophilennetzwerk • Romanhafte Biografien • SAT1 • Schicksal • Schicksale • Schmerz • schweres Schicksal • Stiefgroßvater • Streuner • Täter • Therapie • Verbrecher • Vergangenheit • Wenn Kinder Opfer werden
ISBN-10 3-7325-8657-X / 373258657X
ISBN-13 978-3-7325-8657-8 / 9783732586578
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten | Der Nummer 1 …

von Florian Illies

eBook Download (2023)
S. Fischer Verlag GmbH
22,99
Eine Familiengeschichte der Menschheit

von Simon Sebag Montefiore

eBook Download (2023)
Klett-Cotta (Verlag)
38,99
Der Westen, der Osten und ich

von Adam Soboczynski

eBook Download (2023)
Klett-Cotta (Verlag)
15,99